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Alle meine Bekannten freuten sich sehr, mich wieder zu sehen, und ich war nicht weniger hocherfreut, mich wieder in guter Gesellschaft zu befinden. Meine Freunde standen im Begriff, Aachen zu verlassen und nach Spaa zu gehen. Alle Welt ging dorthin, und wenn jemand in Aachen blieb, so tat er das nur, weil es vollkommen unmöglich war, sich in Spaa Unterkunft zu verschaffen. Der Menschenzufluß war ungeheuer. Dies wurde mir von allen Seiten gesagt; mehrere waren nach Aachen zurückgekommen, weil sie in Spaa nicht einmal eine Dachkammer hatten finden können. Gerade diese Schwierigkeiten machten mich hartnäckig, und ich sagte der Fürstin, ich würde mit ihr reisen, ich würde ganz gewiß irgendwo unterkommen und im Notfall in meinem Reisewagen schlafen. Am nächsten Tage fuhren die Fürstin, der Großnotar, Roniker, die beiden Tomatis und ich ab und kamen bei guter Zeit in Spaa an. Alle anderen hatten Wohnungen, die sie vorausbestellt hatten; ich allein wußte nicht, wohin ich gehen sollte. Ich stieg aus und begab mich auf die Suche. Bevor ich jedoch meine Wanderung durch die Straßen antrat, ging ich zu einem Hutmacher, um mir einen Hut zu kaufen, da ich den meinigen unterwegs verloren hatte. Ich erzählte der Hutmachersfrau von meiner Verlegenheit; sie sprach mir ihr Bedauern aus, sah ihren Mann an und sagte ihm etwas auf vlamisch oder wallonisch. Hierauf sagte sie mir: »Wenn es nur für einige Tage ist, werde ich Ihnen mein Zimmer abtreten und mit meinem Mann im Laden schlafen. Aber für Ihren Bedienten habe ich durchaus keinen Platz.«
»Ich habe keinen Diener.«
»Um so besser. Lassen Sie Ihr Gepäck abladen.«
»Wo soll ich meinen Wagen unterbringen?«
»Ich übernehme es, diesen in sichere Verwahrung zu geben.«
»Was habe ich zu bezahlen?«
»Nichts; und wenn Sie mit unsere Hausmannskost essen wollen, kostet Ihnen dies ebenfalls nichts.«
»Von solchem Preis läßt sich nichts abhandeln. Ich nehme ohne Umstände Ihr Anerbieten an.«
Ich stieg eine kleine Treppe hinauf und fand ein hübsches Zimmer, ein Kabinett, ein gutes Bett, eine Kommode, einen großen Tisch und zwei kleine. Alles war sehr sauber, und ich fühlte mich sehr behaglich. Die Sachen, die sie brauchten und die mir nur im Wege waren, wurden herausgeschafft. Ich fragte die guten Leute, warum sie nicht lieber in der Kammer als im Laden schlafen wollten, wo es doch sehr unbequem für sie sein müßte. Sie antworteten mir wie aus einem Munde: sie würden mir zur Last sein, während ihre Nichte mir keine Unbequemlichkeit verursachen würde.
Das Wort Nichte machte mich stutzen. Die Kammer hatte keine Tür und war nicht viel größer als das Bett, das darin stand. Es war ein fensterloses Loch, eine Art Alkoven. Ich muß bei dieser Gelegenheit bemerken, daß meine Wirtin und ihr Mann, die beide aus Lüttich stammten, von musterhafter Häßlichkeit waren. Unmöglich, dachte ich bei mir selber, kann die Nichte noch häßlicher sein; aber wenn man sie so dem ersten besten preisgibt, muß sie gewiß vor jeder Versuchung sicher sein.
Wie dem auch sein mochte, ich erklärte mich mit allem einverstanden und verlangte nicht, die Nichte zu sehen, denn man hätte die Frage übel auffassen können. Ohne meinen Koffer geöffnet zu haben, ging ich aus, indem ich ihnen sagte, lch würde erst nach dem Abendessen nach Hause kommen; zugleich gab ich ihnen Geld, um mir Kerzen und eine Nachtlampe zu kaufen.
Ich suchte die Fürstin auf, bei der ich mit den anderen Herrschaften zu Abend speisen sollte. Alle wünschten mir Glück zu meinem unerwarteten Funde. Ich besuchte das Konzert und ging dann an die Pharaobank, aber nur um zuzusehen. Ich ging auch durch die Zimmer, die für die Kommerzspieler reserviert waren, und sah dort den angeblichen Marchese d'Aragon, der mit einem alten Reichsgrafen Pikett spielte. Man erzählte mir, daß er vor drei Wochen mit einem Franzosen, der Händel mit ihm gesucht, ein Duell gehabt hätte. Der Franzose war an der Brust verwundet worden und lag noch krank zu Bett. Er wartete nur auf seine Heilung, um von neuem loszugehen; denn er hatte, als er sich zurückzog, Revanche verlangt. In Frankreich ist das so Sitte, wenn der Zweikampf keinen ernstlichen Anlaß hat. In Italien denken wir anders; dort gehen Duelle auf Leben und Tod. Unser Blut kocht, wenn wir den Feind vor uns sehen, der uns verwundet hat. Daher ist ein Dolchstoß in Italien etwas sehr Gewöhnliches und in Frankreich etwas sehr Seltenes; aus demselben Grunde sind in Italien Zweikämpfe selten, während sie in Frankreich Tag für Tag vorkommen.
Am meisten freute ich mich, daß ich in Spaa den Marchese Caraccioli traf, den ich zuletzt in London gesehen hatte. Sein Hof hatte ihm einen Urlaub bewilligt, den er in Spaa sehr angenehm verbrachte. Der Marchese war ein wahrhaft geistvoller Mann, von Menschenliebe und Wohlwollen erfüllt. Er hatte Mitgefühl für Unglück und menschliche Schwächen; er liebte die Jugend beiderlei Geschlechts, aber niemals bis zum Übermaß; er verstand zu genießen, ohne jemals zu übertreiben. Er spielte nicht, aber er liebte die Spieler, die ihre Sache verstanden, und verachtete die Toren, die sich betrügen ließen. Durch diese Charaktereigenschaften machte der angebliche Marchese d'Aragon sein Glück: Caraccioli bürgte einer fünfzigjährigen englischen Witwe, die den Spieler nach ihren Geschmack gefunden hatte, für die Echtheit seines Namens und Adels; sie heiratete ihn und brachte ihm sechzigtausend Pfund Sterling zu. Ohne Zweifel verliebte die Witwe sich in die sechs Fuß hohe Gestalt des angeblichen Marchese und in den schönen Namen d'Aragon; denn Dragon hatte weder Geist noch vornehme Manieren, und seine Beine, die er ihr vermutlich nicht zeigte, waren mit ekelhaften Spuren seines liederlichen Lebenswandels bedeckt. Ich sah diesen Marchese einige Zeit darauf in Marseille, und etliche Jahre später wurde er Eigentümer von zwei adligen Gütern in Modena. Er wußte sein Vermögen besser anzulegen als ich. Seine Frau starb vor ihm, und nach den englischen Gesetzen erbte er ihr ganzes Vermögen.
Ich kam ziemlich früh nach Hause und legte mich zu Bett, ohne die Nichte gesehen zu haben; denn sie schlief bereits. Die sehr häßliche Tante bediente mich und bat mich, während meines Aufenthaltes bei ihr keinen Bedienten zu nehmen; denn das wären lauter Spitzbuben.
Als ich am Morgen aufwachte, war die Nichte schon heruntergegangen. Ich zog mich an, um an den Brunnen zu gehen, und sagte meinen guten Leuten, daß ich an diesem Tage das Vergnügen zu haben wünschte mit ihnen zu speisen. Sie konnten nur in meinem Zimmer essen, und zu meinem großen Erstaunen fragten sie mich eigens um Erlaubnis. Die Nichte war ausgegangen; meine Neugier konnte also für den Augenblick nicht befriedigt werden. Auf der Promenade machte ich verschiedene Bekanntschaften, wie es eben an Badeorten üblich ist, und erfuhr manches über die Schönheiten, die sich dort sehen ließen. Eine unglaubliche Menge Abenteurerinnen finden sich in Spaa während der Badesaison ein, und alle gehen in der Hoffnung hin, daß sie dort ihr Glück machen werden; natürlich gehen die meisten wieder ebenso arm fort, wie sie gekommen sind, wenn nicht noch ärmer. Die Menge des Geldes, das in Spaa umläuft, ist erstaunlich: Speisewirte, Ladeninhaber, Gasthofsbesitzer und Freudenmädchen erhalten einen guten Teil davon; auch die Wucherer machen gute Geschäfte. Die Spielleidenschaft ist stärker als die Galanterie; in Spaa hat der Spieler keine Zeit, lange Betrachtungen über die Vorzüge eines Mädchens anzustellen, und ebensowenig hat er den Mut, der Liebe Opfer zu bringen. Das Geld, das aus dem Spielbetrieb herrührt, geht in drei Teile; der erste, und zwar der kleinste, fließt in die Tasche des Fürstbischofs von Lüttich; der zweite etwas größere, verteilt sich unter die Gauner, von denen es hier wimmelt und die im allgemeinen schlechte Geschäfte machen; denn man weicht ihnen aus, und sie haben keinen bestimmten Ort, wo sie mit obrigkeitlicher Erlaubnis ihr Halsabschneidergewerbe betreiben könnten; den größten Teil endlich, den man jährlich auf eine halbe Million schätzt, erhalten zwölf gewerbsmäßige Spieler, die unter sich eine Gesellschaft bilden und vom Landesherrn autorisiert sind.
All das Geld kommt aus den Taschen der Dummen, die von vierhundert Meilen in der Runde herbeieilen, um sich in diesem Loch, das man Spaa nennt, ausbeuten zu lassen.
Die Brunnenkur ist für die allermeisten nur ein Verwand. Man geht nach Spaa nur, um zu spielen, zu lieben und Gelegenheiten zu Geschäften auszukundschaften. Eine sehr kleine Anzahl von ehrenwerten Leuten geht dorthin, um sich zu unterhalten oder um sich von den Anstrengungen der Berufsarbeit zu erholen. An einem solchen Ort, wo man weiter nichts tut als essen, trinken, spazierengehn, spielen, tanzen usw., ist das Leben nicht teuer. An einer reich besetzten Tafel zahlt man für das Gedeck nur drei Franken, und für eine gleiche Summe findet man gute Unterkunft.
Ich kam zum Mittagessen nach Hause, nachdem ich etwa zwanzig Louis gewonnen hatte. Ich betrat den Laden, um auf mein Zimmer zu gehen, und mein Blick fiel mit angenehmer Überraschung auf ein Mädchen von achtzehn bis neunzehn Jahren, eine kräftige Schönheit, groß, mit schwarzen Haaren und großen schwarzen Augen, Zähnen wie Elfenbein, frischen sinnlichen Lippen und sehr schön gewachsen, aber von ernster Miene. Sie maß Band ab; es war also die Nichte, die sechs Schritte von mir entfernt schlief, und die ich mir als eine häßliche Person vorgestellt hatte. Ohne mir meine Überraschung anmerken zu lassen, setzte ich mich für einen Augenblick, um sie besser sehen zu können und um womöglich ihre Bekanntschaft zu machen. Sie sah mich jedoch kaum an; ein leichtes Neigen des Kopfes war alles, was ich von ihr erhalten konnte. Ihre Tante kam herunter, um mir zu sagen, daß das Essen gleich fertig sei. Ich ging nach oben und sah vier Gedecke. Die Magd füllte die Suppe auf und verlangte hierauf ohne alle Umstände von mir Geld, um Wein zu kaufen, falls ich welchen trinken wollte; denn ihre Herrschaft trinke nur Bier. Entzückt über diese Offenheit gab ich ihr Geld, um zwei Flaschen Burgunder zu kaufen.
Der Hutmachermeister kam herein, zeigte mir eine goldene Repetieruhr mit ebensolcher Kette und fragte mich, wieviel diese wohl wert sein könnten.
»Mindestens vierzig Louis.«
»Ein Herr will sie mir für zwanzig verkaufen, aber unter der Bedingung, daß ich sie ihm morgen zurückgebe, wenn er mir zweiundzwanzig bringt.«
»Das ist ein Geschäft, wozu ich Ihnen rate.«
»Ich habe nicht soviel Geld.«
»Ich werde es Ihnen mit Vergnügen leihen.«
Ich gab ihm zwanzig Louis und legte die Uhr in meine Kassette. Bei Tisch saß die Nichte mir gegenüber; ich vermied es, sie anzusehen, und sie sprach als bescheidenes Mädchen während des ganzen Essens keine zwanzig Worte. Ich fand das Essen ausgezeichnet: Suppe, Rindfleisch, Zwischengericht und Braten, alles war sehr gut. Die Meisterin sagte mir, der Braten ginge auf meine Rechnung; denn da sie nicht reich wären, erlaubten sie sich diesen Luxus nur Sonntags. Ich fand ihr Benehmen sehr zartfühlend und ihre Aufrichtigkeit bewunderungswürdig. Als ich die guten Leute bat, von meinem Wein zu trinken, nahmen sie das gerne an und sagten, sie möchten ein bißchen reicher sein, um sich jeden Tag eine halbe Flasche leisten zu können.
»Aber mir scheint doch, Ihr Geschäft geht gut.«
»Die Ware gehört nicht uns, und wir haben Schulden; außerdem sind die Ausgaben ungeheuer. Bis jetzt haben wir nur wenig verkauft.«
»Sie haben nur Hüte?«
»Oh, bitte, wir haben auch chinesische Taschentücher, Pariser Strümpfe, Spitzenmanschetten. Aber man findet das alles zu teuer.«
»Ich werde von Ihnen Waren kaufen, und Sie sollen auch an alle meine Freunde verkaufen; lassen Sie mich nur machen, ich will Ihnen nützlich sein.«
»Merci, hole ein paar Pakete Taschentücher und Strümpfe, aber von den großen, denn der Herr hat starke Waden.«
Merci, so hieß die Nichte, gehorchte. Ich fand die Taschentücher herrlich und die Strümpfe sehr schön. Ich kaufte ein Dutzend und versprach ihnen, in weniger als vierundzwanzig Stunden sollten sie den ganzen Vorrat verkaufen, den sie in ihrem Laden hätten. Sie empfahlen sich meinem Wohlwollen und überhäuften mich mit Dankesversicherungen.
Nach dem Kaffee, der ebenfalls auf meine Rechnung ging, sagte die Tante zu der Nichte, sie möchte sich in acht nehmen, daß sie morgens beim Aufstehen mich nicht aufweckte. Sie antwortete sie werde sehr sorgfältig aufpassen; ich aber bat sie, sich keinen Zwang anzutun, denn ich hätte einen sehr festen Schlaf.
Nach dem Essen ging ich zu einem Waffenschmied, um mir ein paar Pistolen zu kaufen; ich fragte ihn, ob er den Huthändler kenne, bei dem ich wohne.
»Wir sind Vettern.«
»Ist er reich?«
»Ja, an Schulden.«
»Warum?«
»Weil er unglücklich ist, wie alle ehrlichen Leute.«
»Und seine Frau?«
»Sie hält ihn durch Ordnungsliebe und Sparsamkeit aufrecht.«
»Gewiß. Sie ist ein gutes Mädchen, aber fromm, und hält durch ihre dummen Gewissensbedenken die Kunden fern.«
»Was sollte sie denn nach Ihrer Meinung tun, um Kunden anzuziehen?«
»Sie müßte höflicher sein und dürfte nicht so zimperlich sein, wenn einmal einer sie umarmen will.«
»Ist es wirklich so schlimm mit ihr?«
»Versuchen Sie es, und Sie werden selber sehen. Es ist noch keine acht Tage her, da hat sie einem Offizier eine Ohrfeige gegeben. Mein Vetter schalt sie aus, und sie wollte nach Lüttich zurückgehen, aber seine Frau beruhigte sie dann wieder. Sie ist hübsch; finden Sie das nicht auch?«
»Ganz gewiß; aber wenn sie so widerhaarig ist, muß man sie in Ruhe lassen.«
Infolge dieser Auskunft beschloß ich, mir eine andere Wohnung zu suchen; denn Merci hatte mir bei Tisch außerordentlich gefallen, und ich sah voraus, daß ich nicht lange so unmittelbar neben ihr schlafen würde, ohne ihr einen Besuch zu machen; eine Pamela aber war mir ebenso verhaßt wie eine Charpillon.
Am Nachmittag führte ich Rzewuski und Roniker zu meinen Wirtsleuten. Um mir einen Gefallen zu tun, kauften sie für mehr als fünfzig Dukaten. Am nächsten Tage kauften die Fürstin und Frau Tomatis den ganzen Vorrat von Taschentüchern.
Als ich um zehn Uhr nach Hause kam, fand ich Merci wie am Abend vorher bereits zu Bette. Am anderen Morgen holte der Hutmacher sich die Uhr wieder und gab mir zweiundzwanzig Louis. Da ich keinen Gewinn solcher Art machen wollte, so schenkte ich ihm die zwei Louis und sagte ihm, wenn er Sicherheit durch Pfand hätte, würde ich ihm stets gern meine Börse öffnen, und die Gewinne könnte er behalten. Er war vor Dankbarkeit ganz gerührt.
Da ich bei Tomatis eingeladen war, konnte ich an diesem Tage nicht mit ihnen zu Mittag essen. Ich war jedoch neugierig auf die fromme Nichte und sagte ihnen, ich würde bei ihnen zu Abend essen, und die Kosten der außerordentlichen Ausgabe möchten sie mir anrechnen. Sie gaben mir ein gutes Abendessen, und wir tranken ausgezeichneten Burgunder, von dem aber Merci keinen Tropfen trinken wollte. Als sie gegen das Ende der Mahlzeit auf einen Augenblick hinausgegangen war, sagte ich zur Tante, ihre Nichte sei reizend, aber es sei schade, daß sie so traurig sei.
»Sie wird sich ändern müssen, sonst behalte ich sie nicht.«
«Ist sie gegen alle Männer so?«
»Ohne Ausnahme.«
»Sie hat niemals geliebt?«
»Sie behauptet es; aber ich glaube es nicht.«
»Ich wundere mich, daß sie so gut schläft, da sie doch weiß, daß ein Mann ganz in der Nähe ist.«
»Sie hat keine Angst.«
Merci kam wieder herein, wünschte uns gute Nacht und wollte zu Bett gehen. Ich bat sie, sie umarmen zu dürfen; sie drehte mir den Rücken zu und stellte einen Stuhl auf die Schwelle der Kammer, damit ich sie nicht im Hemde sehen sollte. Hierauf zog sie sich aus und ging zu Bett. Meine Wirtsleute gingen, und ich legte mich ebenfalls zu Bett. Ich fand Mercis Benehmen unzulässig und wenig natürlich; denn sie wußte oder konnte wissen, daß sie einem Mann gefallen mußte, und sie konnte sich wohl denken, daß ich ein Mann war. Trotzdem ging ich ruhig zu Bett. Als ich am anderen Morgen aufwachte, fand ich den Vogel ausgeflogen. Ich hatte Lust, dem Mädchen unter vier Augen gehörig Bescheid zu sagen und dann, je nach dem Erfolg, meinen Entschluß zu fassen; aber ich wußte nicht, wie ich es anfangen sollte.
Inzwischen machte der Huthändler sich mein Anerbieten zunutze, um auf Pfänder zu leihen. Er machte dabei schöne Gewinne. Ich verschaffte ihm diesen Vorteil ohne Risiko für mich selber, und seine Frau und er erklärten es für ein großes Glück, mich bei sich zu haben. Dies brachte mich auf den Gedanken, mir ihr Interesse zunutze zu machen.
Am fünften oder sechsten Tage erwachte ich früher als Merci, zog nur meinen Schlafrock an und trat an ihr Bett. Sie hatte ein feines Gehör und erwachte; als sie mich auf sie zukommen sah, fragte sie mich in festem Ton, was ich von ihr wollte. Ich setzte mich auf ihr Bett und antwortete ihr ganz ruhig, ich wollte ihr nur guten Tag sagen und ein bißchen mit ihr plaudern. Unterdessen hatte sie sich in ihr Leinentuch gewickelt, das wegen der starken Hitze ihre einzige Decke bildete; aber ihr Bett war so schmal, daß sie mich nicht hindern konnte, sie mit meinen Armen zu umschlingen. Ich drückte sie an mich und bat sie, sie umarmen zu dürfen. Ihr Widerstand regte mich auf: ich tat einen kühnen Griff unter das Bettuch, und da sie ebenso gewachsen war wie alle anderen Mädchen, so war ich sofort am Ziel. Aber in dem Augenblicke, wo ich mich in ihren Besitz setzen zu können glaubte, erhielt ich einen Faustschlag auf die Nase, so daß ich tausend Sterne sah. Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß ich ex abrupto jede Lust verlor, zärtlich zu sein. Das Blut überströmte mein Antlitz und befleckte das Bett der wütenden Merci. Ich war klug genug, mich zu beherrschen. Die Schöne hatte, ohne ein Geschrei auszustoßen, wie es Weiber für gewöhnlich tun, eine ansehnliche Kraft entfaltet und mir dadurch einen Vorgeschmack gegeben, welche Folgen es hätte haben können, wenn ich ihre Tätlichkeiten erwidert hätte. So entfernte ich mich denn. Während ich mein Gesicht in eine Schüssel mit kaltem Wasser tauchte, kleidete Merci sich an und ging hinaus.
Als das Blut nicht mehr strömte, sah ich mit Bitterkeit, daß eine Beule zurückgeblieben war, die mich abscheulich entstellte. Mein Gesicht mit einem Taschentuch bedeckend, rief ich den Friseur, der gerade gegenüber wohnte, und als ich frisiert war, kam die Wirtin, um mir Forellen zu zeigen; ich fand diese schön und bezahlte sie; als ich aber der Frau das Geld gab, stieß sie ein lautes Geschrei über mein entstelltes Gesicht aus. Ich beruhigte sie, indem ich ihr den Grund sagte; dabei nahm ich jedoch alles Unrecht auf mich und bat sie dringend, ihrer Nichte nichts zu sagen. Ohne auf ihre überflüssigen Entschuldigungen zu hören, ging ich aus, indem ich mir das Taschentuch vors Gesicht hielt, und besah mir auf der anderen Seite der Straße eine Wohnung, die die Herzogin von Richmond am Tage vorher verlassen hatte.
Die Hälfte der Wohnung war für einen italienischen Marchese vorausbestellt; ich nahm die andere, ließ mir einen Lohndiener besorgen und augenblicklich alle meine Sachen von der Huthändlerin abholen, ohne auf ihre Bitten und Tränen zu achten, übrigens konnten ihre Worte mich durchaus nicht versöhnlich stimmen, denn sie sagte, ich würde durch Mercis Anblick nicht mehr belästigt werden; dies war aber nach meiner Meinung eine Genugtuung für das Mädchen und für mich eine Beleidigung oder mindestens eine Strafe.
Ich fand in meiner neuen Wohnung einen Engländer, der mir versprach, er wolle die Beule sofort und jede Spur des Faustschlages binnen vierundzwanzig Stunden verschwinden machen. Ich vertraute mich ihm an, und er hielt Wort. Er rieb mir die Stelle mit Branntwein und einem Gewürz, das ich nicht kenne. Trotz dem Erfolge schämte ich mich jedoch, mich sehen zu lassen, und blieb daher den ganzen Tag in meinen vier Wänden. Mittags brachte die ganz untröstliche Huthändlerin mir meine Forellen und sagte mir, Merci sei untröstlich, daß sie mich so behandelt habe, und wenn ich wieder zu ihr ziehen wolle, werde sie mir jede Genugtuung geben, die ich nur wünschen könne.
Ich antwortete ihr: »Sie begreifen, daß ich Ihren Bitten nicht nachgeben kann; denn mein Erlebnis würde bekannt werden; ich würde mich lächerlich machen, und es wäre um die Ehre Ihres Hauses und Ihrer Nichte getan; denn diese könnte dann nicht mehr für ein frommes Mädchen gelten.«
Ich erinnerte sie auch an die Ohrfeige, die der Offizier erhalten hätte. Sie war ganz erstaunt, daß ich diese Geschichte kannte. Ferner sagte ich ihr, ihre dringenden Einladungen seien unpassend, nachdem sie mich der rohen Mißhandlung ihrer Nichte ausgesetzt habe. Zum Schluß sagte ich ihr, ich brauche nicht allzu boshaft zu sein, um anzunehmen, daß sie mit im Spiele gewesen sei. Als ich das sagte, vergoß sie Ströme von Tränen. Diese konnten echt sein; ich hielt mich daher für verpflichtet, sie zu beruhigen, indem ich sie um Entschuldigung bat und ihr versprach, auch in Zukunft ihr Geschäft zu begünstigen. Als sie mich verließ, war sie ziemlich ruhig. Eine halbe Stunde darauf brachte ihr Mann mir fünfundzwanzig Louis, die ich ihm auf eine diamantenbesetzte goldene Tabaksdose gegeben hatte, und machte mir den Vorschlag, zweihundert Louis auf einen Ring zu geben, der vierhundert wert sei. Der Ring solle mir gehören, wenn der Besitzer ihm nicht innerhalb acht Tagen zweihundertundzwanzig Louis bezahle.
Es fehlte mir nicht an Geld. Ich untersuchte den Stein, der offenbar die sechs Karat, die er wiegen sollte, wirklich wog. Es war ein Diamant von reinstem Wasser; das Geschäft war so gut wie Gold.
»Ich bin bereit, die gewünschte Summe zu geben,« sagte ich, »wenn der Eigentümer bereit ist, mich schriftlich zum Verkauf des Ringes zu ermächtigen, falls er ihn nicht einlöst.«
»Ich werde Ihnen die Ermächtigung selber in Gegenwart von Zeugen geben.«
»Schön. In einer Stunde werde ich Ihnen das Geld geben; denn ich will den Stein herausnehmen lassen. Das muß dem Besitzer einerlei sein, denn ich werde den Stein auf meine Kosten genau so wieder fassen lassen, wie er jetzt ist. Wenn er ihn einlöst, sollen die zwanzig Louis Ihnen gehören.«
»Ich muß ihn erst fragen, ob er erlaubt, daß der Stein herausgenommen wird.«
»Gehen Sie, aber sagen Sie ihm, daß ich nicht einen Taler gebe, wenn er nicht diese Erlaubnis gibt.«
Der Hutmacher ging und kam gleich darauf mit einem Juwelier wieder, der mir sagte, er sei bereit, mir dafür zu bürgen, daß der Stein mindestens zwei Gran mehr wiege als sechs Karat.«
»Haben Sie ihn gewogen?«
»Nein, aber das macht nichts.«
»So machen Sie doch das Geschäft selber.«
»Ich verfüge nicht über das Geld.«
»Warum will der Besitzer nicht den Stein herausnehmen lassen, obwohl ihm das doch nichts kostet?«
»Das weiß ich nicht; aber er weigert sich.«
»Das kann er tun, gerade so wie es bei mir steht, ihm keinen Heller zu geben.«
Sie entfernten sich. Ich war sehr froh, daß ich widerstanden hatte, denn offenbar war der Stein entweder falsch, was man am Gewicht hätte erkennen können, oder er war auf einer künstlichen Unterlage befestigt.
Ich verbrachte den ganzen Tag mit Schreiben und erledigte mehrere Briefe, mit denen ich im Rückstande war. Am Abend aß ich mit gutem Appetit, und nachdem ich gut geschlafen hatte, stand ich am anderen Morgen auf, um nachzusehn, wer an meine Tür klopfte. Man stelle sich meine Überraschung vor: es war Merci!
Ich ließ sie eintreten, legte mich wieder zu Bett und fragte sie, was sie so früh am Morgen bei mir wünsche. Sie setzte sich auf mein Bett und begann sich mit vielen Worten zu entschuldigen. Ich hatte stets die Marotte, andere Leute von ihrem Unrecht überzeugen zu wollen, und fragte sie daher, wie sie so grausam hätte sein können, mich einer so groben Behandlung von ihrer Seite auszusetzen, wenn sie einmal den Grundsatz hätte, wie eine Tigerin alle Liebkosungen eines von ihr Verführten zurückzustoßen.
»Indem ich so dicht bei Ihnen in der Kammer schlief, habe ich dem Befehl meiner Tante gehorcht; indem ich Sie schlug, was ich sehr bereue, folgte ich einem unüberlegten Antrieb meiner Seele, die sich für beschimpft hielt; denn ich glaube, es ist nicht wahr, daß jeder Mann, der mich sieht, den Verstand verlieren muß. Ich glaube an die Pflicht, und Sie werden zugeben, daß es Ihre Pflicht ist, mich zu achten, und meine Pflicht, meine Ehre zu verteidigen.«
»Wenn das Ihre Denkungsart ist, so gestehe ich, daß Sie recht haben; aber Sie haben sich nicht zu beklagen, denn Sie haben gesehen, daß ich schweigend litt. Indem ich mich von Ihnen entfernte, müssen Sie sicher sein, daß ich Sie achte und auch in Zukunft achten werde. Sind Sie zu mir gekommen, um diese Erklärung zu erhalten? Hiermit haben Sie sie, und mehr können Sie nicht verlangen wollen. Gestatten Sie mir, daß ich über Ihre Entschuldigungen lache; denn was Sie mir soeben gesagt haben, macht Sie lächerlich.«
»Was habe ich Ihnen gesagt?«
»Daß Sie Ihre Pflicht getan haben, indem Sie mir die Nase zerschmetterten. Glauben Sie, daß man sich zu entschuldigen braucht, wenn man eine Pflicht erfüllt hat?«
»Ich hätte mich ohne Gewalt verteidigen können. Ach, vergessen Sie alles und verzeihen Sie mir! Ich werde mich überhaupt nicht mehr verteidigen, ich bin ganz und gar die Ihre. Ich liebe Sie und bin bereit, Sie davon zu überzeugen.«
Merci konnte nicht deutlicher sein. Außerdem sank sie, indem sie diese letzten Worte sprach, auf mich nieder, preßte ihr Gesicht gegen das meinige und überströmte mich mit Ihren Tränen. Ich schämte mich eines Sieges, den sie mir so leicht machte. Zwar stieß ich sie nicht zurück, aber ich machte mich von ihr los, indem ich ihr sagte, sie möchte wiederkommen, wenn mein Gesicht seine frühere Gestalt wieder angenommen hätte. Tief gekränkt verließ sie mich.
Der Italiener, den mein Wirt erwartete, war während der Nacht angekommen. Aus Neugier erkundigte ich mich nach seinem Namen und man brachte mir eine Karte mit den Worten: Marchese Don Antonio de la Croce.
Sollte dies Croce sein? Das war sehr leicht möglich. Er schlief noch. Ich erkundigte mich nach seinen Verhältnissen und erfuhr, daß die Marchesa eine Kammerfrau, der Marchese einen Sekretär habe, und daß außerdem noch zwei Lakaien da seien. Ich war sehr neugierig, diesen Marchese zu sehen!
Ich brauchte nicht lange zu warten, denn als er erfahren hatte, daß ich sein Nachbar sei, kam er zu mir, und schnell vergingen zwei Stunden mit der Erzählung unserer Erlebnisse seit unserem letzten Zusammentreffen in Mailand. Er wußte, daß ich das mir von ihm zurückgelassene Mädchen glücklich gemacht hatte. In den inzwischen verstrichenen sechs Jahren hatte er halb Europa durchwandert und dabei mit dem Glück gekämpft. In Paris und Brüssel hatte er viel Geld gewonnen. In dieser letzten Stadt hatte er sich in ein Fräulein von Stande verliebt, das ihr Vater in ein Kloster einsperren ließ. Er hatte sie entführt, und sie war die Marchesa de la Croce, die damals im sechsten Monat schwanger war.
Er sagte mir: »Ich gebe sie für meine Frau aus, weil ich die feste Absicht habe, sie zu heiraten. Ich besitze fünfzigtausend Franken in Gold, ebensoviel in Juwelen und Wertsachen und gedenke in meiner Wohnung Soupers zu geben und Bank zu halten; denn wenn ich spiele, ohne das Glück zu verbessern, bin ich sicher, alles zu verlieren.«
Er beabsichtigte, nach Warschau zu gehen, und rechnete darauf, daß ich ihn an alle meine Bekannten empfehlen würde. Er täuschte sich; ich weigerte mich sogar, ihn den mir bekannten Polen vorzustellen, die sich in Spaa aufhielten, und sagte ihm, es liege nur an ihm, deren Bekanntschaft zu machen. Doch versprach ich ihm, mich vollkommen neutral zu verhalten. Ich nahm seine Einladung zum Mittagessen für denselben Tag an. Sein angeblicher Sekretär war weiter nichts als ein Spießgeselle: es war ein geschickter Veroneser, namens Conti, dessen Frau notwendig mit zum Geschäft gehörte.
Gegen Mittag kam der Hutmacher wieder mit dem Besitzer des Ringes, der ganz wie ein Halsabschneider aussah. Bei ihm befanden sich der Juwelier und ein anderer Mann. Der Besitzer wiederholte mn die Bitte, ihm zweihundert Louis zu leihen.
Wäre ich vernünftig und weniger schwatzhaft gewesen, so hätte ich ihn gebeten, auf das Geschäft mit mir zu verzichten, und damit wäre alles erledigt gewesen; aber es kam anders. Ich wollte ihm auf meine übliche Weise klar machen, daß seine Weigerung, den Stein herausnehmen zu lassen, mich verhindern müsse, ihm den Gefallen zu erweisen. Zum Schluß sagte ich: »Wenn der Stein aus der Fassung genommen wäre, so würde man sehen, was er wirklich wert ist; wiegt er sechsundzwanzig Gran, so will ich Ihnen nicht zweihundert Louis, sondern sogar dreihundert geben. So wie er ist, gebe ich gar nichts dafür.«
»Sie haben unrecht, an meinen Worten zu zweifeln, denn Ihr Zweifel beleidigt meine Ehre.«
»Meine Worte können ebensowenig wie meine Absicht, den Stein aus der Fassung nehmen zu lassen, die Ehre irgend eines Menschen verletzen. Ich bin mein freier Herr und schlage Ihnen eine Wette vor: Man nehme den Stein aus der Fassung, und wenn er sechsundzwanzig Gran wiegt, verliere ich zweihundert Louis; wiegt er bedeutend weniger, so verlieren Sie den Ring.«
»Das ist ein beleidigender Vorschlag, denn er enthält den Vorwurf, daß ich Sie betrogen habe.«
Er sagte diese Worte in einem schroffen Ton, der mir mißfiel. Ich trat an meine Kommode, auf der meine Pistolen lagen, und bat den Händelsucher, mich in Ruhe zu lassen.
Inzwischen war General Roniker eingetreten, und der Mann mit dem Ringe erzählte ihm unsere Meinungsverschiedenheit. Der General sah sich den Ring an und sagte: »Wenn jemand mir den Ring schenkte, würde ich den Stein nicht herausnehmen lassen, denn einem geschenkten Gaul sieht man nicht ins Maul; wenn ich aber den Ring kaufen sollte, so würde ich nicht einen Taler dafür geben, ohne daß der Stein herausgenommen würde, und wenn der Verkäufer ein Kaiser wäre. Ich bin sehr erstaunt, daß Sie nicht Ihre Einwilligung geben wollen.«
Ohne ein Wort zu sagen und ohne zu grüßen, ging der Spitzbube aus der Tür; den Ring behielt der Lütticher in der Hand.
»Warum«, fragte ich diesen, »haben Sie ihm seinen Ring nicht wiedergegeben?«
»Weil ich ihm fünfzig Louis darauf vorgeschossen habe; aber wenn er mir diese nicht morgen wiedergibt, lasse ich den Stein in Gegenwart eines Beamten herausnehmen und öffentlich versteigern.«
»Dieser Mensch gefällt mir nicht; ich bitte Sie, niemanden zu mir in die Wohnung zu führen.«
Die Geschichte hatte folgendes Ende: der Betrüger löste seinen Ring nicht ein, und der Lütticher ließ den Stein herausnehmen. Man fand, daß der Diamant auf einer Unterlage von Bergkristall ruhte, die nicht weniger als zwei Drittel des Ganzen ausmachte. Der Diamant war jedoch die fünfzig Louis wert, und ein Engländer kaufte ihn um diesen Preis von dem Darleiher.
Acht Tage darauf traf der Gauner mich eine Viertelstunde vor der Stadt allein. Er kam auf mich zu und sagte mir, ich möchte ihm gefälligst an einen Ort folgen, wo wir nicht gesehen würden, denn er hätte ein Wörtchen mit dem Degen in der Hand zu mir zu sagen. In Spaa geht man gewöhnlich ohne Degen, und es war ein besonderer Zufall, daß ich den meinigen bei mir hatte, weil ich am Vormittag als Sekundant ein Duell zwischen zwei Hitzköpfen mitmachen sollte. Ich hatte jedoch das Vergnügen gehabt, sie ohne Blutvergießen miteinander auszusöhnen.
Ich antwortete dem Gauner: »Ich werde Ihnen nicht folgen; denn Sie können hier mit mir sprechen.«
»Hier sieht man uns.«
»Um so besser. Beeilen Sie sich, ziehen Sie Ihren Degen zuerst. Ich verspreche Ihnen, keinen Menschen zu rufen und Ihnen Genugtuung zu geben. Wenn Sie aber nicht den Degen ziehen, so erkläre ich Sie für einen Feigling, und ich glaube, Sie sind einer.«
Kaum hatte ich dies gesagt, so zog er blitzschnell den Degen; ich sprang jedoch zurück, und er fand mich zur Verteidigung bereit. Er rückte vor und legte aus, wie man es auf dem Fechtboden macht; in demselben Augenblick führte ich einen geraden Stoß auf seine Brust und versetzte ihm eine Wunde von drei Zoll. Ich würde ihm den Garaus gemacht haben, wenn er nicht den Degen gesenkt und mir gesagt hätte, er würde Gelegenheit finden, Revanche zu nehmen. Hierauf entfernte er sich, die Hand auf seine Wunde pressend. Zwanzig Personen, die uns gesehen hatten, umringten mich und ließen den anderen ruhig ziehen; denn sie waren alle Zeugen, daß er der Angreifer war. Die Geschichte hatte keine Folgen. Als ich von Spaa abreiste, befand er sich noch in ärztlicher Behandlung. Er war ein berüchtigter Abenteurer, der von allen sich in Spaa aufhaltenden Franzosen verleugnet wurde.
Die Marchesa, de la Croces angebliche Frau, war ein schönes, blondes Weib von sechzehn bis siebzehn Jahren, hochgewachsen und von adeligen Manieren. Die Geschichte ihrer Entführung ist ihren Brüdern und Schwestern bekannt, und da diese vornehmen und ehrenwerten Personen noch leben, so werden meine Leser mir gestatten, ihren Namen zu verschweigen.
Als ihr Gatte mich ihr vorstellte, empfing sie mich auf das freundlichste und anmutigste; sie bereute ihren Schritt nicht, obgleich sie sich bewußt war, daß sie damit alle Grundsätze verletzte, die ihr durch ihre Erziehung eingeprägt waren. Obwohl sie erst im sechsten oder siebenten Monat schwanger war, sah sie doch aus, wie wenn ihre Entbindung unmittelbar bevorstände; im übrigen war sie offenbar vollkommen gesund. Ihr Gesicht trug einen unbeschreiblichen Ausdruck von Aufrichtigkeit. Ihre großen, etwas hervorstehenden blauen Augen, ihre Wangen von blasser Rosenfarbe, ihr kleiner, zart geschnittener Mund mit Zähnen vom glänzendsten Schmelz, dies alles zusammen bildete eine Schönheit, die des Pinsel eines Albano würdig gewesen wäre.
Ich hielt mich für einen guten Physiognomiker und glaubte, daß das junge Weib glücklich sei und auch den Gegenstand ihrer Liebe beglücken müsse. Leider mußte ich sehr bald die Eitelkeit meiner vermeintlichen Wissenschaft erkennen, und ich benütze diese Gelegenheit, um zu erklären, daß es keine größere Torheit auf der Welt gibt, als zu glauben, Menschen nach dem ersten Eindruck beurteilen zu können.
Die junge Marchesa hatte schöne Ohrringe und zwei herrliche Fingerringe, die mir einen Vorwand lieferten, die Schönheit ihrer Hände in der Nähe bewundern zu dürfen.
Contis Frau spielte gar keine Rolle, und ich hatte nur für Charlotte Augen; so hieß die Marchesa. Ich war von ihrer Schönheit so überrascht, daß ich in meiner Zerstreuung fast immer unrichtige Antworten auf die Bemerkungen gab, die sie während des Essens an mich richtete.
Unwillkürlich mußte ich darüber nachdenken, daß so viele hervorragende Mädchen sich in diesen Mann verliebten. Vergebens suchte ich nach einem Grund dafür; Croce war weder schön noch von gebildetem Geiste; er beherrschte weder den Ton der guten Gesellschaft, noch war seine Sprache verführerisch. Und so sah ich an ihm nichts, was Mädchen von guten Familien veranlassen konnte, um seinetwillen das Elternhaus zu verlassen; und doch war dies nun schon die zweite, die ich mit meinen eigenen Augen sah. Obgleich ich über diese Rätsel nachsann, war ich doch weit entfernt zu ahnen, was einige Wochen später eintreten sollte.
Nachdem wir von Tisch aufgestanden waren, nahm ich Croce auf die Seite und hielt ihm eine vernünftige und eindringliche Rede. Ich zeigte ihm, daß er sich unbedingt vernünftig benehmen müßte; denn er wäre der niederträchtigste Henkersknecht, wenn durch seine Schuld das von ihm verführte herrliche Geschöpf unglücklich werden sollte.
»Ich will mich nur noch auf meine Kunst verlassen; denn ich bin sicher, daß ich dann stets ein reicher Mann sein werde.«
»Weiß sie, daß dein einziges Vermögen die Dummheit der Menschen ist?«
»Sie weiß nichts, als daß ich Spieler bin, und da sie mich anbetet, so hat sie keinen anderen Willen als den meinigen. Ich gedenke sie in Warschau vor ihrer Niederkunft zu heiraten, und ich bin sicher, daß ich diese zweite nicht deiner Sorge anzuvertrauen brauche. Wenn du Geld brauchst, so verfüge nach deinem Belieben über meine Börse.«
»Ich danke dir und empfehle dir noch einmal, recht vernünftig und außerordentlich vorsichtig zu sein.«
Ich hatte wirklich kein Geld nötig. Ich spielte mit weiser Mäßigung und war mit beinahe vierhundert Louis im Gewinn. Wenn das Glück sich feindlich zeigte, besaß ich die Willenskraft, ihm den Rücken zu wenden und das Spiel aufzugeben.
Obgleich die Spuren von Mercis Schlag noch sehr sichtbar waren, führte ich die Marchesa in den Spielsaal, wo sie alle Blicke auf sich lenkte. Sie liebte das Pikett, und ich unterhielt sie, indem ich mit ihr spielte. Um das Spiel interessant zu machen, hatte sie verlangt, daß wir um Geld spielen sollten, und da sie etwa zwanzig Taler verloren hatte, mußte ich dieses Geld annehmen, um sie nicht zu kränken.
In der Wohnung fanden wir Croce und Conti, die beide gewonnen hatten: Croce etwa zwanzig Louis im Pharao, und Conti mehr als hundert Guineen im Passedir in einem Engländerklub, in den er sich hatte einführen lassen. Beim Abendessen hatte ich mehr Geist als mittags, und Charlotte lachte herzlich über mich.
Von diesem Tage an sah man mich nur noch selten bei den Polen und Tomatis, und nach acht Tagen machten meine Freunde keine Scherze mehr darüber. Ich war verliebt in die schöne Marchesa, und jedermann fand das ganz natürlich-, aber nach Ablauf dieser acht Tage war Croce es müde, daß trotz seinen Soupers keine Dummen zu ihm kommen wollten; er ging an die große Spielbank und verlor beständig. Er war an den Verlust wie an den Gewinn gewöhnt, und seine Laune blieb daher die gleiche: er war immer fröhlich, aß gut, trank noch besser und liebkoste seine schöne Frau, so daß wenigstens diese keinen Verdacht schöpfte. Ich wußte allerdings, wie die Sachen standen, aber ich hielt es nicht für passend, es ihr zu sagen. Ich liebte sie, wagte aber nicht, ihr das zu erkennen zu geben, denn ich glaubte, ich könnte nur auf ihre Freundschaft Anspruch machen. Ich fürchtete, sie möchte es eigennützigen Beweggründen zuschreiben, wenn ich ihr die wahren Verhältnisse ihres unwürdigen Verführers offenbarte. Vor allen Dingen fürchtete ich das Vertrauen zu verlieren, das sie mir zu schenken begann.
Nach drei Wochen hatte Conti, der vorsichtiger spielte, einige hundert Louis gewonnen; er verließ Croce und reiste mit seiner Frau und seinem Bedienten nach Verona. Einige Tage später entließ Charlotte ihre Kammerzofe, eine kleine Lütticherin, mit der sie nicht zufrieden war, und bezahlte ihr die Reise nach ihrer Heimatstadt.
Gegen Mitte des Septembers verließen alle meine Polen und Tomatis Spaa, um nach Paris zurückzukehren; ich versprach ihnen, mich dort wieder mit ihnen zu treffen. Ich blieb in Spaa nur wegen der tiefen Neigung, die Charlotte mir eingeflößt hatte. Ich sah eine Katastrophe voraus und hatte nicht den Mut, das entzückende Geschöpf in Stich zu lassen. Croce verlor jeden Tag, vormittags und abends, und sah sich bald genätigt, alle seine Juwelen zu verkaufen. Schließlich bat er Charlotten um ihre Schmucksachen, und sie gab ihm alles, was sie hatte: Ohrgehänge, Ringe, Uhren.
Er verlor alles, und trotzdem zeigte die junge Person nicht die mindeste Änderung in ihrem engelhaften Charakter. Zuletzt nahm er ihr alle ihre Spitzen und ihre schönsten Kleider, fügte dazu seine eigene Garderobe, verkaufte alles und zog in den letzten Kampf gegen das Glück mit zweihundert Louis, die er in meiner Gegenwart erbärmlich verlor, weil er wie ein verzweifelter Narr das Glück gegen jeden Sinn und Verstand zwingen wollte.
Als er nichts mehr hatte, stand er auf, sah mich und machte mit ein Zeichen. Ich ging mit ihm vor das Tor von Spaa. »Mein Freund,« sagte er dort zu mir, »ich habe keine andere Wahl, als mich auf der Stelle zu töten oder, so wie ich bin, Spaa zu verlassen, ohne auch nur einmal noch in meine Wohnung zu gehen. Ich gehe zu Fuß nach Warschau und lasse dir meine Frau zurück; ich weiß, du wirst für sie sorgen, denn du betest sie an, und mit Recht. Ich überlasse es dir, ihr die schreckliche Nachricht von meiner Lage beizubringen. Sage ihr: nur ihretwegen wollte ich ein Vermögen erwerben, und wenn ich in Zukunft mehr Glück habe, so werde ich ihr mein Leben weihen. Sorge für diesen Engel, der eines edleren Geliebten als meiner würdig ist; denn ich bin ein Elender, den sie hassen müßte, wenn ich sie nicht anbetete. Geh mit ihr nach Paris; ich werde dir schreiben und meine Briefe an deinen Bruder adressieren. Ich weiß, du hast Geld; aber ich würde lieber sterben, als einen einzigen Louis von dir annehmen. Ich habe noch drei oder vier Louis in kleiner Münze, und ich versichere dir, ich bin in diesem Augenblick reicher, als ich vor zwei Monaten war. Noch einmal lege ich dir Charlotte ans Herz. Sie wäre glücklich, wenn sie mich nie gekannt hätte.«
Nach dieser Rede umarmte er mich unter strömenden Tränen und ging: ohne Mantel, ohne auch nur ein Hemd in der Tasche zu haben, in seidenen Strümpfen und in einem schönen apfelgrünen Samtrock, einen Rohrstock in der Hand! Ich stand, ganz verdutzt, unbeweglich da und sah ihm nach. Ich war in Verzweiflung, eine solche Nachricht einer schwangeren Frau überbringen zu müssen, die ihn unglücklicherweise anbetete. Nur eins gab mir in diesem Augenblick Kraft: das Gefühl, daß ich sie liebte, und daher die Gewißheit, daß sie nicht ohne Stütze wäre. Ich war glücklich, daß ich reich genug war, sie vor Entbehrungen und Not zu schützen.
Ich ging zu ihr. Um sie zu schonen, sagte ich ihr, wir könnten zu Mittag essen, denn der Marchese sei in eine Spielpartie verwickelt, die bis zum Abend dauern werde. Sie seufzte, wünschte ihm Glück und setzte sich mit mir zu Tisch. Ich wußte mich so gut zu beherrschen, daß sie keinen Verdacht schöpfte. Nach dem Essen lud ich sie ein, einen Spaziergang in dem nahe gelegenen Kapuzinergarten zu machen. Sie war mit Vergnügen bereit. Um sie auf die verhängnisvolle Nachricht vorzubereiten, fragte ich sie, ob sie ihren Geliebten loben würde, wenn er in einem Ehrenhandel sich der Gefahr, von seinem Feinde ermordet zu werden, dadurch aussetzte, daß er zu ihr käme, um ihr Lebewohl zu sagen, anstatt ohne weiteres zu fliehen.
»Ich würde ihn tadeln!« antwortete sie mir; »er muß an seine Rettung denken, wäre es auch nur, um sein Leben für mich zu erhalten. Hat etwa mein Gatte diesen Entschluß gefaßt? Sprechen Sie zu mir ohne jeden Rückhalt! Meine Seele ist stark genug, daß sie einem solchen Schlage widerstehen würde, so furchtbar er auch wäre; ich werde stark sein, zumal da ich einen Freund wie Sie habe. Sprechen Sie!«
»Nun, so werde ich Ihnen denn alles sagen. Hören Sie mich an, und seien Sie überzeugt, daß Sie in mir einen zärtlichen Vater sehen müssen, der Sie liebt und es Ihnen an nichts fehlen lassen wird, solange der Himmel ihm das Leben schenkt.«
»So bin ich also nicht unglücklich. Sprechen Sie, würdiger Freund!«
Ich erzählte ihr nun die ganze Geschichte, ohne von dem, was Croce mir beim Abschieb gesagt hatte, nur ein Wort auszulassen. Ich schloß mit seinen Abschiedsworten: ›Ich lege dir Charlotte ans Herz; sie wäre glücklich, wenn sie mich niemals gekannt hätte.‹ Einige Augenblicke stand sie unbeweglich, in Gedanken versunken, mit gesenkten Augen und gefalteten Händen. Man konnte an ihrer Haltung, an ihrem unregelmäßigen Atmen erraten, was ihre edle Seele in diesem stillen Kampfe litt, den Liebe, Mitleid, Kummer und vielleicht Entrüstung sich in ihrem Innern lieferten. Ich war tief gerührt. Endlich trocknete sie zwei große Tränen, schlug ihre schönen Augen zu mir auf und sagte mit einem leisen Seufzer: »Mein großmütiger Freund, wenn ich auf Sie zählen kann, bin ich ganz gewiß nicht unglücklich.«
»Ich schwöre Ihnen, Charlotte: ich werde Sie niemals verlassen, als bis ich Sie Ihrem Gatten in die Arme führe, – es sei denn, daß ich vorher sterbe.«
»Das genügt mir. Ich schwöre Ihnen ewige Dankbarkeit und den vollen Gehorsam einer guten Tochter.«
Religion und Philosophie hatten sie etwas beruhigt. Sie brüstete sich nicht mit ihren Anschauungen, aber sie war offenbar tief davon durchdrungen. Sie machte einige Bemerkungen über die überstürzte Abreise des Unglücklichen und seufzte, als sie sich vorstellte, in welcher Verzweiflung er sich befunden haben mußte, als er nur die Wahl hatte, entweder sich zu töten oder, entblößt von allem, die Flucht zu ergreifen; aber sie überließ sich dieser Betrachtung nur, um ihn zu beklagen, und da sie alles der blinden und wahnsinnigen Leidenschaft des Spieles zuschrieb, so verurteilte sie ihn nicht. Croce hatte ihr oft die Geschichte von der Marseillerin erzählt, die er in dem Mailänder Gasthof mit dem Rat zurückgelassen hatte, sich an mich zu wenden. Sie fand die Schicksalsfügung wunderbar, daß ich zum zweitenmal die Fürsorge für ein Mädchen übernehmen mußte, das der unglückselige Spieler in einer noch schlimmeren Lage verlassen hatte; denn sie war im achten Monat schwanger.
»Der Unterschied«, sagte ich ihr, »besteht darin, daß ich die erste glücklich gemacht habe, indem ich einen ehrenwerten Gatten für sie fand, während ich niemals den Mut haben werde, die zweite auf demselben Wege glücklich zu machen.«
»Solange Croce lebt, werde ich niemals die Frau eines andern werden. Dieser Entschluß steht vollkommen fest; trotzdem ist es mir in diesem Augenblick ganz lieb, frei zu sein.«
Als wir wieder zu Hause waren, riet ich ihr, den Bedienten zu entlassen und ihm die Reise bis Besançon zu bezahlen, wo Croce ihn angenommen hatte; auf diese Weise wurde er verhindert, verleumderische Reden zu verbreiten, die er sich sonst wohl erlaubt hätte. Auf meinen Rat verkaufte sie auch den ganzen Rest der Garderobe meines armen Freundes und seinen Reisewagen, weil der meinige besser war. Sie zeigte mir die Sachen, die ihr noch blieben und die nur in Wäsche und drei oder vier Kleidern bestanden.
Wir blieben noch eine Zeitlang in Spaa, aber ohne jemals auszugehen. Sie sah, daß ich sie mehr als ein Vater liebte; sie sagte es mir und war mir dankbar, daß ich sie schonte; denn obwohl ich sie stundenlang in meinen Armen hielt, begnügte ich mich damit, ihre schönen Augen zu küssen und verlangte niemals etwas mehr für meine Zärtlichkeit. Ich war glücklich über ihre Dankbarkeit und über das Glück, das meine Zurückhaltung ihr bereitete. Wenn die Versuchung meine Gefühle zu stark erweckte, entfernte ich mich und fühlte mich stolz auf meinen Sieg. Unser Verhältnis hatte etwas von der Reinheit einer ersten Liebe.
Da Charlotte einen kleinen Reisehut gebrauchte, so bestellte der Hausdiener welche bei dem Lütticher, und Merci brachte mehrere zur Auswahl. Sie errötete bei meinem Anblick, aber ich sagte nichts. Als sie fort war, erzählte ich meiner neuen Freundin die Geschichte von diesem Mädchen, und sie lachte herzlich, als ich ihr sagte, von Merci hätte ich die Beule gehabt, die mein Gesicht entstellte, als ich sie zum ersten Male gesehen hätte. Sie bewunderte meine Tapferkeit, daß ich mich nicht durch ihre scheinbare Reue hätte rühren lassen, und war wie ich der Meinung, daß die ganze Geschichte ein zwischen Merci und ihrer Tante abgekartetes Spiel gewesen wäre.
Wir reisten von Spaa ohne Bedienten ab; von Lüttich aus schlugen wir den Weg durch die Ardennen ein, um Brüssel zu vermeiden, wo sie erkannt zu werden fürchtete. In Luxemburg nahmen wir einen Bedienten, der bis Paris bei uns blieb; wir fuhren über Metz und Verdun. Während der ganzen Reise war Charlotte zärtlich, sanft und gut; aber infolge ihres Zustande blieb ich innerhalb der Grenzen kleiner Vertraulichkeiten. Ich sah voraus, daß wir nach ihrer Entbindung nicht dabei stehen bleiben würden; doch die Natur hatte es anders bestimmt.
Wir stiegen in Paris im Hotel Montmorency in der Straße gleichen Namens ab.
Paris kam mir wie eine neue Welt vor. Frau von Urfé war tot, meine alten Bekannten waren umgezogen oder befanden sich in anderen Verhältnissen: Arme waren reich, Reiche arm geworden; überall waren neue Gebäude, neue Straßen; ich fand mich nicht mehr zurecht. Auf dem Theater herrschte ein neuer Geschmack, und ich fand infolgedessen eine neue Spielweise und neue Schauspieler. Alles war teurer geworden; die Armut lief, um ihre Sorgen zu vergessen, auf den neuen Promenaden herum, die durch Habsucht und aus Politik auf den alten Stadtwällen geschaffen waren und den vollklingenden Namen Boulevards erhalten hatten. Der Luxus derer, die in ihren Karossen die Boulevards entlang fuhren, schien nur des Kontrastes wegen da zu sein. Die Reichen und die Armen waren gleichzeitig und gegenseitig Schauspiel und Zuschauer. Paris ist vielleicht die einzige Stadt auf der Welt, deren Aussehen sich in fünf oder sechs Jahren vollständig ändert.
Mein erster Besuch galt der Gräfin du Rumain, die hocherfreut war, mich wiederzusehen. Ich gab ihr das Geld zurück, das sie mit gütigem Herzen in der Zeit meiner Not mir hatte zukommen lassen. Sie befand sich gut, wurde aber durch häuslichen Kummer gequält und sagte mir, die Vorsehung schicke mich, um sie durch meine Kabbala von ihrer Sorge zu befreien. Sie fand mich zu jeder von ihr gewünschten Stunde dienstbereit; dies war das wenigste, was ich für eine Frau von ihrem Charakter tun konnte.
Mein Bruder hatte eine neue Wohnung in der Vorstadt Saint-Antoine bezogen. Er sowohl wie seine Frau waren hocherfreut, mich wiederzusehen; sie liebte nur ihn allein, obgleich er sie durch seine Impotenz unglücklich machte. Beide luden mich dringend ein, bei ihnen zu wohnen, und ich versprach ihnen zu kommen, sobald die Dame, die ich bei mir hätte, niedergekommen wäre. Ich hielt es nicht für angebracht, ihnen die Geschichte zu erzählen, und sie waren so zartfühlend, mich nicht danach zu fragen. Am selben Tage machte ich meine Besuche bei der Fürstin Lubomirska und bei den Tomatis; ich bat sie, es mir nicht übel zu nehmen, wenn ich sie nur sehr selten besuchte; die Dame, die sie in Spaa gesehen hätten, stände unmittelbar vor ihrer Niederkunft und bedürfte meiner ganzen Pflege.
Nachdem ich mich dieser gesellschaftlichen Verpflichtungen entledigt hatte, wich ich nicht mehr von Charlottens Seite. Am achten Oktober ging ich mit ihr zu der Hebamme Frau Lamarre, die in der Rue du Faubourg St. Denis wohnte; Charlotte wünschte, daß ich sie dort in Pension gäbe. Sie besah sich das Zimmer und das Bett, das sie erhalten sollte, ließ sich ausführlich sagen, wie man sie bedienen und verpflegen würde und was ich für alles zu bezahlen hatte. Am Abend desselben Tages fuhren wir nach Einbruch der Dunkelheit in einem Fiaker dorthin; ein Koffer enthielt alles, was ihr gehörte.
Am Ende der Rue Montmorency mußte unser Wagen anhalten, um den Leichenzug irgendeiner reichen Person vorüber zu lassen. Charlotte bedeckte sich die Augen mit ihrem Taschentuch, lehnte ihren schönen Kopf an meine Schulter und sagte: »Lieber Freund, ohne Zweifel ist es eine Dummheit; aber in meinem Zustand ist dieses Zusammentreffen von übler Vorbedeutung.«
»Quäle dich nicht mit eitlen Befürchtungen, reizende Charlotte! Vorbedeutungen sind ein eitler Wahn, dem nur der Aberglaube eine gewisse Bedeutung geben kann. Eine gebärende Frau ist keine Kranke, und niemals ist eine Frau im Wochenbett gestorben, wenn nicht eine andere Krankheit hinzutrat.«
»Jawohl, mein lieber Philosoph, es ist mit uns gebärenden Frauen wie mit zwei Männern, die sich schlagen: beide sind kerngesund, aber der eine bekommt einen Degenstich und stirbt.«
»Dein Vergleich ist sehr geistreich. Aber sei doch nur ruhig: bald werden wir nach Madrid abreisen, nachdem wir vorher für dein Kind gesorgt haben. Ich hoffe, dort werde ich dich glücklich und zufrieden sehen.«
Während der ganzen Fahrt unterhielt ich sie recht angenehm, um den peinlichen Eindruck zu verscheuchen, den sie empfangen hatte; denn ich wußte nur zu sehr, welche Wirkungen fixe Ideen auf ein zartes Wesen ausüben können, besonders auf eine junge Frau, die sich in einem solchen Zustande befindet wie Charlotte.
Als ich das reizende Geschöpf gut untergebracht sah, kehrte ich nach meiner Wohnung zurück; am nächsten Tage zog ich zu meinem Bruder; aber, solange Charlotte lebte, schlief ich bei ihm nur, denn von neun Uhr früh bis ein Uhr nachts hielt ich mich bei der geliebten Frau auf.
Am dreizehnten Oktober wurde Charlotte von einem hitzigen Fieber befallen, das sie nicht mehr verließ. Am siebzehnten brachte sie sehr glücklich einen Jungen zur Welt, der auf den ausdrücklichen Befehl seiner Mutter gleich an demselben Morgen in die Kirche getragen und dort getauft wurde. Charlotte schrieb mit eigener Hand die Namen auf, die er tragen sollte: Jacques (nach mir), Charles (nach ihr), Sohn von Antonio de la Croce und Charlotte *** (sie gab ihren wahren Namen an). Auf ihren Wunsch mußte Frau Lamarre den Knaben von der Kirche sofort ins Findelhaus bringen. In seinen Windeln befand sich sein Taufschein sowie die Angabe, wo und von wem er geboren war. Vergeblich suchte ich sie zu überreden, das Kind meiner Sorgfalt anzuvertrauen. Sie sagte mir, wenn das Kind lebte, wäre es für den Vater sehr leicht, es aus dem Findelhause herauszunehmen. An demselben Tage, den achtzehnten Oktober, gab die Hebamme mir nachstehende Bescheinigung, die in diesem Augenblick vor mir liegt:
Wir, I. B. Dorival, königlicher Rat, Kommissarius in Châtelet zu Paris, früher Polizeivorsteher des Stadtviertels der Cité, bescheinigen hiermit kraft unseres Amtes, daß im Findelhause ein Knabe, anscheinend einen Tag alt, eingeliefert worden ist. Die Hebamme Lamarre hat ihn von der Rue de Faubourg St. Denis gebracht; er war mit seinen Windeln bekleidet, und in diesen befand sich eine Bescheinigung, woraus hervorgeht, daß er heute in St. Laurent getauft worden ist, und zwar auf den Namen Jacques-Charles, Sohn von Antonio de la Croce und Charlotte ***. Hierüber haben wir vorliegende Bescheinigung ausgestellt in unserem Palast, Rue des Marmousets in der Cité, am 18. Oktober 1767 abends 7 Uhr.
Dorival.
Sollten sich unter meinen Lesern Neugierige befinden, die den Namen der Mutter erfahren möchten, so gebe ich ihnen hiermit die Mittel an die Hand, ihre Neugier zu befriedigen.
Nach Erledigung dieser Angelegenheit, die mir recht schmerzlich war, wich ich Tag und Nacht nicht mehr von dem Bett der Kranken. Trotz der sorgfältigen Pflege eines geschickten Arztes verließ das Fieber sie keinen Augenblick mehr, und am sechsundzwanzigsten desselben Monats, morgens fünf Uhr, starb sie. Eine Stunde bevor sie den letzten Seufzer ausstieß, nahm sie Abschied von mir; sie sagte mir, es sei der letzte Abschied, und bevor sie meine Hand los ließ, führte sie sie an ihre Lippen; dies geschah in Gegenwart des ehrwürdigen Geistlichen, der ihr um Mitternacht die Beichte abgenommen hatte. Die Tränen, die ich noch in diesem Augenblick vergieße, da ich diese Zeilen schreibe, werden wahrscheinlich die letzten sein, die ich zu Ehren dieses reizenden Kindes weine, eines Opfers der Liebe und eines Mannes, der noch lebt und nur seinem seltsamen und grausamen Geschick zu gehorchen scheint, indem er Menschen unglücklich macht.
In Tränen zerfließend, setzte ich mich neben das Bett Charlottens, die ich meine Tochter nannte und so innig liebte. Vergeblich suchte die gute Frau Lamarre mich zu überreden, in ihr Zimmer zu kommen: der Anblick dieser Leiche war mir mehr als die ganze Welt, als ich selber.
Mittags kamen mein Bruder und dessen Frau, um sich nach mir zu erkundigen; sie waren unruhig um mich, da sie mich seit acht Tagen nicht mehr gesehen hatten. Als sie eine so junge und so schöne Tote sahen, der selbst die harte Hand des Todes ihre Schönheit nicht hatte rauben können, verstanden sie meine Tränen und weinten lange Zeit mit mir. Endlich entfernten sie sich auf meine Bitte, und ich schlief mit dem Kopf auf dem Bett, worauf Charlottens irdische Überreste lagen. Ich verließ sie nicht eher, als bis das Grab sie verschlungen hatte.
Am Tage vor dem Begräbnis, ewig schmerzlichen Angedenkens, hatte mein Bruder mir mehrere Briefe gegeben. Ich hatte sie nicht geöffnet. Als ich nach der Beerdigung das Sterbehaus verließ, erbrach ich meine Briefe, und der erste, den ich las, war von Herrn Dandolo, der mir den Tod des Herrn von Bragadino meldete. Meine Tränen waren versiegt; ich verlor einen Mann, der seit zweiundzwanzig Jahren Vaterstelle an mir vertrat, der um meinetwillen mit der größten Sparsamkeit lebte und sogar Schulden machte. Da sein Vermögen ein Fideikommiß war, so konnte er mir nichts hinterlassen. Seine Möbel und seine Bibliothek wurden die Beute seiner Gläubiger. Seine beiden Freunde, zugleich die meinigen, waren arm und konnten mir nur mit ihren Herzen helfen. Diese schreckliche Nachricht begleitete ein Wechsel von tausend Talern, die der Verstorbene, sein Ende voraussehend, vierundzwanzig Stunden vor seinem Tode mir noch gesandt hatte. Ich war wie zerschmettert. Nun konnte ein schlimmerer Schlag mir nicht mehr vom Schicksal kommen.
Drei Tage verbrachte ich im Hause meines Bruders, ohne auszugehen. Am vierten ging ich zur Fürstin Lubomirska, um deren Gunst ich mich eifrig bewarb. Sie hatte dem König, ihrem Vetter, einen Brief geschrieben, der ihn beschämen mußte, denn sie bewies dem Monarchen, daß er schnöder Verleumdung sein Ohr geliehen hatte. Aber Könige lassen sich nicht durch solche Kleinigkeiten beschämen. Außerdem hatte gerade damals Stanislaus August von Rußland den blutigsten Schimpf erlitten: Repnin hatte mit Gewalt die drei Senatoren wegschleppen lassen, weil sie auf ihrem Reichstag als freie Männer gesprochen hatten. Dies war ein Dolchstoß, der dem unglücklichen König das Herz durchbohren mußte.
Die Fürstin hielt sich mehr aus Haß als aus Liebe von Warschau fern; aber man glaubte es nicht.
Meine Reise nach Madrid war beschlossene Sache; denn ich wollte diesen Hof sehen, bevor ich mich nach Portugal begab. Die Fürstin gab mir vorher einen Brief für den damals in Spanien allmächtigen Grafen d'Aranda, und der Marchese Caraccioli, der noch in Paris war, gab mir drei Empfehlungsbriefe, einen für den Fürsten della Cattolica, den neapolitanischen Gesandten in Madrid, einen für den Herzog von Lossada, den Oberhoftruchseß und Günstling des Königs, und einen dritten für den Marques Mora-Pignatelli.
Am 4. November ging ich mit einer Eintrittskarte, die die Fürstin Lubomirska mir gegeben hatte, in ein Konzert gegenüber der Sackgasse der Orangerie. Mitten im Konzert hörte ich hinter mir meinen Namen nennen und lachen. Ich drehte mich um und sah den Menschen, der so verächtlich von mir sprach: es war ein großer junger Mann, der zwischen zwei alten Herren saß. Als ich ihn fest ansah, wandte er seine Blicke ab, setzte aber seine unverschämten Bemerkungen fort. Unter anderem sagte er, ich kostete ihm mindestens eine Million, die ich seiner verstorbenen Tante, der Marquise d'Urfé, gestohlen hätte.
Ich sagte zu ihm: »Sie können nur ein frecher Mensch sein. Wenn wir draußen wären, würde ich Ihnen einen Fußtritt vor den Hintern geben, um Ihnen einen anständigen Ton beizubringen.«
Mit diesen Worten stand ich auf und ging hinaus; als ich mich umdrehte, sah ich, wie die beiden alten Herren den jungen Brausekopf zurückhielten. Ich stieg in einen Wagen und ließ diesen am Eingang der Sackgasse halten, um zu sehen, ob er mir nachkomme; da ich ihn nicht kommen sah, ging ich in das Meßtheater, wo ich in derselben Loge saß wie die Valville.
Sie sagte zu mir: »Ich bin nicht mehr Schauspielerin und werde vom Marquis de Brumoi unterhalten.«
»Das freut mich; ich wünsche Ihnen alles Glück.«
»Ich hoffe, Sie werden bei mir zu Abend speisen?«
»Soviel Vergnügen mir das machen würde, kann ich es leider nicht; aber ich werde Sie besuchen, wenn Sie mir Ihre Adresse geben.«
Mit diesen Worten drückte ich ihr eine Rolle von fünfzig Louis in die Hand.
»Was ist das?«
»Das Geld, das du mir in Königsberg geliehen hast, meine Liebe.«
»Hier ist weder der Ort, noch der rechte Augenblick, es mir zurückzugeben. Ich will das Geld nicht haben, wenigstens hier nicht; ich werde es nur in meiner Wohnung annehmen. Bitte, sprich nicht weiter davon!«
Ich steckte die Rolle wieder in die Tasche, und sie nahm einen Bleistift und schrieb mir ihre Adresse auf. Bald nachher verabschiedete ich mich von ihr. Ich war zu traurig, um ein Beisammensein mit diesem reizenden Weibe anzunehmen.
Zwei Tage später saß ich bei Tische mit meinem Bruder, meiner Schwägerin und einigen Russen, die bei ihm in Pension waren, um die Schlachtenmalerei zu erlernen. Plötzlich wurde mir gemeldet, ein Ludwigsritter warte auf mich im Vorzimmer, um ein Wort mit mir zu reden. Ich ging zu ihm hinaus, und er überreichte mir, ohne ein Wort zu sagen, ein Papier.
Ich öffne es; es ist Louis unterzeichnet. Der Monarch befiehlt mir, Paris binnen vierundzwanzig Stunden und Frankreich binnen drei Wochen zu verlassen; und als Grund gibt er mir an: es sei sein bon plaisir.