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Am Morgen erwachte Krafft erst durch Pauls Rufen. Er wollte aufspringen, war aber völlig gelähmt; er hatte die ganze Nacht gefroren und wie ein Hund zusammengerollt geschlafen. Als er endlich ein wenig zu sich kam, merkte er, daß Prokop fort war; eines der kleinen Schiffe ihrer Flottille schaukelte am Ufer. Es wurde ihm angst und bange um seinen Anführer. Am liebsten hätte er ihn gesucht, fürchtete sich jedoch, eine so gut ausgerüstete Festung zu verlassen. Er verbesserte daran, was noch zu verbessern war, und hielt mit kurzsichtigen Augen nach Prokop Ausschau.
Prokop, der, alle Glieder wie zerschlagen, mit einem schalen Geschmack im Mund, fiebergeschüttelt und etwas betäubt, erwacht war, saß schon lange im Park hoch oben im Wipfel einer alten Eiche, von wo man die ganze Schloßfront überblicken konnte. Er hielt sich an den Zweigen fest und hütete sich, gerade hinunterzusehen, da er sonst, vom Schwindel gepackt, abgestürzt wäre.
Diese Seite des Parkes galt offenbar als sicher; selbst die alten Verwandten wagten sich bis auf die Schloßtreppe, die Herren spazierten zu zweit oder dritt, eine ganze Kavalkade tummelte sich auf dem Hauptweg, und am Tor tat wieder der alte Pförtner Dienst. Nach zehn kam die Prinzessin in Begleitung des Thronfolgers und schlug die Richtung zum Japanischen Pavillon ein. In Prokop zuckte es, er glaubte, kopfüber hinunterzustürzen; krampfhaft hielt er sich an einem Ast fest, um dem Zittern zu begegnen. Niemand folgte ihnen; im Gegenteil, alle verließen eiligst den Park und versammelten sich nun wieder auf dem Platz vor dem Schlosse. Nun schien die entscheidende Unterredung stattzufinden. Es dauerte endlos lange, vielleicht eine Stunde, vielleicht fünf. Da sah man den Thronfolger, feuerrot im Gesicht und die Fäuste geballt, davoneilen. Die Herrschaften vor dem Schloß stoben auseinander und wichen zur Seite, als ob sie ihm Platz machten. Der Thronfolger lief, ohne nach links oder rechts zu sehen, die Treppe hinauf, wo ihm bereits Onkel Rohn barhäuptig entgegenkam. Sie sprachen eine Weile miteinander, le bon prince fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn, worauf beide verschwanden. Die Herrschaften vor dem Schloß bildeten kleine Gruppen, steckten die Köpfe zusammen und räumten dann endlich den Platz. Fünf Autos fuhren am Schlosse vor.
Prokop schwang sich aus der Eichenkrone an den Zweigen abwärts und sprang schwer auf die Erde auf. Er wollte zum Japanischen Pavillon laufen, vermochte aber kaum die Beine zu bewegen; er wankte wie durch einen dichten Nebel und suchte lange den Pavillon, denn die Dinge verschwammen vor seinen Augen und durchdrangen sich. Endlich war er da, sah die Prinzessin, wie sie mit strengen Lippen etwas vor sich hinmurmelte und dabei eine Gerte durch die Luft schwirren ließ. Er mußte alle Kräfte zusammennehmen, um halbwegs aufrecht vor sie hinzutreten. Sie erhob sich und schritt ihm entgegen: »Ich habe dich erwartet.« Er ging auf sie zu und stieß fast an sie an, denn er sah sie nur wie von weitem. Dann legte er ihr die Hand auf die Schulter, merkwürdig krampfhaft aufgerichtet und ein wenig schwankend, und bewegte die Lippen; er glaubte zu reden. Auch sie sagte etwas, doch es blieb unverständlich; alles spielte sich wie unter Wasser ab. Da heulten die Sirenen und Hupen der abfahrenden Autos auf.
Die Prinzessin zuckte zusammen. Prokop sah undeutlich ein bleiches Gesicht, in dem zwei dunkle Schlitze schwammen. »Es ist aus«, hörte er jetzt klar und nahe, »es ist aus. Lieber, Lieber, ich habe ihn fortgeschickt!« Wäre er seiner Sinne mächtig gewesen, dann hätte er sie gesehen: wie aus Elfenbein geschnitzt, von einer starren, qualvollen Schönheit auf der Höhe ihres Opfermuts. Aber er vermochte kaum die Lider zu bewegen, fühlte, wie eine ohnmächtige Schwäche darauf lastete, wie sich alles um ihn drehte und zuoberst zu kehren drohte. Auch die Prinzessin preßte die Hand gegen die Stirn und wankte; eben wollte sie sich seinen Armen anvertrauen, damit er sie, die von der überwältigenden Tat erschöpft war, stütze. Aber er kam ihr zuvor und stürzte lautlos zu ihren Füßen nieder; er war so körperlos zusammengesackt, als bestünde er nur aus Fetzen und Bandagen.
Dabei verlor er nicht das Bewußtsein, ließ die Augen umherirren, ohne zu begreifen, wo er sich befand und was mit ihm geschah. Ihm schien, als wolle man ihn aufheben; stöhnend wollte er nachhelfen, aber es ging nicht. »Das ist nur eine . . . Entropie«, sagte er; er glaubte, damit die Situation genügend erklärt zu haben, und wiederholte es mehreremal. Dann ergoß sich etwas mit dem Rauschen eines Wasserfalles in seinem Kopf. Der Kopf entglitt den bebenden Fingern der Prinzessin und schlug schwer auf den Boden auf. Sie fuhr wie von Sinnen in die Höhe und lief um Hilfe.
Er wußte von allem, was vorging, aber nur unklar. Er fühlte, wie ihn drei Mann aufhoben und ihn langsam, als wäre er aus Blei, davontrugen. Er hörte ihren schweren, schleifenden Schritt und ihren raschen Atem und wunderte sich, daß sie ihn nicht wie einen Lappen, nur mit den Fingerspitzen, anfaßten. Jemand hielt ihn die ganze Zeit über an der Hand; matt wandte er sich um und erkannte die Prinzessin. »Sie sind brav, Paul«, sagte er dankbar zu ihr. Nun entstand eine verwirrte, atemlose Drängerei. Sie trugen ihn die Treppe hinauf, Prokop aber schien es, als fielen sie mit ihm wirbelnd in die Tiefe. »Drängt nicht so«, murmelte er, doch da begann alles um ihn zu kreisen, bis er nichts mehr wahrnahm.
Als er die Augen öffnete, sah er sich wieder im Kavalierzimmer liegen und Paul an seinem Bett, der ihn mit aufgeregten Fingern entkleidete. Zu Häupten stand die Prinzessin mit riesengroßen Augen. Prokop dachte alles wirr durcheinander. »Bin ich vom Pferd gefallen?« brabbelte er mühsam. »Sie – Sie – Sie waren dabei? Bums, Ex-Ex-Explosion. Litrogly-Nitrogry-Mikro-Ce Ha zwei O En O zwei. Kom-pli-zier-te Fraktur.« Er verstummte, als er eine schmale kühle Hand auf seiner Stirn fühlte. Dann erblickte er den Metzger-Doktor und bohrte seine Nägel in irgend jemandes kalte Finger. »Ich will nicht«, stöhnte er aus Furcht, es werde schmerzen; aber der Metzger legte nur das Ohr an Prokops Brust und lastete, lastete wie ein Felsblock. In seinen Ängsten fand er über sich dunkle, weitaufgerissene Augen, die ihn bannten. Der Metzger richtete sich auf und sagte zu jemand im Hintergrund: »GriGrippepneumonie. Bringen Sie Ihre Hoheit fort, das ist ansteckend.« Jemand redete wie unter Wasser, und der Doktor antwortete: »Wenn Lungenödem eintritt, dann – dann –« Prokop begriff, daß er verloren war und sterben müsse, aber das ließ ihn ganz kalt. So einfach hatte er es sich nie vorgestellt. Er hegte nur einen Wunsch; Man möge ihn ausschlafen lassen, ehe es zu Ende ging; aber statt dessen wickelten sie ihn in etwas Kaltes, oh! Endlich flüsterten sie nur noch. Prokop schloß die Augen und wußte von nichts mehr.
Als er erwachte, standen zwei schwarze Herren an seinem Lager. Er fühlte sich ungemein erholt. »Guten Tag«, sagte er und wollte sich erheben. »Sie dürfen sich nicht rühren«, bemerkte einer der Herren und drückte ihn sanft ins Kissen zurück. Da lag er denn folgsam. »Aber es geht mir schon besser, nicht?« fragte er zufrieden. »Natürlich«, brummte der andere Herr zögernd, »nur nicht bewegen. Ruhe, verstanden?«
»Wo ist Holz?« fragte Prokop in plötzlicher Eingebung.
»Hier«, antwortete jemand. Es war Herr Holz zu Füßen des Bettes, mit einer mächtigen Kratzwunde und blauen Flecken im Gesicht, sonst aber hager und knochig wie immer. Hinter ihm, um Himmels willen, das war ja Krafft, der im Schwimmbad vergessene Krafft! Seine Augen waren angeschwollen und gerötet, als hätte er drei Tage geheult. Was war denn geschehen? Prokop lächelte ihm zur Aufmunterung zu. Auch Herr Paul kam auf den Zehenspitzen ans Bett und hielt sich die Serviette vor den Mund. Prokop freute sich, daß alle um ihn waren, und ließ die Blicke im Zimmer umherschweifen, bis er hinter den beiden schwarzen Herren die Prinzessin entdeckte. Sie war totenbleich und blickte Prokop mit scharfen, finsteren Augen an, die ihn unbegreiflich erschreckten. Sie sah einen der Herren an, der resigniert nickte. Dann trat sie ans Bett und fragte leise: »Fühlst du dich besser? Lieber, Lieber, fühlst du dich wirklich besser?«
»Ja«, antwortete er unsicher, ein wenig bedrückt durch das zurückhaltende Wesen aller. »Fast ganz gut, nur – nur . . .« Ihr unverwandter Blick verwirrte ihn und erfüllte ihn mit Bangigkeit; er fühlte sich wie unter einem Zwang.
»Hast du einen Wunsch?« fragte sie, sich über ihn beugend.
Ein seltsamer Schauer erfaßte ihn unter diesem Blick. »Schlafen«, flüsterte er, um ihm zu entgehen.
Sie sah die beiden Herren fragend an. Der eine nickte ein wenig und blickte sie dabei so – so merkwürdig ernst an. Sie begriff und wurde noch bleicher. »Schlaf denn«, brachte sie mit halberstickter Stimme hervor und wandte sich zur Wand. Prokop sah sich verwundert um. Paul hielt das Tuch vor den Mund, Holz stand stramm wie ein Soldat, nur ein wenig blinzelnd, Krafft dagegen, der am Schrank lehnte, heulte einfach drauflos.
»Was ist denn –«, entfuhr es Prokop, der sich erheben wollte. Aber einer der Herren legte ihm eine weiche, gute Hand auf die Stirn, unter deren begütigendem Druck er sich im Nu beruhigte und mit einem erleichterten Seufzer augenblicklich einschlief.
Er erwachte unter einer dünnen Schicht von Halbbewußtsein. Auf dem Nachttisch brannte eine kleine Lampe, neben dem Bett saß die Prinzessin, in Schwarz gekleidet, und blickte ihn mit glänzenden, behexenden Augen an. Er schloß rasch die Lider, um dem Blick, der ihm Angst machte, zu entgehen.
»Lieber, wie ist dir?«
»Wie spät ist es?« fragte er verworren.
»Zwei Uhr.«
»Nachts.«
»Schon«, wunderte er sich ohne Grund und wob weiter an dem dünnen Faden des Schlafes. Manchmal öffnete er halb die Lider, warf einen flüchtigen Blick auf die Prinzessin und schlief wieder ein: Warum sah sie ihn immer so an? Ab und zu befeuchtete sie ihm die Lippen mit einem Löffel Wein; er schluckte und murmelte etwas dabei. Schließlich verfiel er in einen dumpfen, bewußtlosen Schlaf.
Prokop erwachte erst dadurch, daß einer der schwarzen Herren seine Brust aufmerksam abhorchte. Fünf andere standen herum.
»Unglaublich«, brummte der schwarze Herr, »das ist ein stählernes Herz.«
»Muß ich sterben?« fragte Prokop ganz unvermittelt. Der schwarze Herr sprang auf vor Überraschung.
»Wenn Sie diese Nacht überlebt haben – Wie lange sind Sie damit herumgegangen?«
»Womit?« wollte Prokop wissen.
Der schwarze Herr winkte ab. »Ruhe«, sagte er, »nur Ruhe.«
Obwohl Prokop sich sehr elend fühlte, mußte er lächeln; wenn sich die Doktoren keinen Rat wissen, schreiben sie einem immer Ruhe vor. Aber der mit den guten Händen sagte: »Sie müssen daran glauben, daß Sie gesund werden. Der Glaube vollbringt Wunder.«