Karel Capek
Krakatit
Karel Capek

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35

Er hätte besser getan, an diesem Abend nicht zu kommen. Aber er kam gerade deshalb, weil sie es ihm verboten hatte. Onkel Charles war überaus freundlich zu ihm. Zum Unglück bemerkte er, wie sie einander bei einer ganz ungeeigneten und augenfälligen Gelegenheit die Hand drückten; er setzte sogar das Monokel auf, um besser sehen zu können. Da erst riß die Prinzessin, wie eine Schülerin errötend, ihre Hand los. Onkel Charles trat auf sie zu und flüsterte ihr, während er sie beiseite führte, etwas ins Ohr. Sie kehrte nicht mehr zurück. Rohn kam wieder, tat, als wenn nichts geschehen wäre, und unterhielt sich mit Prokop, wobei er ihn diskret ausforschte. Prokop hielt sich ungewöhnlich tapfer und verriet nichts; das beruhigte den lieben Onkel einigermaßen, wenn auch nicht der Sache, so doch der Form halber. »Man kann in Gesellschaft nicht vorsichtig genug sein«, bemerkte er am Ende, was sowohl ein Verweis als auch ein Ratschlag sein konnte. Prokop atmete erleichtert auf, als er ihn gleich darauf allein ließ und ihm so Gelegenheit gab, über die Reichweite seiner letzten Bemerkung nachzudenken.

Schlimmer war, daß sich allem Anschein nach etwas im geheimen vorbereitete; namentlich die älteren Verwandten platzten fast vor Wichtigtuerei.

Als Prokop am nächsten Morgen um das Schloß herumschlich, kam die Zofe atemlos zu ihm mit dem Auftrag, er möge im Birkenhain warten. Er wartete sehr lange. Endlich kam die Prinzessin mit den schönen langen Sprüngen einer Diana herbeigeeilt. »Verbirg dich«, flüsterte sie aufgeregt, »der Onkel ist hinter mir her.« Sie liefen, sich bei der Hand haltend, weiter und verschwanden im dichten Laub eines Holunderstrauches. Herr Holz, der sich vergebens nach einem Gebüsch umsah, legte sich aufopfernd in die Brennesseln. Da sah man auch schon Onkel Rohn in seinem hellen Hut: Er schien es eilig zu haben und spähte links und rechts. Die Augen der Prinzessin funkelten vor Freude wie die einer jungen Faunin. Im Gebüsch roch es nach Feuchtigkeit und Moder, das geheimnisvolle Insektenleben umspann Zweige und Blätter; man kam sich vor wie in einem Dschungel. Ohne abzuwarten, bis die Gefahr vorbei war, zog die Prinzessin Prokops Kopf an sich und kostete die Küsse, als ob es Ebereschen- und Hartriegelbeeren, bittere Lieblingsfrüchte, wären. Das war Locken, Spiel und Verwehren zugleich, eine so neue und überraschende Lust, als hätten sie sich zum erstenmal gesehen.

An diesem Tag kam sie nicht mehr zu ihm ins Laboratorium; außer sich und voll Verdächtigungen lief er zum Schloß. Sie ging gerade mit Egon eng umschlungen spazieren. Kaum hatte sie Prokop erblickt, ließ sie Egon stehen und eilte auf ihn zu; sie war blaß, niedergeschlagen und unterdrückte nur mühsam ihre Verzweiflung. »Onkel weiß bereits, daß ich bei dir war«, sagte sie. »Mein Gott, was soll nun werden? Ich glaube, man wird dich von hier fortbringen. Rühr dich jetzt nicht, er sieht uns aus dem Fenster zu. Er sprach nachmittags mit dem . . . mit dem . . .« Ein Zittern überlief sie. »Mit dem Direktor, du weißt schon! Sie haben gestritten. Der Onkel verlangte, man solle dich freilassen, dir Gelegenheit zur Flucht geben oder so ähnlich. Der Direktor tobte und wollte davon nichts hören. Man werde dich angeblich anderswo unterbringen . . . Lieber, sei in der Nacht hier, ich komme heraus zu dir, ich muß fliehen, ich bleibe nicht mehr –«

Sie kam wirklich atemlos herausgelaufen, ein trockenes, verzweifeltes Schluchzen unterdrückend. »Morgen, morgen«, stammelte sie. Da legte sich eine Hand schwer und begütigend auf ihre Schulter. Es war Onkel Rohn. »Geh ins Haus, Minni«, befahl er energisch. »Und Sie warten hier«, wandte er sich an Prokop. Dann legte er den Arm um die Schultern der Prinzessin und brachte sie heim. Eine Weile später kam er zurück und hängte sich bei Prokop ein. »Sehen Sie, mein Lieber«, begann er eher sanft und traurig, »ich begreife euch, junge Menschen, nur zu gut und . . . fühle mit euch.« Seine Hand vollführte eine hoffnungslose Gebärde. »Es ist etwas geschehen, was niemals hätte geschehen dürfen. Ich will und . . . und kann Sie deshalb nicht tadeln. Im Gegenteil, ich anerkenne, daß Sie . . . selbstverständlich . . .« Das war wohl eine schlechte Einleitung, und der gute Prinz suchte krampfhaft nach einer andern. »Ich schätze Sie, lieber Freund . . . ich habe Sie wirklich . . . sehr gern. Sie sind ein ehrenhafter und . . . genialer Mensch, was man selten vereint findet. Ich habe nur zu wenigen Menschen eine solche Sympathie gefaßt wie zu Ihnen – Ich weiß, Sie werden es sehr, sehr weit bringen«, sagte er und atmete erleichtert auf. »Glauben Sie mir, daß ich es gut mit Ihnen meine?«

»Durchaus nicht«, erwiderte Prokop friedlich; er hütete sich, in die Falle zu gehen.

Der gute Onkel war verwirrt. »Das tut mir leid, außerordentlich leid«, stotterte er. »Zu dem, was ich Ihnen sagen wollte, wäre nun ja – vollkommenes gegenseitiges Vertrauen nötig.«

»Mein Prinz«, unterbrach ihn Prokop höflich, »wie Ihnen bekannt ist, befinde ich mich hier in der nicht gerade beneidenswerten Lage eines unfreien Menschen. Ich glaube, unter diesen Umständen habe ich keinen Grund, allzusehr zu vertrauen –«

»N . . . nun ja«, meinte Onkel Rohn aufatmend und erfreut über die Wendung des Gesprächs. »Sie haben ganz recht. Sie stoßen überall auf die – äh, peinliche Tatsache, daß Sie bewacht werden. Gerade darüber wollte ich mit Ihnen sprechen. Lieber Freund, was mich betrifft . . . Kurz, ich habe von allem Anfang und . . . ganz energisch die Art, wie man Sie hier im Werk festhält, verurteilt. Das ist ungesetzlich, brutal und . . . mit Rücksicht auf Ihren Ruf als Gelehrter geradezu unerhört. Ich habe eine Reihe Schritte unternommen . . . früher schon«, fügte er rasch hinzu. »Ich habe sogar höheren Orts interveniert, aber . . . die Behörden sind in Anbetracht der internationalen Spannungen einigermaßen nervös. Sie stehen hier unter Spionageverdacht. Da läßt sich nichts tun, außer –«, der Prinz neigte sich zu Prokops Ohr, »außer, es gelingt Ihnen zu fliehen. Vertrauen Sie mir, ich verschaffe Ihnen die Möglichkeit. Ehrenwort.«

»Was für eine Möglichkeit?« erkundigte sich Prokop unverbindlich.

»Ich . . . nehme es einfach auf mich. Ich bringe Sie in meinem Auto hinaus – mich kann man nicht aufhalten, Sie verstehen? Alles übrige später. Wann sind Sie bereit?«

»Verzeihen Sie, aber – ich will ja gar nicht«, antwortete Prokop fest.

»Warum nicht?« entfuhr es Onkel Charles.

»Erstens . . . möchte ich nicht, daß Sie, mon prince, ein solches Risiko auf sich nehmen. Eine Persönlichkeit wie Sie –«

»Und zweitens?«

»Zweitens . . . beginnt es mir hier zu gefallen.«

»Und weiter, weiter?«

»Nichts weiter«, sagte Prokop lächelnd und hielt dem forschenden, ernsten Blick des Prinzen stand.

»Dann hören Sie zu«, ließ sich oncle Rohn nach einer Weile vernehmen. »Ich wollte es Ihnen nicht sagen. Es handelt sich darum, daß Sie in ein, zwei Tagen anderswohin gebracht werden sollen, auf eine Festung. Immer unter dem Verdacht der Spionage. Sie können sich nicht vorstellen – Mein lieber Freund, fliehen Sie, fliehen Sie rasch, solange es Zeit ist!«

»Ist das wahr?«

»Ganz bestimmt.«

»Dann . . . dann danke ich Ihnen, daß Sie mich rechtzeitig gewarnt haben.«

»Was werden Sie tun?«

»Ich werde mich darauf vorbereiten«, antwortete Prokop grimmig. »Mon prince, machen Sie die Herren darauf aufmerksam, daß das . . . nicht so leicht . . . gehen wird.«

»Was – wie – wieso, bitte?« stotterte oncle Charles.

Prokop warf etwas Imaginäres vor sich in die Luft und machte dann eine unmißverständliche Handbewegung.

Onkel Rohn war starr. »Sie wollen sich wehren?«

Prokop schwieg; er stand da mit düsterem Gesicht, die Hände in den Hosentaschen, und überlegte.

Oncle Charles, der sich in der nächtlichen Dunkelheit alt und gebrechlich ausnahm, trat näher. »Sie . . . Sie lieben sie so sehr?« sagte er fast stotternd vor Rührung oder Bewunderung.

Prokop antwortete nicht. »Sie lieben sie«, wiederholte Rohn und umarmte ihn. »Seien Sie stark. Verlassen Sie sie, reisen Sie ab! Begreifen Sie doch, es kann nicht so bleiben! Begreifen Sie doch! Wohin sollte das führen? Um Gottes willen, haben Sie ein Erbarmen mit ihr, bewahren Sie sie vor einem Skandal! Glauben Sie denn wirklich, sie könnte Ihre Frau werden? Vielleicht liebt sie Sie, aber – sie ist viel zu stolz, um auf den Titel einer Prinzessin zu verzichten . . . Oh, das ist unmöglich, unmöglich! Ich will nicht wissen, was zwischen euch beiden vorgefallen ist! Reisen Sie ab, noch diese Nacht! Im Namen der Liebe, reisen Sie ab, mein Freund; ich beschwöre dich, ich flehe dich an, in ihrem Namen flehe ich dich an. Du hast sie zur glücklichsten Frau gemacht, genügt dir das nicht? Beschütze du sie, wenn sie sich schon nicht selbst beschützen kann! Du liebst sie? Also opfere dich!«

Prokop stand da, reglos, die Stirn gesenkt wie ein Widder. Le bon prince fühlte, wie dieser dunkle, grobe Klotz sich im Innern spaltete und vor Schmerz wand. Mitleid krampfte ihm das Herz zusammen, aber noch hielt er eine Waffe bereit; es ließ ihm keine Ruhe, er mußte damit herausrücken.

»Sie ist stolz, fantastisch, wahnsinnig ehrgeizig; von Kindheit an war sie so. Nun wurden uns Dokumente unermeßlichen Wertes eingehändigt; sie ist eine Fürstin, jedem Herrschergeschlecht ebenbürtig. Du kannst nicht begreifen, was das für sie bedeutet. Für sie und für uns. Vielleicht sind das Vorurteile, aber . . . wir leben darin. Prokop, die Prinzessin wird heiraten, einen Thronfolger ohne Land. Er ist ein braver, passiver Mensch, aber sie, sie wird um die Krone kämpfen; denn Kämpfen ist ihr Charakter, ihre Sendung, ihr Stolz – Nun eröffnet sich ihr, wovon sie geträumt hat. Nur du stehst noch zwischen ihr und . . . ihrer Zukunft. Sie hat sich entschieden, quält sich aber mit Gewissensbissen –«

»Ach so«, schrie Prokop, »so ist das? Und – du glaubst, ich trete zurück? Nein, mein Lieber!«

Und ehe sich oncle Rohn besinnen konnte, war Prokop im Dunkel verschwunden und rannte zum Laboratorium. Der schweigsame Herr Holz hinter ihm her.


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