Karel Capek
Krakatit
Karel Capek

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19

Tags darauf erwachte Prokop mit schwerem, dumpfem Schädel und vermochte sich anfangs nicht zu besinnen, wo er sich hier eigentlich befand. Er erwartete, das Gackern der Hennen oder Hansis lautes Gebell zu vernehmen. Langsam dämmerte ihm, daß er nicht mehr in Teinitz war, daß er in einem Hotel lag, wohin ihn Herr Carson als sinnlos Betrunkenen und wie am Spieß Brüllenden hatte bringen lassen. Erst als er sich den kalten Wasserstrahl über den Kopf rinnen ließ, erinnerte er sich an gestern und wäre vor Schmach am liebsten versunken.

Sie hatten schon beim Mittagessen getrunken, aber nur so viel, daß sie beide sehr rot im Gesicht waren; nachher fuhren sie im Auto ein wenig spazieren, um die Köpfe auszulüften. Prokop redete ununterbrochen, während Herr Carson an seiner Zigarre kaute und immerzu nickte. »Aus Ihnen wird noch ein big man.« Dieses ›big man, big man‹ hallte in Prokops Kopf wie eine Glocke wider. Wenn sie ihn so sehen könnte . . . die Gewisse mit dem Schleier! Er blähte sich förmlich auf vor Carson; doch der nickte nur immerzu wie ein Mandarin und schürte Prokops unmäßigen Stolz nur noch mehr. Ein Wunder, daß Prokop vor Eifer nicht aus dem Wagen fiel. Er quasselte, wie er sich ein Weltinstitut für destruktive Chemie vorstelle, was er über Sozialismus, die Ehe und die Erziehung der Kinder denke und ähnlichen Unsinn. Aber erst am Abend begann es so richtig. Wo sie überall getrunken hatten, wußte er nicht mehr. Es war abscheulich. Carson mit rotem, glänzendem Gesicht, den Hut bis über die Ohren, zahlte für Bekannte und Unbekannte. Irgendwelche Mädchen tanzten, jemand schmiß ein Glas in Scherben, und Prokop beichtete schluchzend Carson seine qualvolle Liebe zu der einen, der Unbekannten.

Dann hatten sie den grölenden ›Krakatit‹ ins Auto gesetzt. Weiß der Kuckuck, wohin sie ihn bringen wollten! Sie rasten auf endlosen Straßen dahin; neben Prokop hüpfte ein rotes Flämmchen auf und nieder – das war wohl Herr Carson mit seiner Zigarre. Er rülpste ab und zu und trieb immer wieder zur Eile an: »Tempo, Bob, Tempo!« Plötzlich kamen ihnen in einer Straßenbiegung zwei grelle Lichter entgegen. Stimmen schrien auf, das Auto wurde zur Seite geschleudert, Prokop flog vornüber ins Gras, wodurch er so weit zur Besinnung kam, daß er wahrzunehmen begann. Irgendwelche Stimmen stritten wütend und warfen einander Trunkenheit vor, Herr Carson fluchte fürchterlich und schrie: »Wir müssen zurück!«, worauf man Prokop als den am schwersten Verwundeten so behutsam wie nur möglich in das andere Auto lud. Herr Carson setzte sich zu ihm, und schon fuhr man zurück, während Bob bei dem verunglückten Wagen blieb. Auf dem halben Wege begann der Schwerverwundete zu singen und zu grölen, und ehe sie die Stadt erreichten, verspürte er neuerlich Durst. Sie mußten mit ihm noch einige Bars besuchen, bevor er endgültig zum Schweigen gebracht war.

Angewidert betrachtete Prokop jetzt sein entstelltes Gesicht im Spiegel. In dieser peinlichen Betrachtung wurde er durch den Hotelportier gestört, der ihm – unter gebührenden Entschuldigungen – den Anmeldeschein zum Ausfüllen brachte. Prokop setzte seine Daten ein und hielt die Sache für erledigt. Kaum aber hatte der Portier Namen und Beruf gelesen, als er Prokop lebhaft und eindringlich bat, jetzt nicht auszugehen: Ein Herr aus dem Ausland hätte gebeten, ihn sofort zu verständigen, falls Herr Ing. Prokop in dem Hotel absteigen sollte. Wenn Herr Ingenieur also gestatten und so weiter . . . Der Herr Ingenieur war so wütend über sich selbst, daß er sogar eingewilligt hätte, sich den Kopf abschneiden zu lassen. Er setzte sich also hin und wartete ergeben, von starken Kopfschmerzen gepeinigt.

Eine Viertelstunde später erschien der Portier wieder und übergab ihm eine Besuchskarte. Darauf stand:

Sir Reginald Carson

Col. B. A., M. R. A., M. P., D. S. etc. President of Marconi's Wireless Co.

LONDON

»Ich lasse bitten«, sagte Prokop und konnte sich nicht genug wundern, warum ihm dieser Carson nicht schon gestern seinen fantastischen Rang und Titel genannt hatte und warum er heute so viel Umstände machte. Außerdem war er ein wenig neugierig, wie Herr Carson nach der tollen Nacht von gestern aussehen würde. Da riß er auch schon die Augen auf. Ein ihm ganz unbekannter Herr war eingetreten, der um einen guten Kopf größer war als der gestrige Herr Carson.

»Very glad to see you«, ließ sich der unbekannte Gentleman vernehmen und verbeugte sich, als wäre er eine Telegrafenstange. »Sir Reginald Carson«, stellte er sich vor und blickte sich nach einem Stuhl um.

Prokop gab einen unbestimmten Laut von sich und wies auf einen Stuhl. Der Gentleman setzte sich kerzengerade hin und fing umständlich an, sich seiner prachtvollen Wildlederhandschuhe zu entledigen. Er war ein langer, ungemein ernst aussehender Herr mit einem in strenge Falten gelegten Pferdegesicht. In der Krawatte stak ein riesiger indischer Opal, an einer Goldkette baumelte eine antike Kamee, und die überdimensionierten Füße waren die eines Golfspielers, kurz: jeder Zoll ein Lord. Prokop staunte zutiefst. »Bitte«, sagte er schließlich, als das Schweigen kein Ende nehmen wollte.

Der Gentleman hatte es durchaus nicht eilig. »Sie waren«, begann er auf englisch, »Sie waren gewiß erstaunt, meine Anzeige in den Zeitungen zu finden. Ich setze voraus, daß Sie Ingenieur Prokop sind, der Autor, eh, einiger interessanter Artikel über Explosivstoffe.«

Prokop nickte.

»Sehr angenehm«, sagte Sir Carson durchaus nicht eilig. »Ich habe in einer bestimmten Angelegenheit nach Ihnen geforscht, die wissenschaftlich sehr interessant und praktisch von Bedeutung ist sowohl für unsere Gesellschaft, die Marconi's Wireless, deren Präsident ich zu sein die Ehre habe, als auch nicht minder für die Internationale Union für drahtlose Telegrafie, die mir die unverdiente Ehre erwiesen hat, mich zu ihrem Generalsekretär zu ernennen. Sie werden sich gewiß wundern«, fuhr er fort, ohne durch den langen Satz atemlos zu sein, »daß diese bedeutenden Gesellschaften mich zu Ihnen entsandt haben, obgleich sich Ihre Arbeiten auf ganz anderem Gebiete bewegen. Sie gestatten.« Nach diesen Worten öffnete Sir Carson seine krokodillederne Aktentasche und entnahm ihr einige Papiere, einen Vormerkblock und einen goldenen Bleistift.

»Seit etwa einem dreiviertel Jahre«, begann er langsam, während er sich seinen Goldkneifer aufsetzte, um in den Papieren nachzusehen, »konstatieren die europäischen Radiostationen –«

»Verzeihen Sie«, unterbrach ihn Prokop, der sich nicht mehr länger beherrschen konnte, »diese Anzeigen stammen also von Ihnen?«

»Sehr wohl. . . konstatieren also gewisse regelmäßige Störungserscheinungen –«

»An Dienstagen und Freitagen, ich weiß. Wer hat Ihnen von Krakatit erzählt?«

»Ich wäre von selbst darauf zu sprechen gekommen«, bemerkte der ehrenwerte Lord etwas vorwurfsvoll. »Well, überspringen wir die näheren Einzelheiten in der Voraussetzung, daß Sie bis zu einem gewissen Maße informiert sind über unsere Schwierigkeiten und über, eh, und –«

»– die geheime Weltverschwörung.«

Sir Carson riß die wasserblauen Augen auf. »Verzeihen Sie, bitte, was für eine Verschwörung?«

»Nun, die geheimnisvollen nächtlichen Depeschen und die Geheimorganisation, die sie aussendet –«

Sir Reginald Carson unterbrach ihn. »Fantasien«, sagte er bedauernd, »nichts als Fantasien. Ich weiß, sogar die ›Daily News‹ haben solches angedeutet, als unsere Gesellschaft eine verhältnismäßig hohe Belohnung ausschrieb –«

»Kenne ich«, sagte Prokop rasch, aus Besorgnis, der langsame Lord könnte nun davon zu reden beginnen.

»Ja. Nichts als Fantasie. Die ganze Sache hat lediglich geschäftlichen Hintergrund. Irgend jemand hat Interesse daran, die Unzuverlässigkeit unserer Stationen zu beweisen, Sie verstehen? Leider vermögen unsere Rezeptoren und – eh – Kohärer nicht die besondere Art von Wellen festzustellen, mit deren Hilfe diese Störungen herbeigeführt werden. Da wir Nachrichten erhalten haben, daß Sie eine Substanz oder Chemikalie besitzen, die sehr, sehr bemerkenswert auf jene Störungen reagiert –«

»Von wem haben Sie diese Nachrichten?«

»Von Ihrem Mitarbeiter, Herrn – eh – Herrn Tomesch. Mister Tomesch, stimmt es?« Der langsame Gentleman suchte unter seinen Papieren einen Brief. »Dear Sir«, las er mit einiger Anstrengung, »ich finde in den Zeitungen die Ausschreibung einer Belohnung usw. Da ich derzeit Balttin, wo ich an einer Erfindung arbeite, nicht verlassen kann und sich andererseits eine Angelegenheit von solcher Tragweite unmöglich schriftlich erledigen läßt, bitte ich, meinen Freund und langjährigen Mitarbeiter Mr. Ing. Prokop in Prag ausforschen zu lassen, der einen neu erfundenen Stoff, Krakatit genannt, besitzt, das Tetrargon eines bestimmten Bleisalzes, dessen Synthese unter spezifischen Einwirkungen von Hochfrequenzstrom hergestellt wird. Krakatit reagiert, wie genaue Versuche beweisen, auf die unbekannten Störwellen mit starker Explosion; woraus sich von selbst die entscheidende Bedeutung dieses Stoffes zur Erforschung der genannten Wellen ergibt. Mit Rücksicht auf die Wichtigkeit dieser Sache setze ich in meinem und im Namen meines Freundes voraus, daß die ausgeschriebene Belohnung entsprechend er-erhö- . . .« Sir Carson hüstelte. »Das wäre so ziemlich alles«, sagte er. »Bezüglich der Belohnung wäre ein separates Übereinkommen zu treffen. Unterschrift: Mr. Tomesch, Balttin.«

»Hm«, meinte Prokop, dem ein ernster Verdacht aufstieg, »daß eine so private – unzuverlässige – fantastische Nachricht der Marconi–Gesellschaft genügen sollte, um –«

»Beg your pardon«, wandte der lange Herr ein, »es sind uns natürlich sehr genaue Berichte über gewisse Versuche in Balttin zugegangen –«

»Aha. Von einem sächsischen Laboranten?«

»Nein. Von unserem eigenen Vertreter. Ich lese es Ihnen gleich vor.« Sir Carson kramte wieder in seinen Papieren. »Ja, da ist es. ›Dear Sir, den hiesigen Stationen ist es bisher nicht gelungen, die bekannten Störungen zu beseitigen. Versuche mit erhöhten Sendeenergien versagten vollständig. Ich erhielt die vertrauliche und zuverlässige Nachricht, daß das Militärinstitut in Balttin ein Quantum eines gewissen Stoffes erworben hat –‹«

Es klopfte. »Herein!« sagte Prokop. Der Kellner brachte eine Besuchskarte. »Ein Herr läßt bitten –«

Auf der Karte stand:

Ing. Carson

Balttin

»Der Herr möge hereinkommen«, sagte Prokop nun sehr aufgeräumt, wobei er die Zeichen des Protestes von Seiten Sir Carsons geflissentlich übersah.

Gleich darauf trat Herr Carson mit fahlem, unausgeschlafenem Gesicht ein und eilte, seiner Freude laut Ausdruck gebend, auf Prokop zu.


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