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»Ich muß methodisch vorgehen«, überlegte Prokop. Nach langen Erwägungen und den merkwürdigsten Einfällen legte er sich einen richtigen Plan zurecht.
Zunächst ließ er täglich in allen größeren Zeitungen folgende Anzeige erscheinen: »Herr Tomesch. Übermittler mit verwundeter Hand bittet Dame in Schleier um Adressenangabe. Sehr dringend. Unter ›40.000‹ a. d. Adm. d. Bl.« Diese Formulierung schien ihm sehr klug. Es war zwar unsicher, ob eine junge Dame überhaupt Zeitungen und insbesondere den Anzeigenteil liest, aber wer weiß? Der Zufall ist mächtig. Statt des Zufalls ergaben sich Umstände, die zwar vorauszusehen waren, mit denen Prokop jedoch nicht gerechnet hatte. Unter der angegebenen Chiffre liefen eine Menge Briefe ein, in der Mehrzahl Rechnungen, Mahnungen, Drohungen und Grobheiten an die Adresse des verschollenen Tomesch. Außerdem lungerte in der Anzeigenverwaltung ein mageres Individuum herum, das auf Prokop zutrat, als er die eingegangenen Briefe abholen wollte, und fragte ihn, wo Georg Tomesch wohne. Prokop fuhr ihn so grob an, wie es die Umstände nur erlaubten, doch da zückte der magere Herr einen Polizeiausweis und forderte Prokop nachdrücklichst auf, keine Dummheiten zu machen. Es handle sich nämlich um eine Unterschlagung und andere höchst unangenehme Dinge. Prokop gelang es, den mageren Herrn zu überzeugen, daß er selbst außerordentlich daran interessiert sei, den Aufenthaltsort des Herrn Tomesch zu erfahren. Doch hatte sich nach diesem Vorfall und nach dem Studium der eingelaufenen Briefschaften sein Vertrauen in den Erfolg der Anzeigen stark vermindert. Tatsächlich langten auf weitere Anzeigen immer spärlichere, aber um so drohendere Antworten ein.
Er besuchte ein privates Detektivinstitut und erklärte dort, er suche ein unbekanntes Mädchen mit Schleier, wobei er sich bemühte, eine Beschreibung von ihr zu geben. Man war zwar gern bereit, diskrete Informationen über sie einzuholen, falls Prokop ihre Anschrift oder ihren Namen angeben könne. Also zog er auch da unverrichteter Dinge ab.
Da kam ihm ein genialer Einfall. In dem unglückseligen Briefumschlag, den er Tag und Nacht bei sich trug, waren – neben kleineren Banknoten – dreißig Tausender, mit einer Schleife versehen, wie es in Banken beim Auszahlen größerer Beträge üblich ist. Der Name der Bank war zwar nicht angegeben, aber es war mehr als wahrscheinlich, daß das Mädchen den Betrag in einem Geldinstitut an demselben Tag behoben hatte, an dem er, Prokop, nach Teinitz gefahren war. Er brauchte also nur das genaue Datum herauszufinden, damit alle Banken abzulaufen und zu bitten, ihm den Namen der Person bekanntzugeben, die an diesem Tag dreißigtausend oder etwas mehr abgehoben hatte. Aber wie das genaue Datum feststellen?
Unter krampfhaftem Nachdenken versuchte er, sich zu erinnern oder zu errechnen, wann das ungefähr gewesen sein mochte. Aber jede Berechnung versagte, da er nicht wußte, wie lange er krank gelegen hatte. Richtig, aber die Tomeschs in Teinitz mußten doch wissen, wann er bei ihnen aufgetaucht war! Berauscht von dieser Hoffnung, telegrafierte er dem alten Doktor Tomesch: ›Dringdrahtet Datum meiner Ankunft in Teinitz. Prokop.‹ Kaum hatte er das Telegramm abgeschickt, als er es auch schon wieder bereute; er fühlte geradezu brennend, wie häßlich er sich ihnen gegenüber benommen hatte. Schon wollte er diesen Plan aufgeben, da fiel ihm ein: Vielleicht kann sich die Hausbesorgerin in Tomeschs Haus an jenen Tag erinnern! Er eilte hin; aber sie behauptete, es sei an einem Sonnabend gewesen. Prokop war verzweifelt. Da kam ein Brief, mit den großen, sorgfältigen Buchstaben einer Musterschülerin geschrieben. Prokop erfuhr daraus, daß er an dem und dem Tag nach Teinitz gekommen sei. (›Der Vater darf nicht wissen, daß ich Ihnen geschrieben habe.‹) Nichts mehr. Unterschrift: Anni. Trotz allem schmerzten ihn diese zwei Zeilen.
Mit dem glücklich beschafften Datum ging er in die nächste Bank: Ob man ihm Auskunft geben könne, wer an dem und dem Tag hier in der Bank dreißigtausend behoben habe. Man schüttelte die Köpfe; das sei weder Brauch noch erlaubt. Als man aber seine Enttäuschung merkte, gab es eine längere Beratung, und dann fragte man ihn, ob das Geld von einem Einlagebuch, von laufender Rechnung, mittels Schecks oder Akkreditivs zur Auszahlung gelangt sei. Prokop wußte das natürlich nicht. Und als er schließlich gestand, durchaus nicht sicher zu sein, ob das Geld von dieser oder einer anderen Bank abgehoben worden war, da lachte man ihn aus und fragte ihn, ob er damit sämtliche zweihundertfünfzig oder mehr Geldinstitute, Filialen und Wechselstuben der Stadt ablaufen wolle. So hatte also auch dieser geniale Einfall völlig versagt.
Blieb noch die letzte Möglichkeit – ihr zufällig zu begegnen. Auch diesem Zufall versuchte Prokop mit Methode beizukommen. Er teilte den Stadtplan in Sektoren ein und durchforschte einen Abschnitt nach dem andern, indem er von früh bis spät auf den Beinen war. Eines Tages errechnete er, wie vielen Menschen er täglich begegnete, und kam auf eine Zahl von fast vierzigtausend. Unter Berücksichtigung der Einwohnerzahl der Hauptstadt betrug die Wahrscheinlichkeit, die Gesuchte zu finden, eins zu zwölf. Aber selbst das bedeutete für ihn schon eine große Hoffnung. Da gab es Gassen und Plätze, die von vornherein würdig genug schienen, daß sie hier wohnen oder vorbeikommen könnte; Gassen mit blühenden Akazienbäumen, ehrwürdige alte Plätze, heimliche Winkel eines tiefen, ernsten Lebens. Und dann schien es wieder ganz und gar unmöglich, sie in dieser lärmenden, düsteren Straße zu finden, wo es nur eilige Menschen gab, oder in der rechtwinkligen Nüchternheit charakterloser Mietshäuser. Aber vielleicht wohnte sie gerade hinter diesen großen Spiegelscheiben, hinter denen eine schlichte und zarte Stille den Atem anhielt? Er irrte wie im Traume umher und wunderte sich, was es in dieser Stadt, in der er so viele Jahre gelebt hatte, zu entdecken gab: alte schöne Plätze, wo sich das Leben friedlich und gereift abspielte und dem betriebsamen Menschen lockend zuzurufen schien: Beschränke dich, beschränke dich!
Unzählige Male lief Prokop jungen Frauen nach, die ihm aus der Ferne, weiß der Himmel wodurch, derjenigen zu gleichen schienen, die er nur zweimal gesehen hatte. Mit wild klopfendem Herzen lief er ihnen nach: wenn sie es wäre! O seltsame Ahnung: Immer waren es unbekannte, aber schöne und traurige Frauen, in sich verschlossen und beschirmt von einer rätselhaften Unzugänglichkeit. Einmal war er fast sicher, sie vor sich zu sehen. Da stieg die Betreffende in die Straßenbahn ein und fuhr davon. Drei Tage lang hütete er jene Haltestelle; aber er sah die Gestalt nie wieder.
Am schlimmsten waren die Abende, wenn er, todmüde, neue Pläne auszuhecken versuchte. Niemals wird er es aufgeben, sie zu suchen; er war ein Besessener, ein Süchtiger, ein Narr. Je mehr sie ihm enteilte, um so stärker wurde es: es war . . . einfach . . . Schicksal –
Einmal erwachte er mitten in der Nacht; da wurde ihm unwiderleglich klar, daß er sie auf diese Weise niemals finden werde. Er mußte Georg Tomesch auffinden, der von ihr wußte. Er zog sich an und vermochte kaum den Morgen zu erwarten. Auf die unbegreiflichen Schwierigkeiten und Verzögerungen bei der Besorgung des Passes war er freilich nicht vorbereitet. Er begriff nicht einmal, was man alles von ihm wollte, wütete und bangte in fieberhafter Ungeduld. Endlich, endlich, eines Nachts brachte ihn der D-Zug über die Grenze. Vorerst nach Balttin.
Jetzt mußte es sich entscheiden, fühlte Prokop.