Karel Capek
Krakatit
Karel Capek

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13

Doktor Tomesch saß schnaufend und brummend am Frühstückstisch; er warf prüfende und unzufriedene Blicke auf Anni. Sie hockte reglos da, aß nichts, trank nichts und wollte es nicht wahrhaben: Prokop war immer noch nicht hier. Ihre Lippen bewegten sich unruhig. Da trat Prokop überflüssig energisch ins Zimmer; er war blaß und setzte sich nicht einmal, so eilig hatte er es. Er grüßte kaum, sah flüchtig nach Anni, als wäre sie ihm fremd, und fragte mit auffälliger Ungeduld: »Wo ist denn Ihr Georg jetzt?«

Der Doktor drehte sich erstaunt um: »Wie?«

»Wo ist denn Ihr Sohn jetzt?« fragte Prokop fast drohend.

»Keine Ahnung«, brummte der Doktor. »Ich will von ihm nichts wissen.«

»Ist er in der Stadt?« drängte Prokop und ballte die Fäuste. Der Doktor schwieg; etwas begann heftig in ihm zu arbeiten.

»Ich muß mit ihm sprechen«, sagte Prokop mit verhaltener Wut. »Ich muß, verstanden? Ich muß zu ihm, jetzt, gleich jetzt! Wo ist er?«

Der Doktor preßte die Zähne aufeinander, stand auf und ging zur Tür.

»Wo ist er? Wo wohnt er?«

»Ich weiß es nicht!« schrie der Doktor aufgebracht und schmetterte die Tür hinter sich zu.

Prokop wandte sich an Anni. Sie saß da wie versteinert und sah mit großen Augen ins Leere.

»Anni«, stammelte Prokop wie im Fieber, »Sie müssen mir sagen, wo Georg ist. Ich . . . ich . . . muß zu ihm. Es handelt sich nämlich . . . um eine Sache . . . um mehrere Sachen . . . Ich . . . Lesen Sie das hier«, sagte er rasch und hielt ihr das zerknitterte Stück Zeitung unter die Nase. Anni sah nichts als ein paar Kreise.

»Das ist meine Erfindung«, erklärte er nervös. »Man sucht mich, ein gewisser Carson – Wo ist Georg?«

»Wir wissen es nicht«, flüsterte Anni. »Seit . . . seit zwei Jahren hat es uns nicht mehr geschrieben –«

»Ach!« entfuhr es Prokop; er zerknüllte wutentbrannt die Zeitung. Die Augen des Mädchens wurden immer größer; zwischen ihren halbgeöffneten Lippen atmete etwas verworren Klägliches.

Prokop wäre am liebsten in die Erde versunken. »Anni«, sagte er und versuchte, die qualvolle Stille zu verscheuchen, »ich komme zurück. In . . . in ein paar Tagen . . . Es handelt sich wirklich um eine sehr ernste Sache. Man . . . muß doch schließlich . . . an seinen Beruf denken. Man hat auch gewisse . . . gewisse Verpflichtungen . . .« (Himmel, das war mißglückt!) »Sie werden begreifen, daß . . . Ich muß ganz einfach«, begann er plötzlich zu schreien, »eher sterbe ich, als daß ich nicht fahre. So verstehen Sie mich doch!«

Anni nickte nur schwach. Ach, hätte sie stärker genickt, dann wäre ihr Kopf laut weinend auf die Tischplatte gesunken; so aber füllten sich nur ihre Augen mit Tränen.

»Anni«, begann Prokop wieder voll verzweifelter Verlegenheit, während er sich zur Tür rettete, »ich werde mich erst gar nicht verabschieden. Es lohnt sich nicht; in einer Woche, in einem Monat bin ich wieder zurück . . . So sehen Sie mich doch an –« Aber Anni war außerstande, etwas zu sehen; sie saß nur stumpf da mit herabhängenden Armen, die Augen verdunkelt von inneren Tränen: ein jammervoller Anblick. »Anni«, versuchte es Prokop noch einmal, ließ es aber gleich wieder sein. Der letzte Augenblick in der Tür schien ihm endlos; er fühlte, er müßte noch etwas sagen, brachte aber nur mit Mühe sein »Wiedersehen!« hervor und verschwang kläglich.

Wie ein Dieb schlich er auf den Zehenspitzen aus dem Hause. Vor der Haustür stutzte er wie einer, der etwas vergessen hat, und kehrte leise in die Küche zurück. Nanni war zum Glück nicht da. ›. . .ATIT! . . . Adresse angeben. Carson. Hauptpostlg.‹ Das stand auf einem Stück Zeitung, das sich die fröhliche Nanni in Zackenform für ein Geschirrbrett zurechtgeschnitten hatte. Dorthin legte er eine Handvoll Geld für alle ihre Dienste und verschwand.

Prokop, Prokop, so handelt kein Mensch, der in einer Woche wiederkehren will!

*

Der Zug skandierte seinen Schienenrhythmus. Doch der menschlichen Ungeduld genügte nicht einmal mehr die ratternde, polternde Hast; die menschliche Ungeduld wand sich verzweifelt, zückte andauernd die Taschenuhr und trat nervös von einem Fuß auf den andern. Eins, zwei, drei, vier: Telegrafenstangen, Bäume, Felder, Bäume, ein Bahnwärterhaus, Bäume, ein Flußufer, ein Zaun, Felder. Elf Uhr siebzehn. Rübenfelder, Weiber mit blauen Schürzen, ein Haus, ein kleiner Hund, der in seinem Eigensinn den Zug überholen wollte, Felder, Felder, Felder. Elf Uhr siebzehn. Steht denn die Zeit still?

Prokop fuhr auf. KRAKATIT, stach es ihm in die Augen, daß er erschrak. Wo war das? Ach ja, der Mann gegenüber las die Zeitung, und auf der Rückseite war wieder jene Anzeige. ›KRAKATIT! Ing. P. soll seine Adresse bekanntgeben. Carson. Hauptpostlg.‹ Dieser Herr Carson soll mich in Frieden lassen, dachte Ing. P. Aber auf der nächsten Station kaufte er sämtliche Zeitungen, die zu haben waren. Es stand in allen, und in allen dasselbe: KRAKATIT! Ing. P. soll . . . Das ist eine förmliche Hetzjagd nach mir! dachte Ing. P. Wozu brauchen sie mich noch, wenn es ihnen Tomesch schon verkauft hat?

Statt dieses Rätsel zu lösen, blickte er um sich, ob er nicht beobachtet würde, und zog, wohl schon zum hundertstenmal, einen zerrissenen Briefumschlag hervor. Reichlich umständlich entnahm er nach längerem Abwägen und Umwenden dem prall mit Geld gefüllten Kuvert jenen Brief, jenen wertvollen, mit einer reifen, energischen Handschrift geschriebenen Brief. ›Herr Tomesch‹, las er wieder begierig, ›ich tue dies nicht Ihretwegen, sondern meiner Schwester zuliebe. Sie ist wie von Sinnen, seit Sie ihr den schrecklichen Brief geschrieben haben. Sie wollte alle ihre Kleider und ihren Schmuck verkaufen, um Ihnen Geld zu schicken. Ich mußte sie gewaltsam hindern, etwas zu tun, was sie ihrem Mann gegenüber nicht verheimlichen könnte. Ich schicke Ihnen Geld von mir; ich weiß, Sie werden es ohne überflüssige Verlegenheit annehmen, und bitte Sie, mir nicht zu danken. L.‹ Dazu eine hastige Nachschrift: ›Ich flehe Sie an, lassen Sie M. endlich in Ruhe! Sie gab alles, was sie hatte; sie hat Ihnen mehr gegeben, als ihr gehörte. Ich zittere vor Angst, was geschehen wird, wenn man es einmal entdeckt. Ich bitte Sie um alles in der Welt, mißbrauchen Sie nicht Ihren furchtbaren Einfluß auf sie! Es wäre wirklich gemein, wenn Sie –‹ Der Rest des Satzes war ausgestrichen; es folgte noch ein Postskriptum: ›Danken Sie in meinem Namen Ihrem Freund, der Ihnen dieses überbringt. Er war unendlich gütig zu mir in einem Augenblick, wo ich menschliche Hilfe so nötig hatte.‹

Prokop fühlte sich überglücklich. Sie war also nicht Tomeschs Geliebte! Und niemand war da, der ihr hätte beistehen können! Ein tapferes Mädchen und großherzig. Vierzigtausend hatte sie aufgebracht, offenbar, um ihre Schwester vor Schande zu bewahren. Dreißigtausend stammten aus einer Bank; sie steckten noch in der Schleife, so, wie sie abgehoben wurden – zum Kuckuck, warum stand nicht der Name der Bank darauf? Die restlichen zehntausend hatte sie auf wer weiß welch mühsame Art beschaffen müssen; es waren viele kleine Banknoten darunter. Was für eine Hetzjagd mochte es gewesen sein, ehe sie diese Handvoll Geld beisammen hatte! ›Er war unendlich gütig zu mir . . .‹ Prokop hätte in diesem Augenblick Tomesch, diesen gewissenlosen und erbärmlichen Schuft, umbringen mögen; gleichzeitig verzieh er ihm alles . . . sie war nicht seine Geliebte!

Er mußte sie finden, mußte ihr vor allem das Geld zurückgeben (fast schämte er sich dieses fadenscheinigen Vorwandes) und ihr sagen, daß . . . daß sie sich, sowohl was Tomesch betrifft, aber auch sonst, auf ihn verlassen könne.

Wie langsam doch der Zug fuhr!


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