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Am nächsten Tag regnete es. Prokop ging durch den Park, wütend darüber, daß er nun die Prinzessin überhaupt nicht zu Gesicht bekomme. Aber sie lief barhäuptig in den Regen hinaus und eilte auf ihn zu. »Nur auf fünf Minuten«, flüsterte sie atemlos und hielt ihm die Lippen zum Kuß hin. Da erblickte sie Herrn Holz. »Wer ist der Mann?«
Prokop sah sich rasch um. »Welcher Mann?« Er war schon so an seinen Schatten gewöhnt, daß ihm dessen ständige Nähe gar nicht mehr bewußt wurde. »Das ist . . . mein Wächter.«
Die Prinzessin warf Holz nur einen befehlenden Blick zu; Herr Holz steckte sofort seine Pfeife in die Tasche und trollte sich. »Komm«, flüsterte die Prinzessin, auf die Laube weisend. Dort saßen sie und wagten nicht, einander zu küssen, denn Herr Holz äugte bestimmt irgendwo in der Nähe. »Die Hand«, befahl die Prinzessin leise und umklammerte mit ihren Fingern Prokops narbige Stümpfe. »Lieber, Lieber«, sagte sie zärtlich, doch gleich darauf schalt sie: »Du darfst mich vor Leuten nicht so ansehen. Ich weiß dann nicht, was ich tue. Warte nur, einmal fliege ich dir an den Hals, und der Skandal ist fertig, o Gott!« Die Prinzessin war ehrlich entsetzt bei diesem Gedanken. Plötzlich fragte sie: »Seid ihr gestern noch zu Mädchen gegangen? Das darfst du nicht, du gehörst mir. Lieber, Lieber, das ist alles so schwer für mich – Warum sprichst du nicht? Ich kam, um dir zu sagen, du sollst vorsichtig sein. Mon oncle Charles spürt uns schon nach. Gestern warst du wunderbar!« Angstvolle Unruhe sprach aus ihr. »Bewachen sie dich immer? Überall? Auch im Laboratorium? Ah, c'est bête! Als du gestern die Mokkatasse zerbrachst, hätte ich dich küssen mögen. So wundervoll warst du in deinem Zorn. Erinnerst du dich, wie du in jener Nacht ausbrachst? Damals folgte ich dir wie blind, wie blind –«
»Prinzessin«, unterbrach sie Prokop heiser, »eines müssen Sie mir sagen. Entweder ist das alles die Laune einer vornehmen Dame oder . . .«
Die Prinzessin ließ seine Hand los. »Oder?«
Prokop sah sie mit einem verzweifelten Blick an. »Entweder spielen Sie nur mit mir –«
»Oder?« wiederholte sie mit sichtlicher Freude, ihn zu quälen.
»Oder Sie sind – oder Sie sind –«
»– verliebt, ja? Hör mich an!« sagte sie, die Arme hinterm Kopf verschränkt, und blitzte ihn dabei aus engen Augenschlitzen an. »Als mir in einem gewissen Augenblick schien, daß . . . daß ich in dich verliebt war, du verstehst? wirklich, sinnlos, tödlich verliebt, da versuchte ich, dich . . . zu vernichten.« Sie schnalzte dabei mit der Zunge wie damals, als sie Premier zu sich gelockt hatte. »Nie hätte ich es dir verziehen, wenn ich mich in dich verliebt hätte.«
»Sie lügen«, rief Prokop wild, »jetzt lügen Sie! Ich könnte es nicht ertragen . . . ich könnte den Gedanken nicht ertragen, daß das alles nur . . . ein Flirt sein sollte. So verdorben sind Sie nicht! Das ist nicht wahr!«
»Wenn du das weißt«, sagte die Prinzessin leise und ernst, »warum fragst du dann?«
»Ich will es hören«, zischte Prokop sie an, »ich will, daß du mir . . . auf die Augen zusagst, was ich dir bedeute. Das will ich hören!«
Die Prinzessin schüttelte den Kopf.
»Ich muß es wissen«, sagte Prokop hitzig, »sonst – sonst –«
Die Prinzessin lächelte matt und legte ihre Hand auf seine Faust. »Nein, bitte, nein, verlange nicht, daß ich dir das sage.«
»Warum?«
»Dann hättest du zuviel Macht über mich«, entgegnete sie kaum hörbar.
Herr Holz draußen wurde von einem heimtückischen Hustenreiz befallen; in der Ferne sah man die Silhouette Onkel Rohns zwischen den Büschen vorbeiflitzen. »Siehst du, er sucht mich schon«, flüsterte die Prinzessin. »Du darfst heute abend nicht zu uns kommen.« Sie verstummten und drückten einander die Hände; nur der Regen rauschte auf das Laubendach nieder und umhüllte sie mit seiner tropfensprühenden Kühle. »Lieber, Lieber«, hauchte die Prinzessin und lehnte ihr Gesicht an ihn. »Wie bist du? Großnasig, zornig, stachelig – Man nennt dich einen großen Gelehrten. Warum bist du kein Fürst?«
Prokop zuckte zusammen.
Sie scheuerte ihre Wange an seinem Arm. »Nun bist du wieder zornig. Und mich – mich hast du Schlange genannt. Du machst es mir wirklich nicht leicht, du ermißt nicht, was ich tue . . . und noch tun werde . . . Lieber«, schloß sie und hob die Hand zu seinem Gesicht.
Er beugte sich zu ihren Lippen nieder; sie schmeckten nach reuiger Trauer.
Im Rauschen des Regens vernahm man die sich nähernden Schritte des Herrn Holz.
*
Unmöglich, unmöglich! Den ganzen Tag über spähte Prokop umher, wo er sie erblicken könnte. »Du darfst heute abend nicht zu uns kommen!« Nun freilich, er war ja nicht aus ihrer Gesellschaft; sie fühlte sich wohler im Kreis dieser blaublütigen Gecken. Seltsam: Im Innern gestand sich Prokop immer wieder, daß er sie gar nicht liebe; trotzdem eiferte er wütend, irrsinnig vor Zorn und Zurücksetzung. Am Abend durchstreifte er im Regen den Park und dachte daran, wie die Prinzessin jetzt beim Abendessen saß, wie sie strahlte in dieser Umgebung von Fröhlichkeit und Ungebundenheit; er kam sich wie ein Ausgestoßener vor, den man in den Regen hinausgejagt hat. Es gab für ihn nichts Schlimmeres in der Welt als Demütigung.
Er war entschlossen, dem ein Ende zu machen, lief nach Hause, zog den dunklen Abendanzug an und tauchte so wie gestern plötzlich im Rauchsalon auf. Die Prinzessin sah ziemlich niedergeschlagen aus; kaum aber hatte sie Prokop erblickt, da lebte sie auf, und ein glückseliges Lächeln umspielte ihre Lippen. Die übrige Jugend begrüßte ihn mit einem kameradschaftlichen: Hallo!, nur oncle Charles war um einen Schatten höflicher als sonst. Die Augen der Prinzessin warnten: Sei auf der Hut! Sie sprach fast kein Wort zu ihm, saß nur bedrückt und steif da; und doch fand sie eine Gelegenheit, Prokop ein zerknülltes Stückchen Papier in die Hand zu drücken: ›Lieber, Lieber‹, stand darauf, mit Bleistift in großen Buchstaben flüchtig hingekritzelt, ›was hast Du getan? Geh wieder!‹ Er zerdrückte das Papier. Nein, Prinzessin, ich bleibe; es tut mir wohl, Ihre Vertraulichkeiten mit diesen parfümierten Laffen zu beobachten. Für diese eifernde Hartnäckigkeit wurde er von der Prinzessin mit einem flammenden Blick belohnt. Sie begann Suwalski, Graun, alle ihre Kavaliere zu narren, war boshaft, grausam, unausstehlich und verspottete alle mitleidlos; bisweilen warf sie Prokop einen raschen Blick zu, ob er zufrieden sei, daß sie ihm so viele Kavaliere aufopfere. Aber Prokop war nicht zufrieden; er blickte finster und bat mit den Augen um eine kurze vertrauliche Unterredung. Da stand sie auf und führte ihn zu einem Bild. »Sei vernünftig, sei doch vernünftig«, flüsterte sie erregt, erhob sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuß. Prokop erstarrte vor Schrecken über diesen verrückten Einfall. Aber niemand hatte es bemerkt, nicht einmal Onkel Rohn, der doch sonst alles mit klugen, traurigen Augen verfolgte.
Mehr ereignete sich an diesem Tage nicht. Und doch warf sich Prokop auf seinem Bett schlaflos hin und her; und auch im andern Flügel des Schlosses vermochte jemand die ganze Nacht kein Auge zu schließen.
Am Morgen brachte Paul einen duftenden Brief, ohne zu sagen, von wem er stamme. ›Mein Lieber‹, stand darin, ›heute sehe ich Dich nicht, bitte, sei vernünftiger als ich.‹ (Einige Zeilen waren durchgestrichen.) ›Du darfst nicht vor dem Schloß auf- und abgehen, sonst komme ich zu Dir hinausgelaufen. Bitte, veranlasse etwas, damit man Dich von diesem widerlichen Wächter befreit. Ich hatte eine schlimme Nacht, sehe abscheulich aus und möchte nicht, daß Du mich heute siehst. Komm nicht zu uns, oncle Charles ergeht sich bereits in Andeutungen. Wir hatten eine Auseinandersetzung, ich spreche seither nicht mit ihm; es regte mich auf, daß er so unerträglich recht hatte. – Lieber, rate mir: Ich jagte soeben meine Kammerzofe davon, weil ich erfahren habe, daß sie des öftern den Stallburschen besucht. So etwas vertrage ich nicht; ich hätte ihr ins Gesicht schlagen mögen, als sie es mir gestand. Sie war schön und weinte, und ich weidete mich daran, wie ihre Tränen flossen. Stell Dir vor, ich habe zum erstenmal aus der Nähe gesehen, wie eine Träne entsteht, hervorquillt, rasch die Wange hinabrinnt, innehält und dann von einer zweiten eingeholt wird. Ich kann nicht weinen. Als ich klein war, schrie ich, bis ich blau anlief, aber die Tränen blieben aus. Ich jagte sie auf der Stelle davon; ich haßte sie, ein Schauer überlief mich, als sie so vor mir stand. Du hast recht, ich bin böse und zornwütig; aber warum darf sie alles? Lieber, lege ein Wort für sie ein; ich rufe sie zurück und werde sie behandeln, wie Du es willst, wenn ich nur weiß, daß Du Frauen solche Dinge vergibst. Du siehst, ich bin böse und zu all dem noch neidisch. Ich weiß mir keinen Rat vor Sehnsucht. Ich möchte Dich sehen, aber ich darf jetzt nicht. Schreibe mir nicht. Ich küsse Dich.‹
Während er das las, dröhnten im andern Flügel des Schlosses die wilden Tonkaskaden eines Klaviers, und Prokop schrieb: ›Ich sehe jetzt, Sie lieben mich nicht. Sie erdenken sich unsinnige Hindernisse, Sie wollen sich nicht bloßstellen und haben es satt, einen Menschen länger zu quälen, der sich Ihnen schließlich nicht aufgedrängt hat. Ich habe es anders verstanden und schäme mich dafür. Ich begreife, daß Sie es nun beenden wollen. Wenn Sie am Nachmittag nicht in die japanische Laube kommen, steht das für mich fest, und ich werde alles tun, um Sie nicht mehr zu belästigen.‹
Prokop atmete auf. Er war nicht gewohnt, Liebesbriefe zu schreiben; dieser schien ihm gründlich und herzlich genug abgefaßt. Herr Paul eilte, ihn abzuliefern. Das Klavier im andern Flügel brach jäh ab, dann blieb es still.
Prokop lief inzwischen, um Herrn Carson zu suchen. Er traf ihn bei den Lagern und rückte gleich mit der Sache heraus: Carson möge ihn auf Ehrenwort ohne Holz umhergehen lassen; er sei bereit, jeden Eid zu schwören und bis zu einer weiteren Erklärung keinen Fluchtversuch zu unternehmen. Herr Carson grinste vieldeutig: Aber ja, warum nicht? Prokop könne jederzeit gehen, wohin es ihm beliebe, unter einer Bedingung: daß er Krakatit ausliefere. Prokop wütete: »Ich habe Ihnen Vicit gegeben, was wollen Sie noch? Ich sagte Ihnen schon, Sie bekommen Krakatit nicht, und wenn Sie mir den Kopf abreißen!«
Herr Carson zuckte nur mit den Schultern und bedauerte, daß in diesem Falle leider nichts zu machen sei. Wer Krakatit in seinem Besitz habe, sei eine öffentliche Gefahr, gefährlicher als ein hundertfacher Mörder, ja geradezu ein klassisches Beispiel für Schutzhaft. »Trachten Sie, Krakatit loszuwerden, und die Sache ist erledigt«, meinte er. »Es lohnt sich. Sonst . . . sonst wird man überlegen müssen, Sie anderswo unterzubringen.«
Prokop, der nahe daran war, in ein Kriegsgeheul auszubrechen, hielt an sich. Er wolle es sich noch überlegen, murmelte er und lief nach Hause. Vielleicht liegt dort die Antwort, dachte er freudig; aber sie lag nicht da.
Am Nachmittag wartete Prokop in der japanischen Laube. Bis vier Uhr war er von der ungeduldigen, beunruhigenden Hoffnung erfüllt: Jetzt, jetzt muß die Prinzessin jeden Augenblick kommen. Um vier Uhr litt es ihn nicht mehr länger auf der Bank; er begann wie ein Jaguar im Käfig auf und ab zu gehen. Herr Holz verbarg sich diskret im Gebüsch. Gegen fünf fühlte er ein widerliches Gefühl der Enttäuschung; da fiel ihm ein, sie könnte vielleicht erst in der Dämmerung kommen, natürlich in der Dämmerung! Er lächelte, flüsterte zärtliche Worte vor sich hin. Hinterm Schlosse ging die Sonne herbstlich vergoldet unter; die halbentlaubten Bäume zeichneten sich scharf und reglos gegen den Himmel ab, man hörte das Rascheln der Käfer im abgefallenen Laub, und ehe man sich versah, ging der klare Tag in weiches, goldenes Zwielicht über. An der grünschillernden Himmelskuppel blitzte der Abendstern auf: das war das Abendläuten im Weltall. Die Erde dunkelte unter der blassen Himmelsglocke, Feldermäuse flatterten umher, irgendwo jenseits des Parkes erklangen die dumpfen Schellen der Herde: Die Kühe kehrten heim, duftend nach warmer Milch. Im Schloß leuchteten zwei, drei Fenster hell auf. Wie, schon Abend? Himmlische Sterne, wie oft hat ein staunender Knabe am Quendelrain zu euch aufgesehen, wie oft hat der Mann die Blicke zu euch erhoben, erwartungsvoll, duldend und oft stöhnend unter seinem Kreuze!
Herr Holz trat aus dem Dunkel hervor. »Können wir jetzt gehen?«
»Nein.«
Nun hieß es ertragen, die Demütigung ertragen, denn es stand fest: Sie kam nicht mehr. Sei es! Aber nun mußte er die Bitternis leeren bis auf den Grund, wo Sicherheit war. Er hatte vor dem Glück gebangt, nun gab er sich dem Schmerz preis, dem Betäubungsmittel des gequälten Menschen. Es war Nacht, schon Nacht; und sie kam nicht.
Eine unsagbare Freude erfüllte plötzlich Prokops Herz: Sie weiß, daß er hier wartet (denn sie muß es wissen). Sie wird nachts, wenn alles schläft, auf heimlichen Sohlen zu ihm eilen. Sie wird kommen, blaß auch im Dunkeln, zitternd vor fröstelnder Pein der Wiedersehensfreude, sie wird aus der schwarzdunklen Nacht heraustreten und ihm ihren heißen Mund darbieten –
Im Schloß verlöschten die Lichter.
Herr Holz lehnte vor der Laube, die Hände in den Taschen vergraben. Sein müder Umriß schien zu sagen: Laßt es genug sein! Aber der in der Laube mit dem zornigen, haßerfüllten Lächeln im Gesicht erstickte das letzte Fünkchen Hoffnung, zog das Warten um verzweifelte Minuten hinaus, denn erst die letzte Minute wird das Ende von allem bedeuten.
In der fernen Stadt schlug es Mitternacht. Das war das Ende.
Prokop lief durch den finstern Park heimwärts; weiß der Himmel, warum er es so eilig hatte. Er lief gebückt; fünf Schritte hinter ihm lief gähnend Herr Holz.