Karel Capek
Krakatit
Karel Capek

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38

Am Morgen entschloß er sich, nicht in den Park zu gehen, in der richtigen Annahme, dort nur hinderlich zu sein. Er suchte sich einen verhältnismäßig niedrig gelegenen, halb verödeten Platz aus, an dem vorüber ein direkter Weg vom Schloß durch den alten verwachsenen Wall zum Laboratorium führte. Er erklomm den Wall, von wo er, halbwegs gedeckt, eine Ecke des Schlosses und einen kleinen Teil des Parkes übersehen konnte. Hier gefiel es ihm; er grub ein paar Handgranaten ein und beobachtete abwechselnd den Park, einen eiligen Laufkäfer und die Sperlinge auf den schwankenden Zweigen. Einmal flog sogar ein Rotkehlchen an. Mit Entzücken sah Prokop dem kleinen Vogel mit dem rotbraunen Kehlchen zu, wie er ein wenig trillerte, mit dem Schwanz wippte und wieder davonflog.

Unten im Park erging sich die Prinzessin in Begleitung eines hochgewachsenen jungen Mannes; in ehrfurchtsvoller Entfernung folgte eine Gruppe Herren. Die Prinzessin blickte zur Seite und bewegte die Hand, als hielte sie eine Gerte und peitsche damit den Sand. Mehr war nicht zu erkennen.

Später tauchte Onkel Rohn mit dem dicken Vetter auf. Dann war niemand mehr zu sehen. Lohnte es sich überhaupt, hier zu sitzen?

Es ging gegen Mittag. Plötzlich tauchte hinter der Ecke des Schlosses die Prinzessin auf und kam geradewegs auf ihn zu. »Bist du hier?« rief sie leise. »Komm herunter und halte dich links.«

Er kroch den Wall hinunter und arbeitete sich linker Hand durch das Gebüsch. Dort lag ein Haufen mit allen möglichen Abfällen, daß man sich wunderte, derlei Dingen in der Umgebung eines fürstlichen Schlosses zu begegnen. Vor diesem armseligen Hügel stand die Prinzessin, lebhafter und anmutiger denn je, und sagte: »Als ich noch klein war, kam ich immer hierher, um meinen Ärger loszuwerden. Niemand kennt diese Stelle. Gefällt sie dir?«

Er merkte, sie wäre böse geworden, wenn er ihr nicht zugestimmt hätte, und beeilte sich daher, »ja« zu sagen. Sie strahlte und umarmte ihn. »Du Lieber, weißt du, wenn ich hierher kam, setzte ich mir eine Blechdose als Krone auf und spielte Königin. ›Schirrt das Sechsergespann an‹, befahl ich meinen Dienern, ›wir reisen nach Zanubien.‹ Das war mein Traumland. Zanubien, Zanubien! Gibt es das auf der Welt? Komm, wir fahren nach Zanubien. Du wirst es finden, du kennst doch alles –«

Noch nie war sie so heiter und lebhaft gewesen wie heute. Ein leidenschaftlicher Verdacht ergriff ihn; er wollte sie umarmen. »Nein, laß mich«, wehrte sie ab, »sei vernünftig, du bist Prospero, Prinz von Zanubien, und nur als Zauberer verkleidet, um mich zu entführen oder auf die Probe zu stellen. Doch da kommt Prinz Rhizopod aus dem Reich Alicuri-Filicuri-Tintili-Rhododendron, um mich zu freien; ein ganz abscheulicher Mensch, statt einer Nase hat er eine dicke Kerze, seine Hände sind eiskalt, hu! Schon will er mich zur Frau nehmen, da erscheinst du und sagst: ›Ich bin der Zauberer Prospero, Erbprinz von Zanubien.‹ Mon oncle Metastasio fällt dir um den Hals, und sie beginnen zu läuten, zu blasen und zu böllern –«

Prokop begriff nur allzu gut, daß ihr liebliches Geplapper etwas sehr Ernstes bedeutete, und hütete sich, sie zu unterbrechen. Sie hielt ihn um den Hals gefaßt und rieb ihre duftende Wange und ihre Lippen an seinem rauhen Gesicht. »Oder nein, anders: Ich bin die Prinzessin von Zanubien, und du bist der Große Prokopokopok, der Geisterkönig. Aber ich bin verwunschen, denn sie haben den bösen Zauberspruch: ›Ore, ore baléne, magot malista manigoléne‹ über mir gemurmelt, und darum bekommt mich ein Fisch, ein Fisch mit Fischaugen und Fischhänden und einem Fischkörper, und ich soll mit ihm auf seine Fischburg. Da fliegt der Große Prokopokopok auf seinem Sturmmantel herbei und entführt mich – Leb wohl«, schloß sie unvermittelt und küßte ihn auf den Mund. Sie lächelte noch einmal, strahlend und rosig, und ließ den düster Dreinblickenden auf den morschen Trümmern Zanubiens zurück. Was hatte das alles zu bedeuten? Sie verlangte, daß er ihr helfe, das war klar; sie unterlag dem Druck und erwartete von ihm . . ., daß er sie rette! Mein Gott, was tun?

Tief in Gedanken versunken, ging Prokop langsam seinem Laboratorium zu. Da blieb wohl nichts mehr als . . . der große Angriff; doch wo damit beginnen? An der Tür angelangt, griff er in die Tasche nach dem Schlüssel; da hielt er verblüfft inne und begann ehrlich zu fluchen. Die Außentür des Laboratoriums war mit quer angebrachten Eisenstangen verbarrikadiert. Wütend rüttelte er daran, aber sie gaben nicht nach.

An der Tür war ein Zettel angebracht: ›Auf Anordnung der Zivilbehörden bleibt dieser Raum wegen unzulässiger Anhäufung von Sprengstoffen ohne gesetzliche Sicherheitsvorkehrungen nach §§ 216 und 217 d. lit. F tr. z. u. Verordn. 63.607 M. 1889 geschlossen‹. Die Unterschrift war unleserlich. Darunter stand mit Tinte geschrieben: ›Herrn Ing. Prokop wird bis auf weiteres ein Raum beim Wächter Gerstensen, Sicherheitswache III, zugewiesen.‹

Herr Holz prüfte fachgemäß die Eisenriegel; dann ließ er einen Pfiff vernehmen und steckte die Hände in die Taschen: Da war wirklich nichts zu machen. Prokop lief um die Baracke herum: Die Explosivfallen waren pioniermäßig entfernt worden, alle Fenster noch von früher her vergittert. Prokop überzählte rasch in Gedanken seine Kriegsmittel: fünf schwächere Bomben in den Taschen, vier stärkere Granaten auf dem Hügel von Zanubien vergraben; das war recht dürftig für eine größere Aktion. Wutentbrannt eilte er ins Büro dieses verdammten Carson; na warte, mein Lieber, mit dir werde ich ein Hühnchen rupfen! Dort angelangt, meldete ihm ein Diener, der Herr Direktor sei nicht da und werde auch nicht so bald wiederkommen. Prokop schob ihn beiseite und drang in das Direktionszimmer ein. Carson war wirklich nicht da. Raschen Schrittes durchmaß er alle Büroräume, was sämtliche Angestellte des Werkes bis zum letzten Telefonfräulein in Aufruhr versetzte, Carson war nirgends.

Prokop lief zum Hügel von Zanubien, um wenigstens seine Munition zu retten. Dort fand er eine neuerliche Überraschung: Der ganze Hügel samt dem dschungelartigen Buschwerk und dem Kehrichthaufen war durch spanische Reiter abgesperrt; es glich einer befestigten Höhe im Kriegszustand. Er versuchte, die Drähte zu entwirren, ritzte sich aber nur die Hände blutig, ohne etwas zu erreichen. Da drang er, vor Wut heulend und auf nichts mehr achtend, durch den Stacheldraht ins Innere ein; seine vier großen Granaten waren ausgegraben und verschwunden. Ohnmächtiger Zorn schüttelte ihn. Zu allem begann es noch abscheulich zu nieseln. Er kroch zurück, Rock und Hose in Fetzen, Hände und Gesicht blutig gekratzt, und rannte zum Schloß, um die Prinzessin, Rohn, den Thronfolger oder wen immer zu treffen. In der Schloßhalle vertrat ihm der blonde Riese den Weg, bereit, sich in Stücke reißen zu lassen, wenn es sein müßte. Prokop zog eine seiner Sprengbüchsen hervor und fuchtelte drohend damit. Der Riese blinzelte nur, ohne einen Schritt zu weichen; plötzlich stürzte er vor und umklammerte Prokops Schultern. Da schlug ihm Holz mit dem Revolverknauf so fürchterlich über die Finger, daß er aufbrüllte und losließ. Auf einmal sahen sie sich drei Männern – wie aus dem Boden gewachsen – gegenüber. Den Augenblick, den die drei mit dem Angriff zögerten, benutzten die beiden, um sich blitzschnell mit dem Rücken gegen die Wand zu stellen. Prokop hielt die Sprengbüchse in der erhobenen Hand, entschlossen, sie dem ersten, der sich im nähern wollte, vor die Füße zu werfen, während Holz (nun völlig revolutioniert) den schußbereiten Revolver im Anschlag hielt. Vier blasse Männer standen ihnen gegenüber, ein wenig vorgeneigt, drei von ihnen mit schußbereiten Revolvern in der Hand; die Lage war mehr als bedrohlich. Prokop täuschte einen strategischen Angriff auf die Treppe vor. Die vier wandten sich nach dieser Seite hin, im Hintergrund ergriff jemand die Flucht; es herrschte vollkommene Stille. »Nicht schießen!« zischte einer verhalten. Prokop hörte seine Taschenuhr ticken. Im Stockwerk oben lärmten fröhliche Stimmen, dort ahnte man nichts. Da der Ausgang jetzt frei war, wich Prokop, durch Holz gedeckt, rückwärts zur Tür. Die vier Männer bei der Treppe standen wie zu Säulen erstarrt. Da brach Prokop aus.

Es nieselte kalt und unfreundlich; was nun? Rasch überdachte er die Lage. Vielleicht sollte er die Schwimmschule am Teich in eine Wasserfestung verwandeln? Aber von dort hatte man wiederum keine Aussicht aufs Schloß. Jäh entschlossen, lief Prokop, von Holz gefolgt, zum Pförtnerhaus. Sie drangen ein, als der alte Pförtner gerade beim Mittagessen saß; es ging über seine Begriffe, daß man ihn ›gewaltsam und unter Androhung des Todes‹ davonjagte. Kopfschüttelnd eilte er aufs Schloß, um sich zu beschweren. Prokop war mit der eroberten Position überaus zufrieden. Er schloß das aus dem Park hinausführende Tor sorgfältig ab und verzehrte dann mit sichtlichem Appetit das Mittagessen des Alten. Nachher trug er alles zusammen, was in dem kleinen Haus auch nur entfernt einer Chemikalie ähnelte, wie Kohle, Salz, Zucker, Leim, eingetrocknete Ölfarbe und andere Schätze, und überlegte, was sich damit herstellen ließe. Holz stand teils Wache, teils verwandelte er die Fenster in Schießscharten, was mit Rücksicht auf seine vier Sechsmillimeterpatronen ein wenig übertrieben war. Inzwischen richtete sich Prokop auf dem Küchenherd sein Laboratorium ein; es stank erbärmlich, immerhin war das Ergebnis ein etwas schwerfälliger Sprengstoff.

Die Feindesseite unternahm keinen Angriff; wahrscheinlich wollte man während der Anwesenheit des hohen Gastes jeden Skandal vermeiden. Prokop zerbrach sich den Kopf, wie man das Schloß am besten aushungern könnte. Er durchschnitt zwar die Telefonleitung, doch verblieben noch drei Ausgänge, ungerechnet der Weg durch den Wall zu den Werksanlagen. Er verzichtete daher, wenn auch ungern, auf seinen Plan, das Schloß von allen Seiten zu belagern.

Es regnete unaufhörlich. Das Fenster der Prinzessin öffnete sich, und eine helle Gestalt schrieb mit der Hand große Buchstaben in die Luft. Prokop vermochte sie nicht zu entziffern, trotzdem stellte er sich vor das Pförtnerhaus und schrieb seinerseits aufmunternde Botschaften in die Luft, wobei er die Arme wie die Flügel einer Windmühle bewegte. Gegen Abend lief Doktor Krafft zu den Aufständischen über. In seinem edlen Eifer hatte er vergessen, eine Waffe mitzubringen, so daß diese Verstärkung eher moralisch zu werten war. Abends hörten sie Herrn Paul heranschlurfen, der in einem Korb einen wunderbaren kalten Abendimbiß und eine Menge roten Wein und Champagner herbeigeschleppt brachte. Er behauptete, von niemandem dazu beauftragt worden zu sein. Trotzdem gab ihm Prokop eine Botschaft mit – ohne näher zu sagen, für wen sie bestimmt sei –, er danke für alles und werde sich auf keinen Fall ergeben. Bei dem abenteuerlichen Abendessen entschloß sich Dr. Krafft zum erstenmal, Wein zu trinken, wahrscheinlich, um seinen Mannesmut zu beweisen. Die Folge war auf seiner Seite eine mondsüchtig-selige Stummheit, während Prokop und Herr Holz Kriegslieder anstimmten. Obgleich jeder von ihnen in einer andern Sprache und ein anderes Lied sang, verschmolzen ihre Stimmen in der Ferne und namentlich in der Dunkelheit beim Rauschen des hartnäckigen Regens zu einem recht furchterregenden und bedrückenden Zwiegesang. Im Schloß öffnete sogar jemand ein Fenster, um zu lauschen; dann versuchte dieser Jemand, den Gesang aus der Ferne zu begleiten, ging jedoch bald in die ›Eroika‹ über und endete mit unsinnig dröhnenden Griffen in die Tasten. Als die Lichter im Schloß verlöschten, verbaute Herr Holz die Tür mit einer Riesenbarrikade, worauf die drei Helden friedlich entschlummerten. Am Morgen erwachten sie erst durch das energische Klopfen des Herrn Paul, der allen dreien Kaffee brachte.


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