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In Baden-Baden empfing die Schwester Bärbel verwundert einen weißen Briefumschlag mit durchstrichenem Aufdruck »Gstettners Weinbau und Sägewerk« und konnte sich im ersten Augenblick gar nicht denken, von wem er herrührte.
Heiners Schrift hatte sich verändert, übrigens kannte sie die auch nicht unbedingt wieder; denn es hatte zwischen ihnen nicht viel zu schreiben gegeben.
Sie wollte ihn beim Tee in der Halle öffnen, wo sie mit anderen Schwestern in der Pfingstsonne saß. Da erkannte sie den Absender und wurde so glühend rot, daß die Mädchen sie bedeutsam und auch neugierig anlächelten; denn es schien ihnen unverrückbar gewiß, daß Barbara den reichen Doktor Boll nehmen werde, den sie gesund gepflegt hatte und der seit Wochen schon im Gasthof wohnte, froh, der Krankenhausluft entwichen zu sein. In den Freizeiten Barbaras erschien der lange, kostbare Wagen Bolls vor der Rampe, und Bärbel stieg dann ein, nahm wie ein Sportmädel vorne Platz neben dem großen, fremdartigen Herrn, und die Welt stand ihr offen.
Sie steckte jetzt den Brief zu sich, ohne ihn zu lesen. Unten fuhr schon der Peter vor. Sie nannte ihn neuerdings Peter. Sie mußte den Brief also später lesen. Sie wußte nicht, weshalb sie ihn so heimlich verwahrte in ihrer Tasche, weshalb sie nicht zu Boll sagte: Da hab' ich endlich einen Brief vom jungen Danner nach mehr als einem Jahr, denk dir!
Gut, daß sie das nicht verriet, und auch wieder nicht gut; denn ein Verhängnis nahm ihr den Brief 220 weg, ehe sie ihn gelesen. Sie fuhren über die Hornisgrinde auf der neuen Höhenstraße weit und weiter bis in den südlichen Schwarzwald und unterwegs, als sie einmal ausstiegen, eine Höhenschau von überwältigender Größe über den Schwarzwald, das Rheintal bis an die Vogesen hin zu umfassen, ja landaufwärts den Jura gleißen zu sehen und die Kette der Schweizer Hochalpen, in silberner Flut am Himmelsrand im Westen das Tor offen zu sehen zum Meere, die lockende burgundische Pforte, als sie ausstiegen auf der Höhenstraße, die über Wälder hinweg zog, die zum grünen Mühlenbachtal und zum Gutachtal abfielen in dunklen Tannen und hellen Buchenmärschen, riß ihr eine Föhnbö den Brief aus der offenen Tasche und entführte ihn in die Lüfte. Barbara sah ihn mit hellem Schrei davonflattern, rettungslos gepackt von wirbelndem Windstoß, und in den Wipfeln einer Tannenwand in die Tiefe verschwinden.
Peter lachte wie ein Bub. Barbara war aber so blaß vor Zorn, daß er gleich merkte, wie arg ihr der Verlust war. So, ein Brief vom jungen Danner? Was weiß er denn? Barbara schrie es hinaus, seiner Fragen plötzlich überdrüssig, daß sie ihn noch nicht gelesen, ja noch nicht einmal geöffnet habe.
Peter wurde ganz still. Er hatte die gelassene Bärbel noch nie so leidenschaftlich gesehen. Sie hatte fiebrige rote Mäler auf der zarten Haut, stellte er fest, es war besser, wenn sie jetzt weiterfuhren.
Ein ungelesener, fest verschlossener Brief flatterte durch einen heimatfernen, unbekannten Wald.
Das hätte Heiner wissen müssen: Ein Brief, in dem ein Schicksal um Antwort und Wende fragte 221 und dessen Beantwortung von einem Herzen sehnlichst erwartet wurde und dessen Ausbleiben dem jungen Heiner fast das Leben kostete. In einem Tannenwipfel ruhte er, wohl zum Staunen von Vogel und Eichhorn, bis Regen und Schnee ihn zerwusch und zerweichte.
Peter schwieg lange. Sie fuhren und fuhren. Die federnde Fahrt beruhigte Barbara. Sie sah neben sich den langen Arm Peters im weißen Staubmantel, sie sah seine starken Hände mit den langen Gliedern 222 am Steuerrad spielen. Es sah aus wie Spiel. Die Ruhe des Mannes übertrug sich auf sie. Sie gab sich ihr hin mit ihrem erschöpften Herzen. Was regte sie sich so auf? Sie würde Heiner von ihrem Mißgeschick schreiben. Jawohl, das war doch ein guter Grund, schon morgen zu schreiben.
Peter ging mit Barbara behutsam um, er lächelte ihr zu, wenn ihr Blick in sein Gesicht schweifte. Zum erstenmal eigentlich empfand Barbara seine gelassene Zärtlichkeit tiefer als sonst, wo sie sie hinnahm, ohne genauer achtzugeben. Peter hatte sie immer verwöhnt, es steckte aber hoffentlich nicht mehr dahinter als die Onkelfreude an der jungen Gefährtin seiner gesunden und kranken Tage. Oder doch?
Es steckte eben doch mehr dahinter! Mit Gespräch und Schweigen warb er um sie. Er umstellte sie wie ein Zauberkünstler mit seiner weiten, bunten Welt, die er auf gefährlichen, lustvollen und abenteuerlichen Reisen gewonnen. Es floß in die Erzählungen ein erregender Zauber mit ein, wenn Peter über ferne Frauen sprach, andersrassige, wie sie gingen und standen, wie sie gekleidet und geschmückt waren, wie sie es mit den Männern verstanden. Ihr Brauchtum, ihr Weibtum, alles kannte er. Er berührte diese manchmal heiklen Dinge vor Barbara mit einer Sachlichkeit, die sie zur reifen Kameradin an seine Seite erhob.
Du liebe Zeit, sie lebte nun doch schon über ein Jahr in einem Sanatorium unter den eigenartigsten Menschen, Frauen und Männern, wirklich Leidenden und eingebildeten Kranken. Sie hörte die Skandälchen und Geheimnisse der fast immer wohlhabenden 223 Kranken in den Gesprächen der Ärzte und der Schwestern und der anderen Kranken die Runde machen. Barbara hatte doch kluge und tagwache Augen im Kopf, die sahen und feststellten. Frauen ahnen Tatsachen, wenn sie noch nicht einmal ins Geheimnis eingetreten sind. Barbara war kein geschämiges Jüngferchen, das von allem Verborgenen zwischen Mann und Weib nur das gelüstig Halbe wußte; sie wußte das Ganze richtig, ohne daß es ihr jemand gewiesen hätte, das sah man ihren Augen an, ihrem Gesicht, das ohne scheue Frage war und auch ohne spöttisch verborgenes Verraten. Als Arzttochter und Gehilfin des Vaters lernte sie ohne weiteres das Wissen um das nackte Leben und um den nackten Tod. Dazwischen die tausend Stufen von Liebe und Not.
Peter Boll wußte, wie man das nackte Leben bunt kleidete und lebendig vorführte, so daß es für sich selber zeugte auf eine Art, die einem wachsamen Mädchen, wie es Barbara war, nachging und auf ihn selbst ein erregendes Licht warf. Wachsam blieb Barbara um das, was außer ihr vorging. Wach in sich selber, eine Frau, so schien es Peter, war sie noch lange nicht.
Sicherlich kam sie bisher gar nicht darauf, sich selber mit dem Wissen um Schicksale und Zufälle, um das nackte Leben und den unabwendlichen Tod, um Liebe und Leid zu meinen. Das stand alles außerhalb ihrer Haut und außerhalb ihres Herzens. Dazu fehlte auch noch Peter Boll, dem Erfahrenen, seltsamerweise der Schlüssel. Er probte mit vielem, sie zu wecken, für sich zu wecken, mit allen seinen Taten und Erlebnissen. Sie wurde berührt, sie wurde warm für 224 die fremde, ferne Welt, sie bewunderte Pitt und war stolz auf ihn.
Peter Boll baute bei Oberspring in der Flur Amselbach ein Haus, das bis in die innerste Planung mit Barbara besprochen wurde. Sie half mit Freuden dem Vetter, der in Wahrheit ihr Onkel war, das Praktische im Hause gestalten. Er selber war ein Praktiker, doch ließ er ihr gern das Bewußtsein, richtig beraten zu haben, was Küche, Keller, Bad und Speisezimmer anbetraf. Der geräumige Bau wuchs nun ohne ihr Zutun aus einem losen Waldbezirk in die Höhe und enthielt auch alles, was an neuzeitlichen Hauseinrichtungen zu bekommen war.
Sie reisten dann und wann hin, zuweilen ohne sich bei Doktor Bachroth aufzuhalten; der weilte ja auch meist auf Krankenbesuchen. Barbara wuchs in das Haus ein, so wollte es Peter Boll, wie ein stiller Geist, sie kannte jeden Stein und jede Stiege und ahnte nicht, wie berechnend der reife Mann mit seiner späten echten Liebe dahinter stand. Vielleicht wäre es ihr dabei sehr bang geworden, obschon sie zuweilen mit Peter nicht ganz fertig wurde. Wenn er für ein paar Tage verreiste, nach Berlin oder nach München, er hatte Geschäfte überall und wissenschaftliche Zusammenkünfte, so fehlte ihr etwas. Und sie freute sich, ihn wiederzusehen, seinen hellen Augen, die ihr halb zärtlich, halb spottlustig so fest ins Gesicht sahen, zu begegnen und seine warme, große Stimme zu hören, die für sie sprach und in sie hineinsprach mit einer Kraft, die ihr manchmal heiß zu schaffen machte, vorab dann, wenn sich Heiner in ihren Gedanken ungerufen, aber unabweislich daneben stellte mit seiner 225 schmalen Bubengestalt, dem bebenden Mund, aus dem die Sprache so ungeschmeidig und harsch kam, mit seinen dem Peter so ähnlichen und dennoch in ihrer Gewalt so wenig ähnlichen Augen, die ihr nie fest ins Gesicht sehen konnten, sondern beiseite irrten im Blick, scheu und einfältig stolz über sie hinaus.
Sie kam nicht dahinter, daß ein Mann und ein Bub nebeneinander standen, ein Abgeklärter und ein Fiebernder, ein Sturmerprobter und ein Anfänger. Einer, dem hundert Lieben über den Weg und durch die Nächte gegangen, vielleicht keine Liebe durch seine Seele darunter, neben einem, dem die eine Liebe schon Entscheidung zwischen Tod und Leben forderte und der dabei noch nicht einmal ganz genau spürte, daß das Liebe um jeden Preis sei.
Peter Boll und Heinrich Danner traten vor die sinnende Barbara, und sie griff mit den Sinnen und ihrem fernsüchtigen Ehrgeiz zum großen Boll, mit der Seele aber zu dem reinen, jungen Heiner. Es war in nächtlichen Wachestunden, wo die Gedanken die pflichtgetreue Schwester Barbara heimsuchten, viel Qual in ihr, weil sie wußte, daß Pitt um sie warb. Er hatte noch nicht gefragt, er deutete es kaum an, was er wollte, aber Barbara merkte es plötzlich, sie konnte nicht mehr herausfinden, woran sie es mit sicherem Gefühl merken mußte. Es war nun so weit mit ihr, gleich nachdem ihr der Brief von Heiner in die Wipfelkreuze der Tannen von einer Föhnbö entführt worden war. 226