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Das Glöcklein vom Dannerhof schwäbelte wieder eifrig in den klaren Herbstmondmorgen, an dem der Kleine getauft werden sollte, wie alle Dannerkinder im Kapellchen. Pia Danner hatte die Zügel wieder fest in der schmal und weich gewordenen Hand. Gleich am Morgen nach dem Auftritt in der Mittagsstube war sie wie immer ans Werk gegangen, fühlte sich wohl und seltsam jung, entledigt der mondelangen Last. Und es war in der Mittagsstunde wieder nicht geregelt zugegangen. Da stand ein großer Krug vom Tiefenspringer Roten auf dem Tisch vor des Bauers Platz. Der aber befahl der Mariann: »Hol Most, ich will Most!«
Die sprang, hochrot im Gesicht, auf, eilte in die Küche, um es der Mutter zu sagen: »Der Vater will heut Most.« 61
Die Dannerin meinte ganz ruhig: »Tu, was der Vater dir angibt.«
»Aus denen kommt man nimmer draus«, brummte das Mädchen erbost und gehorchte.
Der Danner trank also Most, die Leute am Tisch mußten den Roten trinken, und die Frau schenkte ihn jedem ein; da griffen sie zwar zögernd, aber gern zu, wobei ihnen der Danner den Wein rühmte und mahnte: »Den trinkt mit Verstand!«
Es blieb fürderhin für alle werktags wieder beim Most. Der Danner selber rüttelte nicht mehr an der Regel, nachdem er zu guter Letzt gesiegt hatte. Das Gefühl wollten ihm alle auch nicht streitig machen.
Am Tauftag kamen die Straßburger mit ihrem Kind, es kamen Doktor Bachroth und Barbara, auch Nikolaus Vogt, der Lehrerssohn, war geladen, und seltsamerweise stellte sich auch Daniel Hurst ein mit seiner Schwester, die der Danner tags zuvor so im Vorübergehen aufgefordert hatte, damit es von Jugend nur so im Sägbauernhof wimmle.
Der Kaplan aus Oberspring saß im Doktorwägele. Herrlich malte sich der Spätsommer in tiefen Farben auf die Äpfel im Grasgarten, auf die späten Pfirsiche in den Reben. Die Burgundertrauben im Rebberg, der hinter der Kapelle begann, waren tintendunkel mit zartem, grauem Schleier behaucht. Das Weinlaub färbte sich schon golden, die Spritzbrühe hatte ein starker Regen verwichenen Tags abgewaschen. Über den hohen Berggraten des Schwarzwaldes stand ein zärtlich von kleinen Wolkenspielen durchwimpelter Himmel. Es war so schön, wie es im weiten Tal nur sein konnte, das gemach vom Rhein über die Ebene 62 anstieg, über die Rebhügel bis hinauf zu den dunklen Tannenrücken der Schwarzwaldberge.
Der Hof wimmelte von Menschen. Danner hatte sich mit Einladungen nicht genugtun können. Die Frau wehrte sich bei manchem Namen: »Zu was auch, Mann, nimm's doch nicht so wichtig.«
»Du kannst dir ja Leute zum Kochen und Auftragen nehmen, Frau.«
Severin blieb eigensinnig, der unerwartete Bub mußte gehörig gefeiert werden.
Die Taufe ging also im Kapellchen vor sich, das natürlich nicht alle faßte, nur die nächsten Verwandten mit den Taufpaten. Die andern standen unter der Tür, auf der Staffel, auf dem Weg, manche vor dem offenen Fenster an der Seite dicht vor den Reben, und das waren die Jungen, die es erfaßt hatten, daß man nebenher die Burgundertrauben naschen konnte, die in dichter, prall gesetzter Reife kaum eine Beere hergeben wollten.
Vom Sägbauernhof her sah es aus, als habe die Menge das Kirchlein gesprengt, das ganz hilflos dazwischen stand, umgeben vom farbigen Prangen der Trachten. Aus dem Hanauerland waren Verwandte gekommen; junge Basen in Schlupfkappen mit weißen Schürzen und bunten Fransentüchern, im weißen Kamisol und Fellkappe die beiden Burschen. Peterstäler Verwandte der Pia erschienen in ihrer Tracht, und die Patin der Pia aus dem Gutachtal war auch gekommen im schwarzen Bollenhut; ihre Enkelin trug stolz den roten Bollenhut und schwang gehörig den Rock um die freien Fesseln in den weißen, flaumigen Strümpfen, für die ein Seidenhäslein die zarten 63 Haare gespendet. Die waren evangelisch, der Forstwart Falk hatte als junger Gehilfe bei dem alten Lehmann das Waldgeschäft gelernt und ein wenig Hoffnung auf die Frieda gehabt; aber die Frieda war längst verlobt, und da gab es nichts dawider. Sie hatten aber einander versprochen, sich gegenseitig zu Paten zu machen. So hatte die Frieda zu Gevatter gestanden bei der Pia, der Forstwart bei der 64 Andresenbäuerin Sohn Ernst, der im Krieg gefallen war. Pia war als Kind oft bei der Patin in den Ferien gewesen.
Ferner waren gekommen Bauern und Bäuerinnen aus den Nachbarhöfen in ihren dunklen Trachten, die Gesichter schier anmutig umrahmt von schwarzen, schlaufengekrönten Hauben. Die Männer leuchteten meist rot aus den Röcken in scharlachtuchener Weste. Viele hatten wieder ihre Tracht angetan, weil sie spürten, daß es im Zug der Zeit lag, die Tracht aufs neue anzulegen. Sie hatten es nicht nötig, mit der Anerkennung der Stadtleute zu rechnen, die ja so närrisch taten, wenn sie auf die Tracht zu reden kamen. Sie erkannten ganz von selber, daß die Tracht gut und zweckmäßig und schön war.
Der alte Dannergroßvater Florian kam noch im Vatermörder. Er schritt hochgewachsen, mager wie ein ausgedörrter Rebstecken und auch so graugelb auf der Haut, im Zug der Taufgesellschaft die Halde hinab nach dem feierlichen Akt. Über die würdig freundlichen Köpfe der Festlichen hinweg eilte sich das Glöcklein fast haspelig, die frohe Kundschaft über die Hänge und Hügel zu werfen, Helmut Danner ist getauft. Jetzt verließ er, in Tüllgeriesel wie in Kirschblütenschnee gebettet, auf dem Arm der Patin Barbara die Kapelle, die er kurz vorher mit einem raumfüllenden Geschrei zum Erzittern gebracht hatte, so daß kaum des Taufenden heilig ernste Worte durchgedrungen waren. Barbara hatte den wahrscheinlich hungrigen Täufling entsetzt und verlegen bewispert und geschockelt; es hatte aber alles nichts genützt. Der Helmut Danner wollte schreien, und er schrie; es war Dannererbteil, unbestechlich ein Ziel zu verfolgen, und das war in diesem 65 Fall der nahrhafte Quell aus der Mutterbrust. Die Dannerin, noch nicht ausgesegnet, hörte daheim in der Küche das kräftige Geschrei, ließ sich aber nicht aufregen. Es war noch eine halbe Stunde Zeit für ihn; die würde auch heute nicht unterboten.
Heiner schritt hinter Barbara drein neben Mariann und Doktor Bachroth, der Vater Danner ging zwischen den Straßburger Schneegänsen, wie Heiner bei sich die Basen nannte, das Ehepaar Onemus nebeneinander. Der Onemussche Sprößling schlief in der Kammer des Dannerhofes vollgesättigt, der war gleich nach der Ankunft der heiteren Städter geschenkt worden. Auch die Christina schien jünger geworden; sie stellte allerhand vor, das mußte man ihr lassen.
In der Küche fuhrwerkte natürlich die Runz Euphrosina. Sie hatte die ganze Nacht hindurch gekocht, gebraten, gebacken. Nun war alles so weit, daß sie wieder in den »Sternen« hinabwallen konnte, wo man sie doch sonntags brauchte. Die Brüder rückten dann am Nachmittag auf dem Sägbauernhof an, um zum Tanze aufzuspielen.
Heiner geriet ihr unversehens zwischen die Hände, als sie noch im Stallgang nach dem jungen Kalb schaute, das vor zwei Nächten angekommen war. Sie ging nie vom Hof, ohne im Stall gewesen zu sein. Ihre Küsse knallten wieder auf Heiners Wangen, gottlob hatte sie es aber eilig und machte kein weiteres Aufheben. Fort war sie, so groß und breit sie wuchtete, in einem Augenblick.
In der Stube und der Nebenstube saßen die Gäste an weiß gedeckten Tischen, und es ging schon ziemlich laut zu. 66
*
Heiner schaffte im Stall, was alle Tage zu tun war, und er war froh darum und verbiß sich förmlich in die Arbeit. Mit einemmal, er besichtigte gerade von allen Seiten ein neues Roß, mit dem der Daniel Hurst einen Schick gemacht hatte, griff eine ringgeschmückte Hand dem Pferd liebkosend an die Nüstern, und die junge Bachroth lachte ihn an. Das fremde Roß wieherte und rieb dann den schönen Kopf an Barbaras Schulter. »Ja«, lachte sie, »gelt, das riecht nach einem anderen braven Pferdle, nach unserer Helga!«
Die Helga war im Nebenstall untergebracht. Die beiden gingen hinüber, Heiner brauchte nichts zu reden, Bärbel wußte allerlei. Sie wußte es schon, daß der Heiner im nächsten Frühjahr fort gehe.
»Gehst gern? Gell, wir müssen jetzt du sagen, wo ich doch eure Patin bin! Also gehst gern?«
»Freilich, am liebsten heut schon«, knurrte er gröblich.
»Du, wenn du nicht feinere Art annimmst, auf der Stelle, sag ich wieder Sie zu dir.«
»Nix für ungut, nimm mich halt, wie ich gewachsen bin. Meinst, ich komm gehobelter aus Tirol heim?«
»Ja, das will ich hoffen, Hein, ich sorg dafür, daß der große Gstettner und seine Madeln dich auch mit nach Wien nehmen.«
»Ach, was braucht ein Bauer und Säger nach Wien?«
Die Barbara blieb stehen, so daß Heiner auch stehenbleiben mußte.
»Schau mich mal an, Heiner. Blick aushalten, bitte.« 67
Sie faßte ihn fest an mit ihren merkwürdig hellen Augen, um deren Farbiges ein dunkles Rähmchen stand, das sie tief und rätselvoll machte. Heiner straffte sich unter dem Blick, ganz nahe kam ihm ihr Mund, und er küßte sie ganz kurz und hart. Er war kreideweiß.
»Das ist für das Du«, sagte er rauh.
Barbara trat an ihr Pferd, sprach schmeichelnd mit ihm, ganz ruhig mit ihrer tiefen, klaren Stimme. Dabei sah es Heiner doch, wie die Flügel ihrer geraden, vornehmen Nase bebten, gleich der des rassigen Rosses 68 draußen im großen Stall, das dem Hurst gehörte, dem reichen und pferdekauftüchtigen Daniel Hurst von Helgenzell.
Heiner ging mit Barbara durch alle Gebäude, während im Hause schon die Suppe aufgetragen wurde. Barbara schoß es durch den Kopf, es ist gerade, als wären wir verlobt. Der Heiner schob ihr sogar die Hand unter den Arm. Wie sie rasch in sein Gesicht spähte, das sie nur hart im Seitenschnitt sah, lief das rot an und hatte ein Lächeln, das ganz eigenartig war, fast ein wenig hinterhältig kam es ihr vor, keck drückte er die Augen zusammen, es hatten dabei seine Bauernfältchen in seine jungen Schläfen gesprüht. Sie hatte scharfe Sinne, sie galt nicht als Träumerin, der Heiner war also kein ungefährlicher, reiner Tor mehr; der wußte genau, wie man eine Liebelei begann.
Sie wollte das nicht, es ging ihr zu schnell; aber kränken wollte sie ihn auch nicht, sie wußte, wie leicht er verletzt war. Früher, als Kinder, hatten sie dann und wann miteinander gespielt, auch da schon machte der Heiner auf einmal nicht mehr mit, wegen einer Kleinigkeit.
Sie ließ also seine Hand noch eine kleine Weile zwischen Brust und Arm ruhen. Dann tat sie erschrocken: »Jesses, Hein, die essen am End schon drinnen!«
*
Da dröhnte auch schon Doktor Bachroths Stimme aus dem offenen Fenster.
»Barbara, was Kuckucks, wo bleibst du denn?«
Da sprangen die beiden wie Kinder hintereinander her über den Hof, und der Bachroth ließ sich täuschen 69 und dachte, die sind wirklich noch neu, die beiden, es hat keine Gefahr. Sie haben nach den Pferden gesehen. Wenn man schon einen Clevener in sich hat, der aus dem stolzen Jahrgang einundzwanzig stammt, können auch scharfe Arztaugen durch eine goldene Brille die Dinge rosig sehen. Auch der fröhliche Kindsvater Danner sah die beiden selband in die Stube kommen, als alles schon an der Nudelsuppe löffelte. Er warf einen scharfen Blick auf Heiner, dessen Ohren viel zu rot waren, um ihn harmlos erscheinen zu lassen.
»Barbara, hierher, neben mich!« rief er laut; denn die beiden sollten jetzt nicht auch nebeneinander hocken.
Zwischen den Straßburger Basen war Heiners Platz aufgespart worden. Niklaus nahm das Dorettle, Heiner hatte sich um Annette zu kümmern. Neben Mariann war aus bestimmten Gründen Daniel Hurst gesetzt worden. Pia Danner billigte den Plan wohl, die beiden zusammenzubringen, aber Niklaus tat ihr leid, sie hatte ihn gern. Sie befürchtete freilich selbst, daß für Mariann ein städtischer Haushalt nicht das Rechte würde, wo sie bereits alle Tugenden und allen etwas derben und umsichtig herrschenden Eigenwillen einer großen Bäuerin besaß.
Fast zart nahm sich die Mutter neben Mariann aus. Pia war recht mager geworden, das sah man jetzt erst richtig, wo sie sich, wie früher, unter den Ihren bewegte. Severin fand, daß ihre Kleider um sie lotterten, das gefiel ihm nicht, das hätte sie sich doch ändern lassen sollen. Danach hörte er, wie es neben ihm bei der Christina Onemus vor prunkvoller Üppigkeit schier in den Nähten krachte, doch das gefiel ihm noch weniger. Er wandte sich daher um so lieber 70 den Jungen zu, die alle die fröhlichsten Mädchengesichter machten, selbst Barbara und Mariann, die nicht leicht ins Lachen kamen und oft so aussahen, als machten sie sich über allzuviel lustig, was sie nichts anging.
Sehr hübsch war die Gutacherin mit ihrem zarten Florhäubchen über dem silberhellen, unruhig flimmernden Haar. Sie schaute sich aus milden, braunen Augen stumm lächelnd um, sprach kaum. Sie saß zwischen der Großmutter und dem Goldschmied, der, wie Severin feststellte, auch kein Kostverächter war; denn linker Hand genoß er die Petra Hurst, Daniels Schwester, ein heißblütiges, zierliches, dunkles Mädchen, das ein Mundwerk wie eine Zigeunerin führte. Sie hatte in Lyon bei Verwandten in einem Hotel ein Jahr das Kochen gelernt und meisterte das Französische. Wie ein Wasserfall sprudelte es unaufhörlich aus ihrem Mund, die Augen voll gefährlicher Schwärze funkelten, es war herrlich für sie, den Onemusvetter neben sich zu haben, der sein echtes Pariser Französisch anmutig ausgreifen ließ wie ein vollendet rassiges Roß, das man zu lang im Stall gelassen.
Oh, ihr Affen, dachte der Severin bei sich, bog sich über den Tisch und schenkte den beiden aus der riesigen Kristallflasche die Gläser voll.
»Prosit, Schwager – Prosit, Petra.« Und so immer wieder von Zeit zu Zeit. Als der Kalbsbraten mit den Beilagen herumgereicht wurde, lachte der Goldschmied schon verklärt, summte provenzalische Lieder und erzählte lange Gespräche, die er mit dem Maharadscha gehabt, den er kürzlich in seinem Laden empfangen durfte. Eines Tages mußte sicherlich auf 71 seinem Firmenschild prangen »Hoflieferant« und so fort.
Petra konnte mehr vertragen als der sonst kurz gehaltene Straßburger; denn die Hurst hatten daheim gute Reblagen mit berühmtem Clevener und anderen Ortenauern. Was im eigenen Boden wuchs, machte einem nicht so zu schaffen wie fremdes Gewächs. So blieb sie bei klarem Kopfe und tauschte Blicke des Einverständnisses mit dem Danner, dem knitzen Kindsvater, der doch schon bald vierzig war und immer noch zu Streichen aufgelegt. Der ging später vielleicht auf den Händen durch die Stuben vor Vergnügen.
Die Stimmung in dem festlichen Haus stieg und stieg. Es herrschte jetzt ein Summen und Surren wie auf einem Kirchweihrummel. Der Wein tat das seine, und nun ließ Severin noch einen ganz besonderen bringen. Alle mußten auf Nagelprobe die schönen Gläser leeren. Es waren Daumenschliffgläser aus Bakkarat, ererbt im Dannerhaus, und sie klangen, wenn man anstieß, wie klare Glocken, nein, die schwäbelten nicht.
Nun gab es Durbacher aus dem Freiherr von Nessschen Wachstum. Mhm, den bissen so Mann wie Weib erst im vorderen Mund mit Wollust auf den Zähnen, ehe sie die Zunge mit seiner reifen, herb-süßen Schwere beluden. Dem Gaumen gab erst der zweite Schluck sich hin. Es war, als wölbte er sich mit weichem, nie wieder vergeßlichem Zwange in die verzückten Höhlen des Mundes. Da war kein richtiger, ausgereifter Mann beim Fest, der dessen nicht gewahr wurde, der junge Kaplan mitinbegriffen. Ja, das Weintrinken war in dieser Landschaft eine Wissenschaft, der die einfachen Männer gerecht wurden wie 72 die gelehrten. Den billigen, leichten Elbling oder den Riesling konnten sie wie köstliches Wasser vertilgen, aber den edlen Wein ließen sie ein und hinab wie etwas Geweihtes und bespülten damit ihre Seelen.
Die Männer besprachen den stolzen Wein, den Platz, wo er gewachsen, die guten Jahre, die Fehljahre, sie kamen auch auf die Gutsherrschaft zu sprechen und wurden, während der kostbare Tropfen ins Blut glühte, beseligt im Reden und voller Freundschaft füreinander. Sie taten einander Gutes, indem sie – Geschichten erzählten. Sie waren ja gesättigt. Nudelsuppe, Forellen, Rindfleisch mit Meerrettich (nur in Monaten mit r durfte man ihn essen) – er stammte aus der neuen Urloffener Ernte und war der beste im ganzen Reich, gewiß, das war wahr –, Kalbsbraten mit zarten Gemüsen, Merinkentorten und Punschtorten waren in den Mägen verschwunden.
Die Reden, kurz und meistens witzvoll, waren verklungen. Jetzt saßen die Männer mit einem Stück gewöhnlichen Brotes in den Händen; weil der pappige Gu (Goût = Geschmack) im Mund auf den Kuchen hin dem Wein abträglich gewesen, hatte Severin nach Brot gerufen, und sie erzählten und ließen sich erzählen. Fast ohne es zu merken, waren sie frauenlos geworden und zusammengerückt, während die Mägde abräumten und zum Kaffee deckten. Die Frauen saßen beisammen in der Nebenstube, schon hinter den vollen Kaffeetassen, die Jugend trieb es ins Freie.
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Von der Erwähnung des Freiherrn von Neff war es nur ein Gedankensprung zu dem volkstümlichen und 73 längst verstorbenen Oberländer Vetter der Sippe, der ein stadtbekannter und beliebter Herr in Freiburg gewesen und dem alle guten Witze und Geschichten der breisgauischen Landschaft angehängt wurden, die irgendwie in ihn hineinzudenken waren. Trotzdem hatten sie alle einen eigenen Tonfall, eine eigene Sprache, einen eigenen Schluß, und jedermann hörte sofort, auch wenn er erst mitten in eine dieser Geschichten hineinkam, von wem die Rede war.
Wenn diese unverwüstlichen Geschichten von den Männern am Oberrhein erzählt und von ihnen zustimmend abgelauscht wurden, so empfand sich jeder Fremde wirklich als Fremdkörper, wenn er dabei saß. Hier belachte das Volk sich selber. Der Held, der hochbeamtete badische Standesherr, war die mimische, göttlich dargestellte Gestalt der Männer des Volkes, die wie Bäume aus dem lustreichen und doch so tief mit Schweiß und Blut getränkten Boden am Oberrhein wuchsen, breitwuchtend, rauh und schlau von außen, gutmütig und frohgemut in der Mitte, feinfühlig und geistbeseelt ganz innen.
Und so wußte der wackere Doktor Bachroth auch eine Geschichte, zwischen Wahrheit und Dichtung wandelnd, wie das Gesicht des Volkes in die seltsamen Geschehnisse lugt.
Also dem Neff sein Bruder ist gestorben. Ihr wißt, er war manchmal nicht gut auf den Fritz zu sprechen. Der Bruder legt sich hin und stirbt hinweg. Wenn der Neff auf den Bruder nicht gut zu sprechen war, nannte er ihn nur »der Herr Bruder«. Am Sterbtag trifft der Neff auf der Kaiserstraße in Freiburg einen Bekannten. »Wisseses scho – der Herr 74 Bruder isch verstorbe.«»Oh, herzliches Beileid, Herr Baron!«»Ja, denkese, un jetz soll er von dene Herre Dökter sekziert werre. Aber wenn se ihm dann der Bauch aufschneide un 's kommt nur Alkohol 'raus, das wär halt doch schenant für unsere Familie!«
Alle lachten. Dann sannen sie dem inneren Sinn der Geschichte nach, das heißt, sie machten durch ihr Schweigen der Geschichte einen tieferen Sinn, bis der Bachroth sagte: »Prost – ich glaub, das wär, im Fall es einem Herrn Bruder aus unseren Sippen vorkäm, auch ›schenant‹. Aber wir saufen eineweg gern und sind auch so fromm wie der Neff, wenn's drauf ankommt.«
Der Kaplan hatte sich in der Pause des Schweigens still verdrückt. Er gab drüben den Frauen die Hand zum Abschied. Severin mußte wohl oder übel aufstehen und mit bis unter die Tür, befahl aber rasch dem Heiner, der eben mit Dorette ins Haus kam: »Geh, fahr Hochwürden nach Oberspring!«
Da gab es nichts dagegen.
Bachroth konnte seine neue Geschichte verheben, bis der Danner wieder am Tisch saß. Er schenkte jetzt einen Staufenberger ein, vom markgräflich badischen Rebgut ganz in der Nähe. Und sie hatten alle ernst verklärter Tätigkeit zu huldigen.
Also, der Neff hat ja gern Wein getrunken, und zu Freiburg auf dem Münsterplatz umkreisen das Pflaster gute Weinstüble. Wer kennt nicht das »Hummele« und den »Rappen«. Zwischen den beiden liegt groß und hoch und lang das Münster. Vom Hummele in den Rappen mußte man also einen Umweg machen. Der schwere, große Neff mit seinen breiten75 Sohlen hat diesen Umweg gehaßt. Was tut er? Er geht ins Münster, versinkt, so gut er kann, fromm vor dem Hochaltar, wedelt ein wenig Weihwasser auf die Stirn und entschwindet durch das gegenüberliegende Portal. Das ist der kürzeste Weg, die Gerade zwischen Hummele und Rappen. Und deshalb hat der Neff bei den Marktweibern am Samstag für so arg fromm gegolten. Drum – – –
Und so ging es weiter. Geschichten gebären Geschichten, wie sie nirgends sonst geboren werden können.
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Auf einen Wink der Dannerin hatten die Mädchen, die aufwarteten, vor die Männer einen besonders starken Kaffee hingestellt; durch das ganze Haus, 76 ja bis an den Waldrand hinauf, wo die jungen Leute auf den Stämmen saßen und schäkerten und schwätzten, schwebten die würzigen Schwaden des Trankes.
Dorettle Onemus hob das viel zu kleine Näschen im hübschen Gesicht und sagte: »Mhm, liebe Leut, da riecht's nach Bohnenkaffee; darauf hätt' ich aber jetzt Lust, ihr nit?«
Gewiß, alle befiel das Gelüsten, zumal manche nur ganz selten Bohnenkaffee zu trinken bekamen. So zogen sie dem einladenden Ruch nach. Im Handumkehr saßen die Festgäste wieder alle in der großen und der kleinen Stube, und draußen in der Küche hub ein Kaffeemahlen an, daß der Heiner, der einmal hinausgeschaut hatte, sagte: »Das hört sich an wie mit Maschinengewehr gerattert.«
Er war ganz lustig. Heimlich hatte er sich vom Wein geholt und rasch ein Glas hinabgetrunken. Er wußte, das hebt ein wenig die Zunge und macht gesprächiger. Und er wollte mit Barbara Bachroth in viele Gespräche kommen. Das mit dem Motorrad hatte er schon anbringen können. Sie strahlte wahrhaftig, als er sagte: »Du, das schönste ist, daß wir, ehe ich fortreise, noch einmal im ganzen Ländle herumstrolchen können. Du bist doch bereit?«
»Warum nicht? Das hab' ich mir schon lang gewünscht, einmal wie der Wind über die Hornisgrind und hurtig über die Höh' an den Mummelsee und über Hügel und Hang den ganzen Schwarzwald entlang und mit dem raschen Rad nach Offenburg in die Stadt, alle Straßen, durch Feld und Au, durch die ganze Ortenau, nichts soll uns zu weit sein, wir fliegen auch an den Rhein. Es gibt kein Plätzchen, zu dem 77 wir nicht eilen, wir nehmen's im Sturm, wie der mit den Siebenmeilen. Und wem's nicht gefällt, soll hinstehn und heulen. Juhuhuhu!«
Alle machten übermütig den Kehrreim des flotten Gedichtes der Barbara Bachroth mit. Jetzt war der Bann gebrochen, jetzt sagten alle einander du, Dorettle zu Niklaus, Annettle zu Daniel Hurst und Barbara zu allen.