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Eine Kameradschaft junger Burschen aus den Höfen im langen Schwarzwaldtal stieg an dem blau blühenden Hang nutzlosen Landes vor dem Wald hinauf. Es war Sonntag, und sie mußten umherstreifen, weil das Wetter so strahlte und die Zeit zwischen Winter und Frühling einfach unerträglich war, wenn man stillsitzen mußte. Bald genug vertrieb ihnen Bauernleben die schweifenden Launen am Sonntagmittag; dann waren sie an den Plan der Erde gebunden, und für manche gab es überhaupt keine Zusammenkunft mit den Kameraden mehr außerhalb der Schule und der Kirche; aber das lag nun noch im weiten Feld. Es hat noch jedesmal, solange sie denken können, einen Schnee auf die Frühlingsblümchen geworfen.
Darüber unterhielten sich die sieben Burschen in ruhiger Art, während sie mit gelassenen Schritten den Hang emporstiegen. Einer von ihnen fiel auf durch sein langes weißblondes Haar, das wie eine silberne Kappe leuchtete. Er war der größte von allen und vielleicht auch der älteste. »Heiner mit de lange Beiner«. sangen die anderen plötzlich in spöttischer Gemeinsamkeit, denn der Blonde war ihnen ein gutes Stück voraus und fraß förmlich mit seinen dünnen, hohen Beinen den Boden weg. Der Heiner blieb einen Augenblick stehen, pfuste mit vorgeschobener Unterlippe lässig eine Strähne aus der Stirn, die der Wind hineingeweht, und ließ die kleineren Kameraden gelassen an sich herankommen. »Neid der Besitzlosen«, sagte er 11 und winkte ihrem Chorus ab, der bereits infolge des letzten steilen Anstiegs kurzatmig geworden war.
»Mich könnt ihr doch nicht drausbringen, wer lang hat, laßt gut laufen.« 12
»Ein Motorrad wär besser«, meinte der kleine, breitschultrige Friedel vom Wegwart Armbruster. Seit Monaten tat der nur den Mund auf, wenn er das Wort Motorrad anbringen konnte. Es war sein heißer Wunsch, eines zu besitzen.
»Das tät dir jetzt auch nichts nützen, du Gauch. Den Buckel kämst du nicht 'rauf.«
»Wer weiß!« knurrte Friedel. Es erhob sich darauf ein allgemeines Gespräch über Auto und Motorrad, eine Wissenschaft, die ja dem kleinsten Bauernknechtlein heute geläufig ist.
Heiner, des Sägebauern Sohn, war nicht bei der Sache. Eigentlich hat er heute allein herumstreifen wollen. Er weiß nicht, was in ihm steckt, es scheint fast, als gingen ihm die Freunde auf die Nerven. Er ist sehr sorgfältig gewaschen und gestrählt wie seit einigen Monaten immer, der Anzug sauber und glatt, die Hände rot vom vielen Waschen, und die derben Schuhe zeigen einen Anflug von Glanz, obschon sie nur zu fetten sind. Natürlich haben die Kameraden das längst gemerkt und unterhalten sich in fröhlicher Spottlust darüber. Heiners feine Nasenflügel beben, doch läßt er sich sonst nicht anmerken, wie ihn diese dummen Schwätzereien reizen. Früher führte er meistens die Hänseleien selber hieb- und stichfest an, nun auf einmal hatte er keine Lust mehr. Er hatte überhaupt zu nichts anderem mehr Lust, als allein herumzustreifen und Luftschlösser zu bauen. Wenn das so und wenn das so wäre . . .
Oben am Waldrand blieben sie beisammen stehen, die Hände in den Hosentaschen: Was machen wir jetzt? 13
Friedel schlug vor, auf den Aussichtsturm zu gehen. »Heute«, sagte er, »sieht man sicher den Rhein, es riecht nach Regen.«
»Ach, der ewige Aussichtsturm«, entgegnete Heiner, »das ist ja stinklangweilig.«
»Oder an den Wasserfall«, riet der Schorsch vom Forellenbauer.
»Wir könnten auch auf das Wiedergrün gehen und beim Forstwart die jungen Füchs angucken«, meinte der Sahlengrundfelix.
»Wir gehen auf den Aussichtsturm«, entschied Heiner, irgendwohin mußten sie ja schließlich. Und zum Forstwart hatte er keine Lust mit allen zu gehen, allein ja. Es könnte jemand dort sein aus Oberspring, eine städtische Gesellschaft, um den Sonntagnachmittag bei dem berühmten Obstkuchen und Kaffee des Waldhauses auszufüllen.
Sie hatten sich kaum quer durch den jungen Mischwald in Bewegung gesetzt, da hob Heiner den schmalen, festen Kopf wie ein spürendes Wild. Er hatte ein Lachen gehört, das er kannte, und die rote Farbe schoß in sein vom Winter noch helles Gesicht, die Ohren brannten wie angezündet, er trieb unwillkürlich so vorwärts mit langen Schritten, daß die anderen schalten: »Renn doch nicht so, du Narr, wir haben doch Zeit!«
Also die roten Ohren kommen vom Rennen, man schwitzt ja wie ein Roß bei diesem warmen Wetter, dachten sie.
Nur der Nikolaus Vogt, der beste Freund Heiners, der stille Lehrerssohn, wußte, wie es um den Langen stand und was für ein Lachen das war, das ihm die Glut in die Ohren trieb und die Flucht in die 14 Beine. Er holte den Freund ein, ihre Augen trafen sich. »Sie?« fragte Nikolaus fast lautlos und ernst. Heiner nickte.
Ein mächtiger Stoßvogel kreiste über dem Aussichtsturm, als die Burschen oben ankamen. Er nahm ihre Sinne gefangen, so daß sie für eine Weile nur noch seine Bahn verfolgten.
»Dem sollt man eins aufbrennen können, pitsch, ich wollt' ihn treffen, der hat mindestens einen Meter Spannweite.«
»Mensch, der hat mehr, gut einen halben Meter mehr, ich mach die größte Wett'.«
Heinrich Danner sagte nichts. Mit zusammengekniffenen Augen verfolgte er den kreisenden Vogel. Sein Gesicht war scharf in allen Zügen, mager, kein Lot zuviel Fleisch auf den Kiefern, dennoch rührend knabenhaft, weil die Haut so hell war und man das rasche Blut kommen und gehen sah.
Ja, dachte er bei sich, erlegen möcht ich den auch, das ist unser Adler, der edle Bussard, dann ihn ausstopfen lassen und eines Tages ihn jemand zeigen, wenn der Doktor Bachroth und Fräulein Tochter wieder in den Hof fuhren. Man brauchte dann doch nicht so dumm sich zu überlegen: Was zeigst du nun Besonderes? Die Säge, die Ställe mit Vieh und Hühnern hat sie schon gesehen, den Blumengarten, seine Kaninchenzucht, den zahmen Ferdinand, wie sein lustiger Star hieß, das stinke Liesel im Eichhornkäfig. Um den Bussard hätte er eine lange Geschichte machen können – ach, so allerhand! Dumm, immer an das gleiche zu denken!
Er blies abermals die eigensinnige Strähne aus der 15 Stirn, warf den Arm über die Schultern des Freundes Nikolaus und zwang ihn zum Weitergehen. Die anderen schlossen sich schwatzend an. Sie hatten es jetzt von den verschiedenen Arten der Flinten. Der 16 Armbruster-Friedel erklärte die Unterschiede von Karabiner und anderen Schießwaffen, kannte sich mit Kaliber und Handhabung aus und warf auch mit jagdtechnischen Ausdrücken nur so um sich. Es war ein gescheiter Bursche, ein Bastler dazu, der Segelflugzeugmodelle ebenso fehlerlos zu fügen verstand wie er bei allen Motoren der Umgegend Bescheid wußte. Sein Vater hätte ihn Techniker sollen lernen lassen statt Wegwart; aber der Wegwart war ein gewalttätiger Mensch, da hieß es nur: Du mußt.
Friedel tröstete sich mit Heiner. Der hätte gern studiert, Doktor der Medizin; aber der Sägmüller war nicht minder gewaltig als der Wegwart; der einzige Sohn mußte da bleiben, wo seit undenklichen Zeiten, das heißt wohl seit dem 16. Jahrhundert, die Danner saßen, auf der Sägmühle in Tiefenspring.
Der Nikolaus Vogt wäre lieber ins Bauerngeschäft gegangen, doch der Lehrer schickte ihn auf die Schule nach Offenburg, und von da aus sollte er die Hochschule besuchen und etwas studieren, am besten Theologie. Nikolaus selber hatte sich bisher zu keinem Fach entschließen können, er wußte es wohl auch in einem Jahr noch nicht, wenn die Reifeprüfung fällig war.
So trugen die drei Freunde bereits eine kleine Last des Schicksals in ihren jungen Seelen mit sich, die den beiden anderen, dem Knechtlein Pius Acker und dem Bauernerben Daniel Hurst, nicht auferlegt war, denn die wünschten nämlich nichts anderes zu sein.
Der Daniel hatte den Bussard abknallen wollen. Der Acker Pius hatte die Spannweite des stolzen Vogels geschätzt. 17
Der Daniel fing an zu singen. Sie erreichten die Höhe, nur leicht noch stieg der Weg an durch kahles Heidekraut und Torfland. Sie gingen wie auf Teppichen, lautlos fast. Daniel sang »Ich schieß den Hirsch im wilden Forst«, und die anderen summten mit. Nur Heiner warf den Kopf hoch wie ein Pferd und blies die Nasenflügel auf. Da hatte er es nun: drüben am Turm waren Mädchen und ein paar Jungmannen, und die eben so lachte und ihre rote Mütze vom Kopf nahm, hatte er nicht treffen wollen, das heißt – nein, er hatte sie natürlich nicht treffen wollen. Nun war es zu spät, sie schauten herüber, wer da so angesungen kam. Die Affen hörten ja auch nicht auf mit dem ewigen Lied; wenn die einmal angedreht waren, so mußten alle Strophen daran glauben, und wenn der Kaiser von China auf Stelzen gekommen wäre, hätten sie das Lied fertig gesungen. Es klang auch fast, als brüsteten sich die Tiefenspringer Dorfbuben vor den Oberspringer Stadtfräcken mit ihrem Gesang, und es war nicht abzuleugnen, daß Nikolaus und Daniel sehr schöne Stimmen hatten und ganz rein sangen; daher durften die drüben am Turm schon die Ohren spitzen und sich fragen: Wer kommt denn da? Das hört sich gar nicht so an wie wenn das Bauernbuben wären!
Barbara Bachroth zog die rote Kappe wieder über ihr lockiges Haar, das der Wind hier oben auf der rauhen Höhe zerwehte. Sie wußte, wer der große Kerl war mit dem Strohdach auf dem Kopf; aber sie mochte ihn jetzt nicht näher kennen, seine Handgelenke sahen so rot und zu weit aus den Ärmeln heraus, und die Hosen ließen die Knöchel frei in den derben Hakenschuhen. Ihr war das zwar einerlei, aber die Vettern 18 aus Ostenburg sollten sie nicht necken wegen ihrer Bekanntschaft mit den ländlichen Gesellen.
Es war so merkwürdig, der Heinrich Danner wollte wohl unter keinen Umständen an den Turm, solange die Gesellschaft dort weilte. Er hätte nur drauflos zu marschieren brauchen, ein Stück weit weg vom Turm, womöglich zuerst ins Gasthaus. die anderen wären ihm wie immer gefolgt. Sie sangen ja auch noch zu schön, um haltmachen zu können; aber er mußte erst dem Ziel zu, seine Füße machten den Weg ganz allein. Und so wanderten die Tiefenspringer wie ein Mann hinüber, nahmen dabei mit neugierigen Augen die Leutchen aus dem Badeort Oberspring aufs Korn. Das war doch die Tochter von Doktor Bachroth mit ihrem Anhang, ein Mädchen, an dem man sich nicht satt sehen konnte. Die Bärbel Bachroth kannte jeder, weil sie oft mit ihrem Vater auf die Dörfer und Höfe ringsum kam, wenn er Kranke besuchte.
Barbara wandte sich fast unmerklich mit dem Rücken gegen die Burschen. Heiner schoß wieder einmal das Blut in den Kopf vor Scham und Zorn, merkte er doch, daß sie nicht gegrüßt sein wollte.
So ein Aff', alle waren Affen, die Schwitjes die größten, mit ihren künstlichen Achseln und den weiten Hosen, die wie Weiberröcke schlotterten. Einer gehörte mit dem anderen herumgeschlagen!
Jetzt sang Heiner laut mit. Singend stiegen sie die Turmtreppen hinauf. Sie waren eigentlich die Herren, sie konnten zur Not den Heringsbändigern da unten Pomade auf den Scheitel spucken.
Der Armbruster hatte die größte Lust dazu. »Wenn 19 ich nur mehr Speiz hätt', aber mir dörrt fast die Gurgel aus.«
»Untersteh dich!« zischte der Heiner, »wir sind doch keine Lausbuben.« Er war jetzt leichenblaß. 20
Und, habt ihr noch Worte, wie er sich über die Brüstung beugt, hinabzuspähen, ob die Gesellschaft auch in den Turm gehe, stand unten nur noch Barbara und schaute ihm ins Gesicht herauf! Er hatte scharfe Augen, konnte ihre Züge deutlich erkennen. Da hob sie die Hand, bewegte sie aber nicht, hob sie nur und lächelte ein wenig – grüßte ihn. Ein Glück, daß die Freunde auf der anderen Seite des Turmes standen, wo die Tafel mit dem Aussichtsweiser lag. Sie trat dann rasch in den Turm, und Heinrich Danner hatte über dem Wunder ihres Grußes vergessen, sie wieder zu grüßen. Vielleicht hatte er nicht einmal freundlich gelächelt. Er konnte den Freunden noch zuraunen: »Die kommen 'rauf, wir gehen geschlossen 'runter, sobald sie oben sind.«
Und das taten sie auch. Heiner ging als der Letzte und konnte der Barbara ganz unbemerkt mit einem Lächeln danken, als sie leicht an ihm vorbeiwehte.