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Meriem sah plötzlich schrecklich klar: Der sie da abermals in seiner Gewalt hatte, hieß nicht Hanson, sondern – Malbihn! Wilde Verzweiflung legte sich auf ihr gequältes Herz, und ihr schwand jede Hoffnung auf eine günstige Wendung. Sie schrie auch nicht um Hilfe, denn sie wußte, daß doch niemand kommen würde; hatte sie doch früher in der Dschungelwildnis so oft erlebt, daß der Angstschrei des Unterliegenden ungehört oder unbeachtet in der Tiefe der Wälder verhallte.
Doch mitten in ihrem Endkampf um Ehre und Freiheit bot ein gütiges Geschick ihr nochmals helfend die Hand. Malbihn mochte seiner Sache schon ganz sicher sein ... da hatte Meriem den Revolver in seinem Leibgurt entdeckt und mit blitzschnellem Griff in den Falten des Teppichs geborgen. Ihre Finger tasteten vorsichtig nach der Sicherung. Ein leichter Druck – und die Waffe war schußbereit.
Malbihn war aufgestanden. Er schien zu glauben, daß seine Gegnerin erschöpft sei.
Da sprang Meriem wie eine Schlange auf, den Revolver hinter ihren Rücken gepreßt, und warf sich unerwartet mit ihrem ganzen Körper gegen den zudringlichen Schweden, der sich augenblicklich mit den Füßen im Deckengewirr verfing, den Halt verlor und rücklings zu Fall kam. Meriem ließ ihm keine Zeit, sich aufzurichten. Im Nu hatte sie ihm den Revolver auf die Brust gesetzt und drückte ab.
Das Unglück wollte es, daß noch eine leere Patronenhülse im Lauf des Revolvers steckte ... Die Waffe versagte, und sogleich war Malbihn wieder obenauf. Doch Meriem entwand sich wie ein Aal seinen Fäusten und stürzte zum Ausgang. Schon winkte die Freiheit ... da schlug Malbihns Rechte auf ihre Schulter nieder und zerrte sein Opfer abermals zu Boden. Wie eine todwunde Löwin schlug Meriem um sich und holte in der Not mit dem Knauf der Waffe nach des Mannes Kopf aus.
Der Bösewicht sank bewußtlos zurück. Ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen, stob Meriem in wilder Flucht davon. Ein paar Schwarze rannten herzu und suchten ihr den Weg nach dem Lagerausgang abzuschneiden. Doch der drohend erhobene Revolver in ihrer Rechten gab ihr die Bahn nach der Dschungel frei.
Hinauf in die Bäume und nach Süden zu davon, das war das Werk weniger Minuten, in denen die Instinkte des kleinen Manganiweibes sofort wieder wach wurden. Sie streifte ihren Reitrock ab, Schuhe und Strümpfe ereilte das gleiche Schicksal, und dann ging es mit leichtem Schwung und Sprung durch die Zweige weiter. Wozu sich mit diesem Plunder belasten! Es galt vielleicht tagelang und in größter Eile nach alter Art zu »wandern«, ehe man einigermaßen sicher war. Reithosen und Jackett behielt sie indessen gern, um die kühle Nachtluft und die Dornen nicht allzusehr spüren zu müssen, zumal sie durch diese Kleidungsstücke kaum in ihrem Vorwärtskommen gehindert wurde.
Sie mochte noch keine halbe Stunde unterwegs sein, als ihr mit einem Male erschreckend zu Bewußtsein kam, daß sie ohne hinreichende Bewaffnung sich weder verteidigen noch genügend mit Nahrung versehen konnte. Warum hatte sie auch nicht daran gedacht, Malbihn noch die gefüllten Patronentaschen vom Leibe zu reißen, ehe sie aus seinem Zelte davonstürmte! O, dann hätte sie sich mit Leichtigkeit der wilden Dschungeltiere, die zweifellos so oft ihren Weg kreuzen würden, erwehren können, sie hätte auch hier und da schmackhaftes Wild zur Strecke gebracht und konnte hoffen, Bwana und »My Dear« in ihrem sicheren Dorado wieder zu erreichen, ehe sie rettungslos in der unergründlichen Wildnis ermattete.
Was half es? Sie mußte zurück und sich auf irgendeine Weise Munition verschaffen. Wohl türmten sich damit von neuem all die Gefahren vor ihr auf, denen sie eben mit Mühe und Not entronnen war. Aber ohne Munition war alles noch aussichtsloser, und so wandte sie sich entschlossen nach dem Lager zurück.
Malbihn war zweifellos kampfunfähig, denn der Schlag hatte gesessen. Vielleicht bot sich also bei Nacht Gelegenheit, unbemerkt bis zu seinem Zelt vorzudringen und den Patronengurt zu erraffen. Sie hatte sich indessen kaum in einem großen Baum unweit des Lageplanes eingenistet und mit ihren Späheraugen das Lager flüchtig überblickt, als der Schwede aus seinem Zelt herauswankte. Sein Gesicht war zerschunden, doch hinderte ihn das nicht, mit Verwünschungen und lauten Fragen über seine vor Angst zitternden Leute herzufallen.
Das Kreuzverhör dauerte eine ganze Weile an. Als der Sturm vorüber war, verließ Malbihn mit seinen Leuten das Lager, anscheinend, um die Flüchtige wieder einzufangen. Meriem gewann den Eindruck, daß der Schwede in seiner Erregung gleich seine gesamte Mannschaft mitgenommen hatte, und wagte daher alsbald den Vorstoß ins verlassene Lager. Geduckt sprang sie über die Lichtung, hinein in Malbihns Zelt. Der erste Blick in der Runde war eine Enttäuschung: Er mußte die Munition mitgenommen haben. Doch da in der Ecke ...? Sie stürzte sich auf den in wasserdichte Leinwand verpackten Koffer, in dem der Schwede seine rein persönlichen Habseligkeiten verstaut hatte, und der von den Trägern des Westtrupps seinerzeit schon mit nach diesem Lager befördert worden war.
Vielleicht steckt hier der Hauptvorrat? Mit wahrem Feuereifer entfernte sie Verschnürung und Leinwandhülle, riß den Klappdeckel auf und stöberte in dem bunten Allerlei herum. Da lagen Briefe, Schreibpapier, alte und weniger alte Zeitungen und Zeitungsausschnitte und schließlich auch unter unzähligen anderen Kleinigkeiten die Photographie eines kleinen Mädchens. Auf die Rückseite dieses Bildes war ein Ausschnitt aus einer Pariser Tageszeitung geklebt, vergilbt und ziemlich abgegriffen, jedenfalls für Meriem unleserlich, schon weil sie die französische Sprache wohl etwas sprechen, aber nicht lesen konnte. Der Zeitungsausschnitt brachte in verhältnismäßig schlechtem Druck ein Bild desselben Mädchens, das auf der Photographie zu sehen war. Meriem griff sich an den Kopf. Das Bild ... Sie hatte es sicher schon einmal ... ja ... das ... war sie ja selbst, sie, die kleine Meriem, so, wie sie sich aus den Tagen ihrer Kindheit noch in Erinnerung hatte ...
Woher hatte der Schwede eigentlich diese Photographie? Wie war sie überhaupt in seine Hände gekommen und warum war das Bild in der Zeitung? Was mochte dahinter stecken?
Meriem war mit einem Schlage völlig im Bann dieser ihr geradezu unheimlichen Entdeckung und starrte minutenlang selbstvergessen auf die halbverblichene Aufnahme. Dann mochte sie aber eine warnende Stimme in ihrem Innern aufgescheucht haben, denn sie fing wieder an, in der Kiste weiterzuwühlen. Endlich ... ein Griff, und sie zog eine kleine Pappschachtel unter einem Wust von Zeitungsausschnitten hervor. Ein einziger Blick genügte, der Deckel wurde aufgerissen: die Patronen hatten das richtige Kaliber. Der Revolver war schon längst am Leibgurt befestigt, und zwar so, daß die Waffe in den bequemen Breeches verschwand. Die Patronenschachtel glitt in die Tasche.
Das Gefühl der Sicherheit verleitete sie indessen zu einem Fehler, der unter Umständen schlimme Folgen hätte nach sich ziehen können. Sie nahm nochmals das Bild und sah und sah und konnte sich gar nicht satt sehen an dem Bilde ihrer Jugend. Und wie sie so noch immer traumverloren dem Rätsel dieses unerhofften Fundes nachsann, drang plötzlich Stimmengewirr an ihr Ohr. Im Nu war sie mit allen Fasern bereit. Die Kerle kamen wohl schon wieder? Schon klangen die Stimmen näher. Der Schwede mußte auch dabei sein, sie konnte seine Stimme deutlich heraushören. Sie stürzte zum Ausgang des Zeltes. Ein Blick belehrte sie: Es war schon zu spät. Sie war schon förmlich umzingelt, der Weiße eilte mit drei Eingeborenen von der Lichtung her unmittelbar auf sein Zelt zu. Was sollte sie tun? Rasch das Bild in die Bluse, das Doppelmagazin des Revolvers mit Patronen gespickt und zurück in die äußerste Ecke des Zeltes. Er schien sich jedoch jetzt Zeit zu nehmen. Sie hörte, wie er draußen seinen Leuten endlose Befehle gab. Recht so, ihr konnte jede Sekunde nützen. Sie bückte sich, hob die Rückwand des Zeltes leicht auf und spähte durch den schmalen Spalt hinaus. Aha, dort war noch niemand! Sie warf sich nieder und wand sich vorsichtig ins Freie.
Kaum war sie draußen, hörte sie, wie der Schwede von der anderen Seite dem Eingang zuschritt. Halbgeduckt huschte sie nach der nächsten Hütte, in der sonst ein Teil der Schwarzen hausen mochte. Sie atmete auf, als sie dort in Deckung war. Von neuem spähte sie hinaus. Es war niemand zu sehen. Um so besser. In Malbihns Zelt erhob sich jetzt ein Höllenlärm. Sein Koffer ...
Er schrie wie besessen. Seine Leute stürmten zu ihm ins Zelt. Er hatte sie »gerufen«. Das war der rechte Augenblick. Meriem rannte aus der Hütte. Nur nicht zum Lagerausgang jetzt. Da ... der Baum. Wie die Zweige über das Dornengehege herabhingen! Die Schwarzen waren wohl zu bequem gewesen, die paar dicken Äste wegzuschlagen? Nun, das spielte ja auch keine Rolle. Die Hauptsache: Sie hatte jetzt die Leiter, die ihr den Weg in die Freiheit öffnete. Ein kühner Schwung – und sie war frei!
Aus ihrem hohen Baumversteck beobachtete sie, wie Malbihn wieder in die Dschungel zurückeilte. Die drei Leute, die er vorhin mitgebracht hatte, ließ er diesmal als Wache im Lager zurück. Malbihn strebte nach Süden und war bald verschwunden.
Meriem wartete noch ein paar Minuten, ehe sie sich in den Bäumen dem Strom zuwandte. Die Kanus lagen noch am Ufer festgebunden, so wie man sie vor Stunden verlassen hatte. Wenn solch ein Boot auch alles andere als leicht zu rudern sein würde, zumal für sie allein, so blieb ihr doch kein anderer Ausweg. Über den Strom mußte sie auf alle Fälle.
Der Landungsplatz mit den Booten konnte vom Lager aus genau beobachtet werden. Jetzt sich dorthin zu wagen, wäre Selbstmord gewesen, und so blieb nur die Hoffnung, daß die Nacht ihr zu Hilfe kam, wenn nicht doch schon vorher irgendein günstiger Zufall dazukam. Sie lag indessen etwa eine Stunde in ihrem Baumversteck, ohne daß sich der Schwarze, dem anscheinend die Bewachung der Boote befohlen war, auch nur einmal von seinem Posten entfernt hätte.
Plötzlich tauchte Malbihn wieder auf. Atemlos, keuchend kam er angerannt und ging auf der Stelle zum Ufer, wo er die Boote zu zählen schien. Ihm war offensichtlich unterwegs eingefallen, daß das Mädchen über den Strom zu kommen suchen mußte, wenn sie, wie zu erwarten, sich in Bwanas Schutz zurückbegeben wollte. Meriems Annahme stimmte. Mit einem Ausdruck der Erleichterung, als sei ein Alp von ihm gewichen – er fand alle Boote vollzählig vor – wandte er sich an den Führer seines Trupps, der mit ihm und einigen Schwarzen zurückgekommen war und gab rasch und energisch einige Anordnungen, die offenbar keinen Aufschub duldeten.
Bald waren alle Kanus bis auf eines flott gemacht. Auch die Lagerwache war mit in die Boote beordert worden, und wenige Minuten später ruderte die ganze Gesellschaft stromaufwärts davon.
Meriem wartete noch, bis sie hinter einer scharfen Biegung des Stromes dicht oberhalb des Lagers verschwunden waren. Herrlich! Sie waren fort, sie war allein – und man hatte ihr ein Kanu mit – sage und schreibe – einem Ruder zurückgelassen. Es war eigentlich unfaßbar – und doch, es hieß das Glück beim Schopfe fassen, sollte es nicht vor ihren Augen ins Nichts zerrinnen. Und so schwang sie sich rasch hinab und rannte auf das Boot zu, von dem sie nur noch wenige Meter trennten. –
Jenseits der Strombiegung sammelte Malbihn seine Boote dicht am Ufer. Er selbst ging mit seinem Truppführer an Land, um dort einen geeigneten Punkt zur Beobachtung des drüben am Lagerplatz zurückgelassenen Kanus ausfindig zu machen. Er lächelte vergnügt, denn das Mädchen würde ohne Zweifel auf diesen Trick hereinfallen, d. h. früher oder später zum Lagerplatz und zu den Booten zurückstreben und die Überfahrt wagen. Mochte sein, daß sie nicht gleich auf den Gedanken kam, daß man ein oder zwei Tage warten mußte. Aber sie würde auf alle Fälle dort erscheinen, wenn sie überhaupt noch lebte oder nicht von seinen drüben in der Dschungel streifenden Leuten schon vorher aufgegriffen wurde. Er hatte es nicht im entferntesten für möglich gehalten, daß sie bereits am Werk sein könnte, und war sprachlos vor Bestürzung, als er beim ersten Blick auf den Strom in Höhe des Lagerplatzes das Mädchen schon im Kanu mitten auf den Fluten schaukeln sah.
Wie besessen rannte er zu seinem Boot zurück, der schwarze Truppführer ihm dicht auf den Fersen. Man warf sich förmlich in das Boot, indessen man die anderen Leute zu äußerster Kraftentfaltung beim Rudern anspornte. Wie Pfeile schossen die Kanus mit der Strömung talab, als gälte es das Leben. Meriem war schon ziemlich am Ziel, als sie den Schwarm ihrer Verfolger auf den Wassern heranbrausen sah. Mit der ganzen Kraft naher Verzweiflung legte sie sich ins Zeug. Sie brauchte Vorsprung. Zwei Minuten. Dann war sie gerettet. Einmal wieder oben in den Bäumen, und man würde sie nimmer einholen. Ein kurzer Blick auf die feindlichen Kanus belehrte sie schließlich, daß alles zu hoffen war. Sie hatte das Menschenmögliche geleistet.
Malbihn schien schon das Fehlschlagen seines listigen Planes zu erkennen, denn die Verwünschungen hagelten nur so auf die schwarzen Ruderer nieder, die trotz aller Anstrengung sein Boot nicht so rasch vorwärts brachten, wie er es sich wünschen mußte. Er stand vorn im Bug des schnellsten Kanus; am liebsten hätte er die hundert Meter, die ihn jetzt von der Flüchtenden noch trennten, im Sprung genommen, denn Meriems Kanu glitt bereits zum Uferdickicht. Ein paar Sekunden noch, und sie konnte sich an den überhängenden Ästen ans Land ziehen.
Malbihn schrie, sie solle halten. Er war außer sich vor Ärger, als sie nicht auf ihn hörte, riß sein Gewehr an die Schulter, zielte rasch und drückte ab. Doch vergeblich – das Mädchen hatte sich in kühnem Schwung gerettet.
Der Schwede war an sich ein ausgezeichneter Schütze. Unmöglich, daß er auf so geringe Entfernung danebengeschossen hätte, wäre nicht in dem Augenblick, in dem er den Finger am Abzug krümmte, ein Zittern und Schütteln durch sein Boot gegangen, dem ... Meriem nun ihr Leben zu verdanken hatte. Das Kanu war just in jener entscheidenden Minute mit dem Bug auf einen im Schlammgrund verankerten und mit seinem anderen Ende dicht unter der Wasseroberfläche schwimmenden halbmorschen Baumstamm aufgefahren und mit einem Ruck zur Seite geworfen worden. Kein Wunder also, daß der Schuß danebenging. Die Kugel pfiff an Meriem vorbei und landete in irgendeinem Urwaldriesen.
*
Ein befreites Lächeln huschte über Meriems Antlitz, als sie vom hohen Baumpfad herabglitt, um die kleine Lichtung, auf der einst Eingeborene gewohnt haben mußten, zu überqueren. Wohl standen hier und da noch ein paar dürftige Hütten, aber Wind und Wetter hatten schon das ihre getan und im Verein mit den üppig wuchernden Tropengewächsen die sicher einst blühende Siedlung zu trostloser Wildnis gewandelt. Meriem mußte sehen, wie sie die Lichtung am schnellsten hinter sich bekam, und wählte deshalb entschlossen den Pfad, der einst wohl die breite Dorfstraße gewesen sein mochte. Wenn sie geahnt hätte, daß sie doch nicht allein war, daß hinter halbzerborstenen Wänden und aus zusammengesunkenen Vorratshütten hier und da und überall lauernde Augen jeder ihrer Bewegungen folgten!
*
Eine Meile östlich vom Flußlager Malbihns arbeiteten sich zwei halberschöpfte Wanderer mühsam durch die Dschungel. Da ... ein Schuß. Der Mann im zerfetzten Khakianzug blieb sofort stehen und horchte. Bleich und verstört sein Gesicht, die Haare wirr durcheinander – er mußte Schreckliches hinter sich haben. Auch der Schwarze, der ein paar Schritte voraus war, hielt jetzt.
Wir haben nicht mehr weit, Herr! sagte er, und in dem Ton seiner Stimme wie in seiner ganzen Haltung lag etwas Beruhigendes. Der Schwarze schien seinen Herrn sehr zu schätzen.
Der Mann im Khakianzug nickte nur und wies nach der Richtung, in der der Schuß gefallen war. Es ging also weiter.
Der Mann im Khakianzug: Kein anderer war es als der verwöhnte Mr. Morison Baynes und – doch ein anderer! Hände und Gesicht zerkratzt und mit blutigen Schrammen, geschwärzt vom Kampf mit der Dschungelwildnis, fast in Lumpen gehüllt – nicht mehr der Baynes in der Übereleganz und dem überlegenen Auftreten von einst, nein, ein Mann, geadelt und gereift im Ringen mit sich selbst und mit den Urgewalten der afrikanischen Wildnis.
In jedem Menschen – und mag es noch so ein Schwächling sein – glimmt tief im Innern ein Fünkchen Mut und Ehrgefühl und ein Gewissen. Reue, bittere Reue und das brennende Verlangen, ein schweres Anrecht wieder gut zu machen, hatten in Mr. Morison die Bahn geebnet.
Der Schwarze war nicht bewaffnet, denn Baynes hatte ihm, trotzdem er selber das Gewehr oft kaum noch schleppen konnte, die kostbare Waffe nicht anvertrauen wollen. Er war sich immer noch nicht ganz klar darüber gewesen, ob der Schwarze nicht plötzlich seine freundliche Gesinnung wieder änderte.
Allein jetzt hieß es auf gut Glück den Versuch wagen; es galt den Kampf mit Malbihn zu bestehen. Die Stunde war da – und der Schwarze würde aller Wahrscheinlichkeit nach die günstige Gelegenheit, dem verhaßten Peiniger manchen Faustschlag heimzuzahlen, mit Freuden begrüßen. Er gab also dem Schwarzen sein Gewehr, während er selbst als gewandter Pistolenschütze sich mit dem handlicheren Revolver begnügen wollte.
Sie waren kaum ein paar hundert Schritte weitergekommen, als mit einem Male lautes Gewehrgeknatter sie von neuem zum Halten brachte. Ein – zwei Minuten dauerte das wilde Feuer an, dann krachte nur noch hier und da ein Schuß, man hörte jetzt deutlich gellende Kampfrufe schwarzer Krieger – und kurz darauf trat völlige Ruhe ein.
Baynes war alsbald weitergestürmt. Mochten alle Teufel da drüben losgelassen sein, er mußte retten, retten, was noch zu retten war. Doch die Dschungel schien stärker als sein fast zu Wahnsinn geballter Kampfwille. Dichter und immer dichter verschlang sich Dickicht in Dickicht, wohl ein Dutzend Mal lief er an, als gälte es ein Hindernis im Sturm zu nehmen, doch immer wieder kam er zu Fall oder verfing sich strauchelnd im Netz der Lianen. Der Schwarze war noch dazu zweimal in eine Sackgasse geraten. Man mußte ein Stück zurück und auf einem Umweg das Ziel zu erreichen suchen.
Endlich eine Lichtung! Der große Strom konnte nicht weit sein. Die Pulse hämmerten. Wie würde alles gehen?
Baynes erkannte sofort, daß einst ein Dorf mit seinem bunten Leben und Treiben die Lichtung ausgefüllt haben mußte, hier, wo jetzt die unersättliche Wildnis ihre grünen Fangarme über wankende Hütten und modrige Trümmer ausbreitete. Auf der einstigen Dorfstraße fanden sie – einen toten Schwarzen. Eine Kugel hatte ihm das Herz durchbohrt. Die beiden fuhren auf und spähten sofort scharf nach allen Seiten. Totenstille ringsum. Alles öde und verlassen, als habe seit Jahren niemandes Fuß dies große Dschungelgrab betreten.
Doch da ... was war das? Es klang wie Ruderschläge. Dann drangen auf einmal auch Stimmen herüber.
Baynes stürzte vorwärts, der Schwarze ihm nach. Das tote Dorf mochte sein, wie es wollte – jetzt war wirklich keine Zeit mehr zu verlieren. In wenigen Minuten hatten sie den Waldstreifen durchquert und bekamen den Blick auf den Strom frei. Zum Teufel, da war ja Malbihn mit seinen Leuten. Auch der Schwarze erkannte seine Kameraden sofort. Man war schon fast drüben am anderen Ufer.
Wie kommen wir hinüber? fragte Baynes kurz. Er fieberte.
Der Schwarze schüttelte bloß den Kopf. Ein Boot schien nicht auf diesem Ufer zu sein. Der Landeplatz war ja drüben. Und schwimmen? Es wäre Selbstmord gewesen, sich den Krokodilen in den Rachen zu werfen.
Zufällig blickte der Schwarze nochmals stromabwärts. Es war ihm aufgefallen, daß da etwas zwischen den auf das Wasser herabhängenden Zweigen hervorschimmerte, etwas ...
Er beugte sich ein wenig seitwärts. Herr, Herr ... flüsterte er und zog Baynes mit sich fort. Der konnte kaum einen lauten Freudenschrei unterdrücken – und in der nächsten Minute schwangen sich beide von schwankendem Ast in das Kanu, in dem Meriem sich vorhin nach diesem Ufer gerettet hatte.
Das Kanu schoß aus seinem Versteck in die Freiheit; der Schwarze ruderte, Baynes hockte vorn im Bug. Der gerade Weg schien der beste. Die da drüben zogen ihre Boote an Land. Malbihn war eben aus seinem Kanu herausgesprungen. Er drehte sich um, als wolle er mit einem raschen Blick den Strom und das andere Ufer noch einmal abtasten. Vielleicht ...
Baynes sah deutlich, wie seine Augen sich weiteten. Malbihn war überrascht. Das konnte ihm niemand übelnehmen. Ein Boot? Der Schwede stieß einen lauten Warnungsschrei aus.
Dann schien es, als hätte er sich wieder in der Gewalt. Ein Boot, und nur mit zwei Leuten bemannt? Was sollten die ihm und seinen Leuten anhaben können! Aber der Weiße? Wer mochte das sein? Wiewohl das Kanu jetzt fast die Strommitte erreicht hatte, und die beiden Insassen vom Ufer aus deutlich zu sehen sein mußten, kam Malbihn nicht der erleuchtende Gedanke. Erst als einer seiner Leute in dem schwarzen Ruderer einen guten alten Kameraden erkannte und seinen Herrn darauf aufmerksam machte, schien Malbihn zu ahnen, wer der Weiße war, wenn er es auch zunächst einfach nicht fassen konnte, wie Mr. Baynes nur in Begleitung eines einzigen Schwarzen ihm bis hierher nachgedrungen sein sollte. Das war doch der reine Hohn. Mr. Morison Baynes – nein, unmöglich.
Und er war es doch! Auch Malbihn mußte sich schließlich überzeugen lassen, daß unter diesen Kleiderfetzen der überängstliche, ja der fast feige Mr. Baynes steckte, der ihm durch die Wildnis gefolgt war, um ..., ja, um ...?
Um mit ihm abzurechnen! ... Es schien unglaublich. Und doch gab es keine andere Lösung für dieses Rätsel, das Malbihn schon mehr als ein Rätsel dünkte. Er zuckte die Achseln. Gut denn. Andere hatten die gleichen Gelüste gehabt. Das war nicht das erste Mal in der langen bunten Afrikakampagne, daß einer sich anmaßte, ihm in die Quere zu kommen. Er faßte sein Gewehr fester und behielt das Kanu mit den beiden scharf im Auge. Man war inzwischen auf Sprechweite herangekommen.
Was wollen Sie hier? rief Malbihn hinüber und hob drohend sein Gewehr.
Baynes sprang auf. Sie Schuft! schrie er und zog blitzschnell seinen Revolver.
Von beiden Seiten krachten Schüsse. Malbihn ließ das Gewehr sinken, seine Rechte griff nach der Brust, er wankte in den Knien und sank nieder.
Baynes stand noch einen Augenblick kerzengerade da – dann fiel er langsam in sich zusammen und blieb auf der Sohle des Bootes liegen.
Der Schwarze am Ruder zögerte unschlüssig. Was sollte er jetzt tun? War Malbihn wirklich tot, konnte er sich unbesorgt zu seinen Kameraden herüberwagen. Im anderen Falle mußte er lieber das jenseitige Ufer wiederzugewinnen suchen. Er hielt daher mit dem Kanu zunächst auf die Strommitte zu. Es würde sich bald zeigen, wie es mit Malbihn stand. Daß sein neuer Herr nun so plötzlich daran hatte glauben müssen, war ihm keineswegs gleichgültig; er hatte ihn in den letzten Stunden achten gelernt.
Mit einem Male glaubte er zu sehen, daß Baynes doch noch atmete. Der Schwarze beugte sich nieder und hob ihn in die Höhe, so daß er wenigstens sitzen konnte. Er fragte ihn auch, wo er getroffen sei, beachtete aber dabei nicht, daß er sich selbst, indessen er so im Boote stand und das Ruder bediente, dem Gegner preisgab. Ein Schuß vom Ufer – und der Neger stürzte in die Fluten und riß das Ruder mit sich in die Tiefe.
Baynes wandte seinen Kopf vorsichtig ein wenig rückwärts: Malbihn war also doch nicht tot. Er hatte sich auf seine Ellbogen gestützt und ... legte von neuem an. Die Kugel schwirrte eine Handbreit über Baynes' Haupt ins Leere, denn der Schwede hatte seine Kräfte doch überschätzt. Er war selber schwer verwundet, an sicheres Zielen war nicht mehr zu denken.
Baynes hatte sich sofort wieder hinter der Bootswand geduckt. Sein Revolver lag mit dem Lauf auf der Oberkante.
Malbihn dies sehen und augenblicklich noch eine Kugel hinüberjagen – war eines. Doch diesmal war Baynes unerschrocken bis zum Äußersten. Sein Zeigefinger umspannte den Abzug, er hob den Kopf über den Bootsrand, zielte, als läge er auf dem Schießstand, und gab Feuer.
Wohl war Malbihn zum zweiten Male getroffen – aber noch immer jagte er Schuß auf Schuß dem mit der Strömung davongleitenden Boote nach. Eine Kugel sauste sogar klirrend in den Bug des Kanus, daß die Holzsplitter flogen. Dann verschwand das Boot in der nächsten Biegung des großen Afi. Der Kampf war zu Ende.