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Kameraden

Es war ein unglücklicher Korak, der am Tage nach jenem mehr als ungastlichen Empfang bei den großen Affen ziel- und planlos durch die Dschungel streifte. Das Herz war ihm schwer vor lauter Enttäuschung, und daß er seiner Rache nicht hatte freien Lauf lassen können, quälte ihn am allermeisten. Verhaßt war ihm mit einem Male alles, was in der Dschungel hauste, und jedem Tier, das ihm in den Weg kam oder auch nur von seinen überreizten Sinnen gewittert oder gehört wurde, bewies er mit erhobener Faust oder zornigem Brummen, daß nicht mit ihm zu spaßen sei. Was den Vater früher an wilden Leidenschaften durchwogt, war jetzt in seiner Allgewalt im Sohne zum Durchbruch gelangt. Monatelanger Kampf unter und mit den Bestien der Dschungel – das war die beste Schule gewesen, in der ihm die vielen kleinen und großen Eigentümlichkeiten der wilden Kreatur rasch in Fleisch und Blut übergegangen, zumal sich der Nachahmungstrieb in jungen Jahren besonders stark geltend macht. –

Akut und Korak drangen nur langsam und sehr vorsichtig vorwärts, denn sie hatten den verräterischen Wind im Rücken und boten damit allen Tieren, ob sie harmlos oder gefährlich waren, bequeme Gelegenheit, sich rechtzeitig für Flucht oder Angriff zu entscheiden.

Plötzlich hielten die beiden – wie auf einen Ruck flogen die Köpfe nach ein und derselben Richtung herum. Wie in Stein gemeißelt standen die beiden da und lauschten gespannt, ohne eine Miene zu verziehen, ohne ein Glied zu rühren. Ein paar Sekunden verharrten sie in dieser Haltung; dann schlich Korak auf den Fußspitzen weiter. Nur einige Meter – und er schwang sich flink hinauf in die Bäume. Akut folgte ihm dicht auf dem Fuße. Völlig lautlos vollzog sich das alles. Nicht ein einziges verdächtiges Zeichen würden Menschenohren wahrgenommen haben, und hätten sie nur zehn oder zwölf Schritte entfernt gelauscht.

Die beiden machten ab und zu wieder Halt und horchten, ehe sie sich weiter von Baum zu Baum dahinschlängelten. Irgend etwas Rätselhaftes mußten sie beide vorhin wahrgenommen haben, denn von Zeit zu Zeit sahen sie einander fragend an, ohne daß einem inzwischen die Lösung des Rätsels gelungen wäre.

Mit einem Male sah Korak einen Palisadenzaun durch das dicke Grün herüberschimmern, nur hundert Meter entfernt, und dann Zelte, spitze Lederzelte, palmenblattgedeckte Hütten ... Ein wildes Brummen kam über seine Lippen ... Die Schwarzen hausten dort ..., ha, wie er dieses Gesindel haßte! – Er bedeutete Akut, einstweilen zu warten, bis er alles genau erkundet habe.

Wehe dem unseligen Dorfbewohner, auf den er, der »Töter«, sich jetzt herabschwingen würde! Leise schlich sich Korak auf den unteren Ästen der Bäume nach dem Dorfe hinüber; bald sprang er leicht, als wenn er flöge, von Ast zu Ast; war aber die Entfernung zwischen dem Dschungelriesen und seinem Nachbar zu groß, so faßte er erst einen Ast, der sich ihm hilfsbereit von drüben entgegenstreckte, und zog sich in kühnem Schwung hinüber.

Er hörte eine Stimme; hinter der Palisadenwand mußte also jemand sein. Er hatte sofort die Richtung heraus. Dort, da drüben mußte es sein, wo jener mächtige Waldriese mit seinen Zweigen über den Palisadenzaun hinüberreichte. Korak kroch hin, den Speer kampfbereit in der Rechten. Seine Ohren sagten ihm, daß ein menschliches Wesen in der Nähe war. Nur einen einzigen Blick auf diesen armen Teufel brauchten seine Augen noch, und dann würde sein Wurfgeschoß wie ein Blitz aus heiterem Himmel auf das Ziel herniedersausen. Schon hatte er den Speer erhoben, als er die Zweige des Riesenbaumes am Dorfrand behutsam auseinanderbog und in atemloser Spannung sein Opfer zu entdecken suchte. Er hörte dieselbe Stimme wie vorhin, nur daß sie jetzt klar und deutlich zu ihm hinaufklang.

Schließlich sah er etwas. War das nicht ein Rücken ...? Seine Rechte holte weit aus, um den Speer mit voller Wucht hinabschleudern zu können.

Aber dann zögerte der »Töter« doch mit einem Male? Er beugte sich vorwärts. Wollte er sein Ziel nur noch besser aufs Korn nehmen, um es ja nicht zu verfehlen? Oder hatten ihn Anmut und weiche Linien dieses kindlichen Körpers jäh aus dem Banne der Dschungelgesetze gerissen?

Vorsichtig senkte er seinen Speer; nicht das geringste Rascheln und Knacken in Blättern und Zweigen durfte er sich erlauben, wenn er ...

Er kroch behutsam noch ein Stück nach vorn und streckte sich, noch immer von dichtem Laubwerk gedeckt, auf einem dicken Aste der Länge nach hin. So, jetzt konnte er bequem auf dieses wunderbare Geschöpfchen hinabsehen, an das er sich ... wie ein Raubtier herangeschlichen, um ... zu töten. Mit weiten, erstaunten Augen blickte er hinab auf ... ein kleines Mädchen mit nußbrauner Haut.

Kein brummender Laut kam jetzt über seine Lippen; er hatte vorläufig nur das eine Ziel, aus den Bewegungen und Worten des Mädchens herauszufinden, womit es sich eigentlich beschäftigte. Plötzlich huschte ein frohes Lächeln über sein Gesicht: Das Mädchen hatte sich etwas zur Seite gedreht und ihm so auch den Blick auf Geeka freigegeben, auf Geeka mit dem Elfenbeinkopf, dem Rattenfelltorso und den Beinen und Armen aus Holz, – auf die ganze häßliche Geeka! Die Kleine drückte das arg zerzauste Puppengesichtchen fest an ihre Wangen und sang Geeka leise ein schwermütiges arabisches Wiegenlied, wobei sie sich in den Hüften drehend vor und zurück bewegte. Ein milder Schimmer lag jetzt über den Augen des »Töters«, als er eine volle Stunde unverwandt auf das spielende Kind hinabblickte, ohne daß ihm die Zeit zu lang geworden wäre. Leider hatte er noch nicht ein einziges Mal der Kleinen richtig ins Gesicht schauen können. Wohl sah er das üppige schwarze Haar, das von ihrem Köpfchen herabwallte; er sah auch eine kleine braune Schulter, und zwar dort, wo ihr einziges Gewand lose zusammengeknüpft war –, und dann ein schöngeformtes Knie, das von ihrem Gewand nicht mehr bedeckt wurde, als sie mit übereinandergekreuzten Beinen im Grase hockte. Wie sie dann die unfolgsame Geeka mit mütterlicher Strenge zurechtwies, neigte sich ihr Kopf ab und zu ein wenig seitwärts und ließ eine rundliche Wange oder das kleine, hübsche Kinn erkennen. Jetzt drohte sie Geeka mit dem Finger, – doch der Rüge folgten sofort neue Liebkosungen: Sie drückte dieses kleine stumme Wesen wieder an ihr Herz. O, das schien ihr doch das Schönste zu sein, die reiche Überfülle ihres kindlichen Gemüts an Geeka zu verschwenden! –

Korak schien inzwischen sein blutiges Vorhaben ganz vergessen zu haben. Seine Finger hielten die schreckengebietende Speerwaffe nicht mehr so fest wie im Anfang umklammert, ja, mit einem Male wäre der Speer fast unversehens seiner Hand entglitten. Das war der Augenblick, in dem der »Töter« sich wieder auf sich selbst besann. Er mußte wieder daran denken, daß Rachgier ihn aus heimlichen Schleichwegen dem Klang dieser Stimme da unten hatte folgen lassen, und blickte gleichsam prüfend auf seinen Speer mit dem kräftigen, gut erhaltenen Schaft und dem grausamen, spitzen »Haupt«. Von da wanderten seine Augen wieder hinunter zu dem feinen Geschöpf mit den zarten Formen. Er stellte sich vor, wie es sein müßte, wenn sein schweres Geschoß hinabsauste, wie die lächerliche Puppe aus den Armen der Kleinen hinabpurzelte und rührend hilflos, Arme und Beine von sich gestreckt, neben dem wunden Mädchen liegen blieb. Der »Töter« schauderte und warf einen finsteren Blick auf Holzschaft und Eisenspitze seines Speeres, als hätten sie Leben, und als sprächen aus ihnen jene bösen Gedanken, die eben wieder sein Gehirn durchzuckt hatten.

Korak fragte sich, was das Mädchen wohl tun würde, wenn er jetzt plötzlich von seinem Baumversteck zu ihm hinabspränge. Sie würde sicher schreiend Reißaus nehmen und dann mußten die männlichen Dorfbewohner mit Speeren und Gewehren sogleich über ihn herfallen. Töten würden sie ihn oder zu Gefangenschaft und Folter wegschleppen ... Es war zu dumm!

In Wirklichkeit hatte ihn nämlich auf einmal schon wieder die Sehnsucht gepackt, mit Menschen, richtigen Menschen gut Freund zu sein ..., wenn er es sich auch erst nicht eingestehen wollte. Ja, er wäre am allerliebsten hinabgeschlüpft, hin zu dem kleinen Mädchen und hätte mit ihm geplaudert, wiewohl er vorhin aus dem kindlichen Plappern gemerkt hatte, daß es eine ihm völlig unbekannte Sprache sprach. Vielleicht würden sie sich wenigstens durch Zeichen verständigen können? Das wäre schließlich besser als nichts, und dann ... Er hätte doch zu gern der Kleinen mal richtig ins Gesicht geschaut! Soviel er flüchtig erhascht, mußte sie ein nettes Ding sein. Den tiefsten Eindruck hatte es aber auf ihn gemacht, wie die Kleine das komische Püppchen so zärtlich bemutterte, und wie sich darin ihr Gemüt so deutlich widerspiegelte.

Ein Gedanke kam ihm. Wie, wenn er ihre Aufmerksamkeit erst irgendwie auf sich lenkte und ihr dann aus einiger Entfernung freundlich zulächelte und ihr damit versicherte, daß sie sich vor ihm nicht zu fürchten brauche? Er schlängelte sich vorsichtig wieder von seinem Ausguck in das dichtere Geäst des Baumes zurück, das diesseits der Palisade lag. Wenn er sie jetzt von hier aus anrief, würde sie sicher nicht gleich erschreckt davonlaufen, weil sie ja die feste Palisadenwand zwischen sich und dem Fremdling wußte.

Kaum hatte er indessen den Rückweg angetreten, als von dem entgegengesetzten Dorfende lautes Stimmengewirr herüberhallte und seine ganze Aufmerksamkeit auf sich zog. Er beugte sich ein wenig nach vorn. Was war das? Männer, Frauen und Kinder rannten nach dem am Ende der Dorfstraße liegenden Tore. Das Tor flog auf; er sah sofort, daß eine Karawane Einlaß begehrt hatte. Und schon strömte der bunte Schwarm herein: Schwarze Sklaven und braune Araber aus der nördlichen Wüste, Kameltreiber, die unter lauten Verwünschungen auf ihre geplagten Lasttiere einhieben, schwerbeladene Esel, die ihre Ohren trübselig herunterhängen ließen, indessen sie in stummem Gleichmut und bewundernswerter Langmut die Schläge ihrer Herren duldeten, dahinter Ziegen, Schafe und Pferde. Allen voran ritt ein hochgewachsener, stattlicher alter Mann. Mit finsterer Miene und ohne den Gruß der vor ihm zurückweichenden Menge zu erwidern, schlug er den Weg nach einem großen Lederzelt in der Mitte des Dorfes ein und sprach dort mit einer runzeligen alten Frau.

Korak konnte von seinem Ausguck aus alles genau beobachten. Er sah, wie der Alte an das schwarze Weib ein paar Fragen richtete, und wie diese Hexe dann nach dem abgelegenen Dorfwinkel zeigte, der von der Hauptstraße aus nicht übersehen werden konnte, weil die Zelte der Araber und die Hütten der Eingeborenen davor lagen. Soviel sich erkennen ließ, hatte die Alte den Platz um den Baum gemeint, unter dem das kleine Mädchen noch spielte. Zweifellos war das der Vater der Kleinen, dachte Korak. Er war lange fortgewesen, und sein erster Gedanke daheim galt nun dem Töchterchen. Wie würde sie sich freuen, wenn sie ihn wiedersah! Sie würde auf ihn zurennen und sich ihm in die Arme werfen, und er, o, er würde sie an sein Herz drücken und sie mit Küssen bedecken. Korak seufzte. Er mußte an Vater und Mutter im fernen London denken ...

Leise kletterte er auf den dicken Ast zurück, von dem aus er vorhin dem Mädchen bei seinem Spiel zugeschaut. Blieb ihm auch jetzt ein glückliches Wiedersehen mit den Seinen versagt, so wollte er sich doch wenigstens am Glücke anderer mitfreuen. Und wenn es gar gelang, mit dem Alten Bekanntschaft anzuknüpfen, würde er vielleicht bereit sein, ihn im Dorfe bei nächster Gelegenheit als seinen guten Freund einzuführen, und das lohnte einen Versuch. Er würde natürlich erst abwarten, bis der alte Araber seine Tochter begrüßt hätte; aber dann würde er sich unverzüglich bemerkbar machen und ihm unter Beteuerung seiner friedlichen Absichten nahen.

Der Alte schlich langsam herüber. Im nächsten Augenblick mußte er schon neben sein Töchterchen treten ... Wie überrascht und froh die Kleine sein würde! Koraks Augen strahlten; es war ihm, als erlebe er diese Wiedersehensfreude selbst. Der Alte stand jetzt dicht hinter dem kleinen Mädchen. Merkwürdig, über sein altes finsteres Gesicht huschte nicht der matteste Freudenschimmer. Die Kleine sprach noch immer mit ihrer stummen Geeka, sie ahnte gar nicht, daß jemand zu ihr getreten. Da hustete der Alte, und wie auf einen Ruck blickte das erschrockene Kind über seine Schulter zu ihm hinauf. Korak sah jetzt endlich das hübsche Gesicht der Kleinen ganz. Wie rührend kindlich-unschuldvoll alles, und diese weichen lieblichen Linien, diese großen dunklen Augen! Wie mußte es erst sein, wenn nun der Glanz der Wiedersehensfreude in diese Augen kam, wenn sie sich dem Vater in die Arme warf! Doch es kam anders. Entsetzen und geradezu wahnsinniger Schrecken spiegelte sich in ihren Augen, auf ihrem Munde und in ihrer geduckten Haltung. Ein hämisches Lächeln umflog die schmalen Lippen des Arabers. Das Kind suchte seinen drohend fuchtelnden Armen zu entrinnen, doch da hatte er die Kleine schon mit einem Fußtritt ins Gras geschleudert, so daß sie sich vor Schmerzen wand. Er sprang ihr sogar nach, um sie mit festem Griff zu packen und zu schlagen.

Allein über ihnen im Geäst hockte mit einem Male statt des harmlosen Jungen eine Bestie, die alles genau beobachtete, – eine Bestie mit aufgeblähten Nüstern ...

Eben bückte sich der Scheich, um das Mädchen zu packen, als der »Töter« wie ein Blitz aus heiterem Himmel von seinem Baumsitz herabsprang und dicht neben ihm zu stehen kam. Seinen Speer hatte er zwar in der Linken, doch schien er ihn ganz vergessen zu haben, denn er ging mit der geballten Rechten auf den Scheich los. Der war, starr vor Entsetzen ob dieser Erscheinung, die sich wie auf einen Schlag anscheinend aus der Luft hervorgezaubert hatte, einen Schritt zurückgewichen, doch schon sauste Koraks schwere Faust auf ihn. Der junge Riese hatte die volle Wucht seines stattlichen Körpers und seine ganze schreckengebietende übermenschliche Muskelkraft bei diesem unerwarteten Vorstoß eingesetzt und – gut getroffen.

Bewußtlos sank der Scheich zu Boden. Korak wandte sich zu dem Kind, das sich mühsam wieder aufgerichtet hatte und die großen angsterfüllten Augen erst auf ihn und dann mit einem Ausdruck wildester Verzweiflung auf den jäh zusammengebrochenen Scheich richtete. Ganz unwillkürlich legte der »Töter« einen Arm um die Schultern des Mädchens, als wolle er ihm damit bedeuten, daß es sich unter seinem Schutze vor nichts zu fürchten brauche, und schien zu warten, ob der Araber wieder zur Besinnung kam. Sie hatten ein paar Sekunden so aneinandergelehnt, bis die Kleine das Wort nahm.

Sowie er wieder bei Bewußtsein ist, wird er mich tot machen, stieß sie auf Arabisch hervor.

Korak verstand sie nicht. Er schüttelte den Kopf und suchte sich erst auf Englisch und dann in der Sprache der großen Menschenaffen mit ihr zu verständigen, doch beide Male vergeblich. Sie bückte sich vorwärts und berührte den Griff des langen Dolches, den der Araber im Gürtel trug. Dann hob sie ihre Hand hoch über ihren Kopf und ließ sie, als ob sie den Dolch fest umklammert hielte, gegen ihre Brust niedersausen. Korak begriff: Der Alte wollte sie töten! Das Mädchen trat wieder dicht an Korak heran. Sie zitterte wie Espenlaub – und doch, vor ihm schien sie sich nicht zu fürchten. Und warum hätte sie auch Angst vor ihm haben sollen? Er hatte sie ja vor den Mißhandlungen des Scheichs gerettet; nie hatte ihr jemand solch einen Freundesdienst getan, soweit sie sich entsinnen konnte. Sie blickte jetzt zu ihm auf. Er hatte doch ein schönes offenes Jungengesicht, und nußbraun war es, wie ihres auch. Dann bewunderte sie das gesprengelte Leopardenfell, das seinen schlanken biegsamen Körper von der einen Schulter bis zu den Knien deckte. Und obendrein der blinkende Metallschmuck! Sie beneidete ihn um die Fußringe und Armspangen, denn sie hatte sich schon immer so etwas gewünscht. Aber der Scheich hatte nichts Derartiges geduldet; nur das einfache Baumwollgewand, das kaum den notdürftigsten Schutz gewährte, hatte man der kleinen Meriem gegeben. Felle, Seidenzeug und Schmuck waren nur für die anderen da.

Und Korak schaute auch Meriem ins Gesicht. Er hatte Mädchen eigentlich immer ein wenig geringschätzig betrachtet; seine Altersgenossen, soweit sie den Mädchen nachblickten oder ihnen gar den Hof machten, waren in seinen Augen überhaupt keine richtigen Jungens gewesen. Was sollte er aber jetzt anfangen? Er konnte sie doch nicht einfach im Stich lassen, denn der alte Araber würde sie zweifellos schlagen, daß ihr Hören und Sehen verginge, wenn er sie nicht gar gleich totschlüge. Nein, niemals würde er das dulden. Aber war es denn anderseits möglich, sie mit in die Dschungel zu nehmen? Was sollte er anfangen, wenn die Bestien der Dschungel zum Kampfe riefen, und er dann das schwache schreckhafte Mädchen bei sich hatte? Vor ihrem eigenen Schatten würde sie ja erzittern, wenn der Mond über der Dschungel aufging, und die großen Bestien fauchend und brüllend durch die Nacht streiften.

Ein paar Minuten stand er in Gedanken versunken da, indessen das Mädchen mit fragendem Blick zu ergründen suchte, was sich hinter der Stirn ihres Retters abspielte. Auch Meriem dachte an die Zukunft. Sie fürchtete sich vor der Rache des Scheichs, wenn sie nun allein zurückbleiben mußte. Zu wem konnte sie sich denn in ihrer Todesangst flüchten? Niemand auf der weiten Welt bot solche Hilfe, wie sie eben dieser halbnackte Fremdling gewährt, als er sich wie durch ein Wunder plötzlich aus den Wolken herabgestürzt und ihr die gewohnten Schläge und Fußtritte des Scheichs wenigstens für den Augenblick erspart hatte. Ob dieser gute Freund nun ging? Fast bettelnd forschte sie in seinen Zügen, in denen sich noch immer nichts regte. Sie lehnte sich ein wenig dichter an ihn, und eine schlanke braune Hand legte sich auf seinen Arm. Die unerwartete Berührung scheuchte ihn aus seinem tiefen Nachdenken auf, er blickte hinab zu ihr, und als er seinen Arm um ihre Schultern schlang, sah er ein paar Tränen an ihren Wimpern.

Komm, sagte er. Die Dschungel hat eher noch Erbarmen als die Menschen. Du sollst mit in der Dschungel leben; Korak und Akut werden dich beschützen.

Zwar verstand sie seine Worte nicht, aber als er nun seinen Arm fester um sie legte und sie von dem immer noch besinnungslosen Araber und damit auch aus dem weiteren Bereich der Zelte und Hütten wegzog, war ihr alles klar. Sie barg einen Arm in dem weichen Fell um seine Hüften und folgte ihm. Dicht am Palisadenzaun, unter dem großen Baum, von dem aus Korak das Mädchen beim Spielen beobachtet hatte, hob er sie auf seine Arme, legte sie dann über eine Schulter und sprang behend hinauf auf die unteren Äste. Ihre Arme hatten sich um seinen Hals geschlungen, und aus der einen kleinen Hand baumelte Geeka über seinen straffen Rücken herab.

Die beiden waren noch gar nicht so weit vom Dorfe weg, als das Mädchen plötzlich den großen Akut in seiner ganzen urgewaltigen Erscheinung gewahrte. Mit einem halberstickten Aufschrei schmiegte sie sich noch dichter an Korak und zeigte entsetzt auf den Riesenaffen.

Akut hatte gemeint, daß der »Töter« mit einem Gefangenen zurückkehrte, und kam brummend auf die beiden zu; denn für ein kleines Mädchen hatte er im Grunde seines Affenherzens nicht mehr übrig als für ein ausgewachsenes Affenmännchen, das ihm jetzt in den Weg gekommen wäre: Sie war für ihn überflüssig und mußte schon deshalb einfach getötet werden. Seine Fangzähne fletschten gierig, als er immer näher heranrückte, und er wunderte sich nur, daß der »Töter« mit drohendem Gebrumm ihm die Zähne zeigte.

Aha, dachte Akut, der »Töter« hat sich eine »Frau« genommen! Er wollte die beiden gerade allein lassen, um sie – getreu den ungeschriebenen Gesetzen seines Stammes – nicht in ihrem Glück zu stören, als er eine recht fette, saftige Raupe entdeckte, die er sich denn doch nicht entgehen lassen mochte. Nach diesem Leckerbissen konnte er es sich schließlich nicht verkneifen, noch einen raschen Seitenblick auf Korak zu riskieren. Der Junge hatte seine zarte Last auf einem breiten Ast abgesetzt, an den sie sich vor lauter Angst, daß sie fallen könnte, wie verzweifelt festklammerte.

Sie wird uns begleiten, wandte sich Korak an Akut und wies mit dem Daumen in der Richtung, in der das Mädchen in den Zweigen hockte. Wir wollen sie beschützen!

Akut fuhr entsetzt zurück. Sich solch ein junges Menschenkind aufzuhalsen, das war denn doch nicht sein Fall. Wenn er sah, wie sie offenbar in Todesangst sich dort am Aste festhielt und mit schreckensweiten Augen zu ihm herüberblickte, hatte er schon genug. Sie taugte nicht hierher, und nach Akuts Auffassung von Recht und Unrecht, wie er sie ererbt hatte oder seinen reichen Erfahrungen verdankte, mußte jeder Untüchtige einfach aus der Reihe der Lebenden getilgt werden. Allein der »Töter« hatte sie zur Gefährtin begehrt, und da würde ihm nichts weiter übrig bleiben als sie zu dulden.

Akut selbst empfand nicht die geringste Zuneigung für sie; das stand fest. Ihre Haut war ihm viel zu glatt und nicht einmal behaart. Wie eine Schlange kam sie ihm vor – und dann das Gesicht! Was ihm daran hätte gefallen sollen, wußte er wirklich nicht. Da war doch die Äffin, die es ihm vergangene Nacht im Amphitheater der Affen besonders angetan, eine Schönheit dagegen! Ah, das wäre etwas für ihn gewesen: die großen feurigen Lippen, die reizenden gelben Fangzähne und dieser so weiche gestutzte Seidenbart. Akut seufzte. Dann erhob er sich und stolzierte mit geschwellter Brust auf einem dicken Ast auf und ab; die winzige »Frau« Koraks sollte nun endlich mal seinen feinen Pelz und seine ganze graziöse Haltung bewundern lernen.

Die kleine Meriem schmiegte sich indessen nur noch mehr an Korak. Sie wünschte sich fast wieder in das Dorf und zu dem Scheich zurück, denn das, was dort drohte, waren ja mehr oder minder bekannte Qualen, die sie wenigstens von Menschenhand über sich ergehen lassen mußte. Aber dieser furchtbare Affe? Nein, vor dem hatte sie eine geradezu wahnsinnige Angst. Was für ein Koloß das war, und wie wild er sich gebärdete! Und als er jetzt auf seinem Ast herumtanzte, meinte sie, er wolle ihr damit nur noch schlimmer drohen. Wie hätte sie auch ahnen sollen, daß er sich gerade mal selbst gefiel und mit seinen beinahe gezierten Bewegungen auch ihre Bewunderung herausfordern wollte! Und dann wußte sie ja auch nichts um die Freundschaft, die dieses große Affentier mit ihrem jungen Helden verband, der sie aus den Klauen des Scheichs befreit hatte.

Meriem verbrachte einen Abend und eine ganze lange Nacht in tausend Ängsten, indessen Korak und Akut sie auf der Suche nach geeigneter Nahrung durch ein wahres Dschungellabyrinth mitschleppten.

Einmal versteckten die beiden sie oben im dichten Geäst eines Baumes und pirschten sich dann an einen Bock heran, den man in einiger Entfernung gesichtet. War es für sie schon entsetzlich, sich in der schaurigen Dschungel auch nur für kurze Zeit ganz allein zu wissen, so wurde ihre Angst nur noch größer, als sie sah, wie der Junge und das Affentier sich gleichzeitig über ihr Opfer stürzten und es zu Boden zerrten, wie ein tierisches Brummen über die Lippen ihres Beschützers kam und sein hübsches Gesicht verzerrte.

Sie fuhr zurück, als er dann zu ihr kam und ihr ein Stück noch warmen Fleisches reichte. Korak konnte erst gar nicht fassen, warum sie mit einem Ausdruck des Abscheus auf diesen Leckerbissen verzichtete, aber im nächsten Augenblick schwang er sich wieder in das Walddickicht hinab und kehrte bald mit Früchten beladen zurück. Sie hatte nun allen Grund, zufrieden zu sein, wich auch nicht wieder wie vorhin zurück, sondern verzehrte die erfrischende und stärkende Kost mit Behagen, nachdem sie ihm mit einem Lächeln gedankt, das den seit Monaten mit freundlichen Blicken nicht gerade verwöhnten Jungen reichlicher belohnte, als sie ahnte.

Man mußte nun auch an die Nachtruhe denken, und diese Frage machte Korak einiges Kopfzerbrechen. Er wußte, daß das Mädchen im Schlafe unmöglich oben in der Astgabel eines Baumes das Gleichgewicht so sicher halten konnte, wie er und Akut es gewohnt waren. Anderseits war es zu gefährlich, sie unten im Grase zu betten, wo sie nur zu leicht ein Opfer beutehungriger Raubtiere wurde. Es blieb nur eine Lösung, die sich eigentlich von selbst verstand: Er mußte Meriem in seinen Armen bergen.

Und so wurde es auch. Akut hielt sie an dem einen Arm fest und er an dem anderen; sie lag leidlich bequem zwischen ihren beiden Beschützern und konnte sich wenigstens auch etwas wärmen.

Erst hatte sie zwar die halbe Nacht kein Auge zugetan, aber schließlich forderte der todmüde Körper sein Recht und nahm ihr alle Angst vor dem tiefen Abgrund unten und dem zottigen wilden Affentier neben ihr in einem festen erquickenden Schlummer. Längst waren die Schatten der Nacht dem strahlenden Tagesgestirn gewichen, als sie ihre Augen das erste Mal wieder aufschlug. Zunächst meinte sie noch zu träumen. Ihr Kopf war im Schlafe von Koraks Schulter gesunken, und so fiel ihr erster Blick beim Erwachen auf den schwarzen dichtbehaarten Rücken des Affen. Sie fuhr entsetzt zurück, doch dann spürte sie, daß jemand sie festhielt, und, wie sie den Kopf nach der anderen Seite wandte, sah sie in die warmen leuchtenden Augen des Jungen. Er lächelte? Da brauchte sie sich vor ihm also nicht zu fürchten und konnte wenigstens von dem rauhen Pelz ihres ungemütlichen Nachbarn zur Rechten etwas abrücken.

Sie schmiegte sich dichter an Korak, der sogleich in der Menschenaffensprache ein paar Fragen an sie richtete, die jedoch von ihr nur mit Kopfschütteln beantwortet werden konnten. Ebenso erging es ihr, als sie sich mit ihm zu verständigen suchte. Arabisch war für ihn, genau wie ihr die Affensprache, wie ein Buch mit sieben Siegeln.

Akut wurde wach und richtete sich auf. Er verstand zwar, was Korak sagte, doch was das Mädchen redete, war in seinen Augen nur ein närrisches, ja beinahe lächerliches Geplärr, dem er keinen Sinn abzugewinnen vermochte. Akut konnte einfach nicht begreifen, was Korak für dieses sonderbare Wesen so einnahm. Er starrte Meriem eine ganze Weile an und schien geneigt, sich ein gewissenhaftes Urteil über Wert oder Unwert dieses Neulings zu bilden. Dann sprang er jedoch mit einem Male auf, kratzte sich hinter dem Kopf und schüttelte sich wie toll.

Meriem war ob dieser plötzlichen Ruhestörung zusammengefahren; sie hatte im Augenblick gar nicht mehr an den Affen gedacht, wich aber sofort erneut vor ihm zurück. Akut merkte nun gleich, daß sie vor ihm Angst hatte, ja es gab ihm – seinem Tierverstand entsprechend – direkt Spaß, daß er dem Mädchen durch seine bloße Anwesenheit einen gelinden Schrecken einjagen konnte. Er duckte sich dann und streckte seine mächtige Affenhand vorsichtig nach ihr aus, als wolle er das Mädchen zu sich herüberziehen. Meriem rückte noch mehr von ihm ab.

Akuts Augen verfolgten mit Spannung den weiteren Verlauf der lustigen Neckerei; es entging ihm dabei jedoch, daß der Junge jede seiner Bewegungen scharf beobachtete – wie sein Hals immer kürzer wurde, und so seine breiten hochgezogenen Schultern darauf hindeuteten, daß er sich zu einem Vorstoß gegen den zudringlichen Affen rüstete. Der Affe wollte denn auch das Mädchen gerade am Arm fassen, als Korak mit einem kurzen unwilligen Brummlaut auf ihn zufuhr.

Meriem sah nur, wie eine geballte Faust mit voller Wucht dem völlig verdutzten Akut auf die Schnauze sauste. Ein wahnsinniges Gebrüll, der Menschenaffe taumelte zurück und stürzte vom Baume ab.

Korak sandte ihm eben noch ein paar wutfunkelnde Blicke nach, als es plötzlich ganz nahe unten im Dickicht raschelte. Auch das Mädchen wurde stutzig, doch sah sie nur Akut, der nicht gerade bei bester Laune war und sich mühsam wieder aufzurichten versuchte. Dann schoß auf einmal – wie ein von einer Armbrust abgeschnellter Bolzen – eine gelbgesprenkelte Masse auf Akuts Rücken zu: Sheeta, der Leopard.


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