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Es war gegen Mittag des nächsten Tages und das Forum von Geschäftigen und Müßigen vollgedrängt. Wie heutigen Tags in Paris, so lebten damals in den Städten Italiens die Menschen fast ganz außerhalb des Hauses. Die öffentlichen Gebäude, das Forum, die Säulengänge, die Bäder, selbst die Tempel, konnten als ihre eigentlichen Wohnungen gelten. Kein Wunder, daß sie diese beliebten Versammlungsorte mit so vieler Pracht ausschmückten. So bot denn auch das Forum Pompejis einen belebten Anblick dar. Hier saßen in sieben Buden aus der einen Seite der Kolonnade die Geldwechsler, vor sich ihre glänzenden Münzhaufen, Schiffer und Kaufleute in mannigfaltigen Trachten um ihre Tische gedrängt. Auf der anderen Seite eilten Rechtsgelehrte in langen Togen einem stattlichen Gebäude zu, worin die Magistrate zu Gerichte saßen. Die Mitte des Platzes schmückten verschiedene Statuen, von denen sich jene des Cicero besonders auszeichnete.
In der das Gerichtsgebäude umgebenen Säulenhalle übten zahlreiche Kleinhändler ihr Gewerbe aus. Während ein Koch mit einem ambulanten Ofen die Produkte seiner Kunstfertigkeit feilbot, setzte dicht neben ihm ein Schulmeister seinen schüchternen Zöglingen die Anfangsgründe der lateinischen Sprachlehre auseinander.
Auf der entgegengesetzten Seite des Forums erhob sich der Jupitertempel, dessen Stufen ernst aussehende Senatoren emporstiegen, da sein Inneres zu ihrem Versammlungsort diente. Hart neben dem Tempel zeigte sich ein Triumphbogen, welcher die Perspektive in eine langgestreckte, von Menschen wimmelnde Straße eröffnete. In einer der Bogennischen spielte ein Springbrunnen lustig in den Sommerstrahlen, und über dem Karnies dunkelte, in kräftigem Gegensatz mit dem luftigen Sonnenhimmel, die eherne Reiterstatue Caligulas.
Den Stufen des Jupitertempels gegenüber stand mit gefalteten Armen und gefurchter, verachtender Stirn ein Mann von ungefähr fünfzig Jahren. Sein braunes Gewand war auffallend einfach. Sein Vorderhaupt war kahl, und die wenigen Locken seines Hinterkopfs wurden durch eine Art Kapuze bedeckt. Mit Verachtung blickte er auf eine religiöse Prozession, welche, von einem Bellonapriester geführt, nach dem entfernten Tempel der Göttin sich langsam dahinbewegte. Der Spott und Hohn seines Blicks entging einer Gruppe ihn beobachtender Neugieriger nicht, und einer der letzteren fragte seinen Nachbar, einen Juwelier:
»Wer ist jener Zyniker?«
»Es ist Olinth,« lautete die Antwort, »ein verrufener Nazarener.«
Der Kaufmann schauderte. »Eine entsetzliche Sekte,« sprach er mit leiser, ängstlicher Stimme. »Man sagt, bei ihren nächtlichen Zusammenkünften fingen sie ihre Zeremonien jedesmal mit der Ermordung eines neugeborenen Kindes an. Auch haben sie Gütergemeinschaft! Was würde aus uns Händlern werden, wenn solche Begriffe in die Mode kämen!«
»Das ist sehr richtig,« erwiderte der Juwelier; »übrigens tragen sie keine Juwelen und murmeln Verwünschungen, wenn sie eine Schlange zu Gesicht bekommen, da doch in Pompeji alle unsere Zieraten Schlangengestalt haben.«
»Sieh einmal,« sprach ein dritter, ein Erzarbeiter, »wie jener Nazarener den heiligen Dienst des Opferzuges verhöhnt! Gewiß brummt er Flüche auf den Tempel. Weißt du, Celsinus, daß dieser Bursche, als er neulich an meiner Werkstätte vorbeiging und mich mit einem Standbild der Minerva beschäftigt sah, mir mit Stirnrunzeln sagte: Wäre die Statue Marmor, so würde er sie zerbrochen haben, aber das Erz sei zu fest. – ›Eine Göttin zerbrechen!‹ rief ich. ›Eine Göttin?‹ erwiderte der Atheist, ›eine Dämonin ist es, ein böser Geist.‹ Damit ging er unter Verwünschungen seines Weges. Soll man sich so etwas gefallen lassen? Was wunder, daß die Erde in vergangener Nacht so furchtbar erbebte, als wollte sie den Atheisten aus ihrem Schoß werfen. Ein Atheist, sag ich? Noch ärger, ein Verächter der schönen Künste! – Wehe uns Erzarbeitern, wenn solche Gesellen den Ton angeben!«
»Das sind die Mordbrenner, die unter Nero Rom ansteckten,« seufzte der Juwelier.
Während dieser unliebsamen Bemerkungen über das Aussehen und den Glauben der Nazarener wurde Olinth den Eindruck, den er hervorgebracht, selbst gewahr. Er warf der Menge einen verächtlich mitleidigen Blick zu, hüllte sich fester in seinen Mantel und schritt langsam durch das Gewühl. Er hatte soeben einen der Ausgänge des Forums erreicht, als er auf Apäcides stieß, der in ein Pallium gehüllt war, das sein priesterliches Gewand zum Teil verbarg.
»Friede sei mit dir,« redete Olinth den Jüngling an, dessen ungewöhnlich bleiches Gesicht ihm auffiel.
»Friede?« wiederholte der Priester mit so hohler Stimme, daß sie dem Nazarener durchs Herz ging.
»In diesem Wunsch,« fuhr Olinth fort, »ist alles Gute vereinigt. Ohne Tugend kannst du keinen Frieden haben. Wie der Regenbogen steht der Friede auf der Erde aus, aber seine Wölbung verliert sich in dem Himmel.«
»Ach,« seufzte Apäcides, brach aber ab, das Angaffen der neugierigen Umherschlenderer gewahr werdend, die gar zu gern gewußt hätten, was wohl Gegenstand des Gesprächs zwischen einem verrufenen Nazarener und einem Isispriester sein möge. »Wir können hier nicht miteinander sprechen,« flüsterte er Olinth zu, »ich will dir ans Ufer des Flusses nachkommen; dort ist ein Spaziergang, der um diese Zeit gewöhnlich von niemand besucht wird.«
Olinth nickte zustimmend. Mit hastigem Schritt, aber regem, aufmerksamem Auge ging er durch die Straßen. Da und dort wechselte er einen bedeutsamen Blick, ein leichtes Zeichen mit einem der Vorübergehenden, der seiner Kleidung nach gewöhnlich zu den niedrigeren Ständen gehörte; denn das Christentum war darin ein Vorbild aller anderen Revolutionen, daß das Senfkorn in den Herzen der Unangesehenen wucherte.
Gefolgt von Apäcides, erreichte der Nazarener das Ufer des Sornus. – Dieser Fluß, der jetzt zu einem Bach eingeschrumpft ist, rauschte damals freudig in das Meer, bedeckt mit zahllosen Fahrzeugen und aus seinem Spiegel die Gärten, Rebengelände, Paläste und Tempel Pompejis widerstrahlend. Von seinem geräuschvollen, menschenwimmelnden Gestade lenkte Olinth die Schritte einem Pfade zu, der in geringer Entfernung durch ein schattiges Gehölz hinlief. Dieser Weg war am Abend ein Lieblingsaufenthalt der Pompejaner, wurde aber während der Hitze und Geschäftigkeit des Tages selten besucht. Dieser Spaziergang war jetzt, wo die Mittagssonne senkrecht durch das Laub niederbrannte, gänzlich verlassen.
Olinth nahm auf einer der zur Ruhe einladenden Bänke Platz.
»Bist du, seit du mich an jenen: Abend so Plötzlich verließest, glücklich, gewesen?« fragte Olinth. »Hast du in deiner Sehnsucht nach der Stimme Gottes durch die Orakel der Isis Trost gesunden?«
»Ach,« erwiderte Apäcides, »du siehst einen unglücklichen Menschen vor dir. Verführt durch die geheimnisvollen Verkündigungen eines Betrügers, legte ich diese Gewänder an. Nach Wahrheit strebend, ward ich nur ein Diener der Lüge. Jetzt aber ist der Schleier auf immer von meinen Augen gerissen, – ich sehe einen Schurken, wo ich einem Gott zu gehorchen glaubte; die Erde dunkelt mir vor den Blicken; ich liege im tiefsten Abgrund der Finsternis, ich weiß nicht, ob es da oben Götter gibt – ob wir Geschöpfe des Zufalls sind, oder ob es noch ein Leben nach dem Tode gibt.«
»Ich wundere mich nicht,« versetzte der Nazarener, »daß du zum Zweifler geworden bist. Vor achtzig Jahren hatte der Mensch noch keine Gewißheit von Gott oder von einer sicher entschiedenen Zukunft jenseits des Grabes. Ein neues Gesetz ist verkündet worden dem, der Ohren hat zu hören – ein Himmel, ein wirklicher Olymp enthüllt sich dem, der Augen hat; merke denn aus und vernimm.«
Mit dem ganzen Ernst eines Menschen, der selbst mit der vollen Glut des Herzens glaubt und ebensosehr strebt, andere zu bekehren, ergoß sich der Nazarener vor Apäcides in den Verheißungen der Schrift. Er sprach zuerst von den Leiden und Wundern Christi, sodann wandte er sich zu der glorreichen Auferstehung des Heilands und zu klaren Prophezeiungen der Offenbarung. Er beschrieb den reinen Himmel, welcher der Gerechten wartet, sowie die Qualen, die das Los der Sünde seien.
Olinth bemerkte, daß seine Worte einen tiefen Eindruck auf den Gefährten hervorbrachten, deshalb sagte er zu ihm:
»Komm mit mir in die niedere Halle, in der wir uns versammeln, höre dort auf unsere Gebete! Sieh die Aufrichtigkeit unserer bußfertigen Tränen, nimm teil an unserm einfachen Opfer, das nicht aus Tieren oder Kränzen besteht, sondern aus reinen Gedanken, die auf dem Altar des Herzens dargebracht werden. Folge mir, mein Freund. Du kannst keinen würdigeren Augenblick wählen, denn der heutige Tag gehört zu jenen, die wir zu unserer Andacht bestimmt. Obwohl wir für gewöhnlich des Nachts zusammenkommen, sind einige von uns doch schon jetzt versammelt.«
Apäcides schwankte. Einesteils fühlte er sich durch Olinths heiligen Bekehrungseiser gerührt, und der Wunsch, der Feierlichkeit beizuwohnen, regte sich in ihm, dann aber wiederum fiel ihm Arbaces ein, und schaudernd hüllte er sich fester in sein Pallium. Der erwartungsvolle Blick des Nazareners aber und die Treue seiner Augen verhalfen ihm zum Siege, und mutig rief er: »Wohlan, ich folge dir!«
Freudig drückte ihm Olinth die Hand, stieg dann mit ihm zum Ufer des Flusses hinab und rief einen der zahlreichen Fährleute, in dessen Nachen sie die Fluten durchglitten. An einer Stelle der Vorstadt stiegen sie ans Land; Olinth ging durch ein Labyrinth von Gäßchen voran und hielt endlich mit dem Priester vor der verschlossenen Tür einer ziemlich geräumigen Wohnung. Er klopfte dreimal an, die Tür ging auf und schloß sich hinter den Eintretenden wieder.
Durch ein leeres Atrium gelangten sie in ein inneres Gemach von mäßiger Größe. Olinth blieb an der Schwelle stehen, klopfte an und rief: »Friede sei mit euch!« Eine Stimme aus dem Innern antwortete: »Friede mit wem?« »Mit den Gläubigen,« antwortete Olinth, und die Tür ging auf. Zwölf bis fünfzehn Personen saßen schweigend in einem Halbkreis; ihnen gegenüber erhob sich ein roh aus Holz geschnitztes Bild des Gekreuzigten.
Ehe Olinth die Versammlung anredete, kniete er vor dem Kreuze nieder und betete leise; nachdem er sich wieder erhoben, begann er, auf Apäcides deutend, in feierlichem Tone:
»Männer und Brüder, erschreckt nicht, einen Isispriester unter euch zu sehen. Er ist mit den Blinden gewandelt, aber der Geist ist über ihn gekommen, – er wünscht zu sehen, zu hören und zu verstehen.«
»Das möge er,« erwiderten sämtliche Anwesende, unter denen sich ein Greis befand, in welchem der junge Isispriester einen Sklaven des reichen Diomed erkannte.
»Wir verpflichten dich nicht zum Geheimnis,« nahm Olinth wieder das Wort, »wir legen dir keinen Eid auf, uns nicht zu verraten. Zwar gibt es kein eigentliches Gesetz gegen uns, aber die große Menge dürstet nach unserem Leben. Wir fürchten den Tod nicht. Was für den Verbrecher das Grab, bedeutet für uns die Ewigkeit. Du bist unter uns gekommen als ein Forschender, mögest du bleiben als ein Bekehrter. Jenes Kreuz dort ist unser einziges Bild, jene Rolle enthält die Mysterien unseres Glaubens. Tritt her, Medon,« wandte er sich dem greisen Sklaven zu, »du bist der einzige unter uns, der nicht frei ist. Aber im Himmel soll der letzte der erste werden; so sei es auch bei uns. Entfalte jene Rolle. Lies und erkläre.«
Es waren die herrlichen Lehren der Bergpredigt, welche der alte Mann mit tiefer Empfindung vorlas. Auch auf Apäcides übten sie ihren mächtigen Eindruck aus, und die Religion der Liebe dämmerte ihm auf.
Kaum hatte Medon seine Vorlesung beendet, als sich in der Wand eine geheime Tür öffnete, und ein hochbetagter Mann, auf einen Stab gestützt, auf der Schwelle erschien. Bei seinem Eintritt erhob sich die ganze Versammlung, der Ausdruck tiefster Ehrerbietung stand auf jedem Gesicht, und Apäcides fühlte sich beim Anblick des Greises durch eine unwiderstehliche Sympathie an denselben gefesselt.
»Meine Kinder, Gott sei mit euch!« ries der Alte, während die Versammlung mit gesenktem Haupte seinen Segen hinnahm.
»Vater,« ergriff nach einer Pause Olinth das Wort, »du, an dessen Leben das Wunder des Erlösers sich kund tat, du, der dem Grabe entrissen wurde, um ein lebender Zeuge seiner Barmherzigkeit und Gnade zu sein, sieh einen Fremdling in unserer Gemeinde, ein neues Lamm, das zu der Herde gesammelt worden.«
»Laß mich ihn segnen,« rief der Greis, und die Anwesenden machten ihm Platz. Apäcides näherte sich instinktmäßig und fiel vor ihm auf die Knie; der Alte legte ihm die Hand aufs Haupt und segnete ihn, aber nicht laut. Während seine Lippen sich bewegten, waren seine Augen nach oben gewandt, und Tränen, wie sie gute Menschen in der Hoffnung auf das Glück eines andern vergießen, rannen ihm über die Wangen.
Das Herz des Neubekehrten glich dem eines Kindes; er fühlte die unendliche Barmherzigkeit Gottes und mit ihr die Erfüllung des verheißenden Wortes: »Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken!«
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