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Vierzehntes Kapitel.

Ein Silberbach klein
Läßt von flüss'gen Krystallen
Süße Musik erschallen,
Trillernd jungfräulich rein;
Dazu die lustigen Vöglein singen –
Goldregistern silberne Takte entspringen.

Sir Richard Fanshaw.

Eines Abends, einige Wochen nach den eben erzählten Ereignissen, trat ein Fremder, ein Kind an der Hand führend, in den Kirchhof von H***. Die Sonne war noch nicht lange untergegangen, und die kurze Dämmerung des Hochsommers herrschte in dem ruhigen Aether; man hörte von den Bäumen über den Gräbern das Zwitschern eines muntern Vogels; was bekümmerte er, der Bürger des Himmels, sich um die Todten, die unten schliefen? – was schlug er an, als das Grün und die Stille des Ortes – ob Garten oder Grab, galt ihm gleich! Wie der Mann und das Kind vorbeigingen, betrachtete das Rothkehlchen, kaum gestört durch ihre Schritte in dem langen Gras neben einem der Gräberhügel, sie mit seinem hellen, frohen Auge. Es war ein prächtiger Ort für das Rothkehlchen – der alte Kirchhof! dieser heimliche Vogel, »der Freund und Genosse der Menschen,« wie ihn die Dichter genannt haben, fand eine treffliche Mahlzeit unter den Würmern.

Der Fremde, als er die Mitte des geweihten Grundes erreicht hatte, blieb stehen und sah sich gedankenvoll um. Dann näherte er sich langsam und zögernd einer länglichten Tafel, worauf mit noch frischen und neuen Buchstaben folgende Worte eingegraben waren:

DEM GEDÄCHTNISS
EINER VERLÄUMDETEN UND MISSHANDELTEN
WIDMET DIESEN GRABSTEIN
IHR SOHN.

Dies, nebst Angabe von Geburts- und Todestag, war die Tafel, welche Philipp Morton über den Gebeinen seiner Mutter hatte setzen lassen; und rings herum war eine einfache Schutzwehr, welche die Kinder abwehrte, die zuweilen, den Kirchhofhütern zum Trotz, über dem Staub des frühern Geschlechts spielten.

»Dein Sohn!« murmelte der Fremde, während das Kind ruhig neben ihm stand, seine Freude hatte an den Bäumen, dem Gras, dem Gesang der Vögel, und nicht an Kummer oder Tod dachte, – »dein Sohn! – aber nicht dein begünstigter Sohn, dein Liebling, dein Jüngster; an welchem Platz der Erde schauen deine Augen herab auf ihn? Gewiß hat im Himmel deine Liebe den, den du auf Erden am zärtlichsten geliebt, bewahrt vor den Leiden und Prüfungen, die den minder begünstigten Verstoßenen heimgesucht haben! Oh, Mutter! Mutter! – es war nicht seine Schuld – nicht Philipps Schuld, daß er nicht bis aufs Letzte die ihm vermachte Ausgabe und Pflicht erfüllt hat! Vielleicht ist es so glücklicher gegangen! Und oh! wenn dein Andenken so tief in meines Bruders Herz gegraben ist, wie in das meinige, wie oft wird es ihn warnen und retten. Dies Andenken! – es ist für mich der gute Engel meines Lebens gewesen! Dir – dir verdanke ich es in deinem Tode selbst, wenn ich, zwar verirrt, doch kein Verbrecher bin – wenn ich mit den Aussätzigen gelebt habe und noch nicht angesteckt bin!«

Sein Mund verstummte jetzt, aber nicht sein Herz.

Nachdem ihm so einige Minuten verflossen, wandte er sich zu dem Kinde, und sagte sanft und mit zitternder Stimme –

»Fanny, man hat Dich beten gelehrt – Du wirst in der Nähe dieses Platzes wohnen – willst Du manchmal hieher kommen und beten, daß Du gut und unschuldig heranwächsest, und ein Segen werdest für diejenigen, die Dich lieben?«

»Wird Papa immer kommen und mich beten hören?«

Diese traurige, unbewußte Frage schnitt Morton ins Herz. Das Kind konnte den Tod nicht fassen. Er hatte gesucht, ihr ihn zu erklären, aber sie war gewohnt, ihren Beschützer als todt zu betrachten, wenn er abwesend von ihr war, und sie bestand noch immer darauf, daß er wieder lebendig werden müsse, und dieser Mann des stürmischen wüsten Lebens und des Verbrechens, der ohne Reue, ohne Absolution, von der Sünde weg zum Gericht hinübergegangen: es war eine schauerliche Frage, ob der sie werde beten hören?

»Ja!« sagte er nach einer Pause – »ja, Fanny, es ist ein Vater, der Dich beten hört; und zu ihm bete, daß er gnädig sey denen, die gegen Dich freundlich gewesen. Ja, Fanny, Du und ich, wir sehen uns vielleicht nie wieder!«

»Wollt Ihr denn auch sterben? Méchant, Jedermann stirbt der armen Fanny;« und sich zärtlich an ihn hängend, ründete sie ihre Lippen, um ihn zu küssen. Er nahm sie in seine Arme; und als eine Thräne auf ihre rosige Wange fiel, sagte sie: »Weine nicht, Bruder, ich liebe Dich ja!«

»Wirklich liebst Du mich, Fanny? Dann, mir zu Liebe, wenn Du hieher kommst, und Jemand will Dir einige Blumen geben, streue sie auf diesen Stein, und jetzt wollen wir zu Jemand gehen, den Du auch lieb haben mußt, und zu dem er, wie ich Dir erzählt habe, Dich schickt; er, der – komm!«

Wie er so sprach und Fanny wieder auf den Boden setzte, erblickte er mit Staunen genau auf der Stelle, wo er früher die gleiche Erscheinung gesehen – auf dem Platze, wo der Vater den Sohn verflucht hatte, die regungslose Gestalt eines alten Mannes. Morton erkannte gleichsam durch Instinkt mehr als durch die Kraft des Gedächtnisses die Person, an welche sein Auftrag bestimmt war.

Er ging langsam auf ihn zu; aber Fanny eilte plötzlich von ihm weg, angelockt von einer Motte, welche in der Dämmerung über die Gräber hinhuschte.

»Euer Name, Sir, ist glaub ich Simon Gawtrey?« sagte Morton. »Ich bin nach England gekommen, Euch zu zu suchen.«

»Mich?« sagte der alte Mann, halb stehend, und seine Augen, jetzt völlig blind, schweiften leer über Morton hin – »Mich? Warum? Wer seyd Ihr? – Ich kenne Eure Stimme nicht!«

»Ich komme im Auftrag Eures Sohnes.«

»Meines Sohnes!« rief der alte Mann mit großer Heftigkeit. »Der Verworfene! der Entehrte! der Schändliche! der Verfluchte –«

»Still! Ihr schmäht einen Todten!«

»Einen Todten!« murmelte der unglückselige Vater, auf den Sitz, von dem er aufgestanden, zurücktaumelnd, »einen Todten!« und der Ton seiner eigenen Stimme war so voll innerer Qual, daß der Hund zu seinen Füßen, welchen Morton bisher nicht bemerkt hatte, mit einem mißtönenden Geschrei gleichsam das Echo davon machte, was Philipp an den entsetzlichen Tag erinnerte, wo er hatte den Sohn den Vater zum letztenmal auf Erden verlassen sehen.

Dieser Ton führte Fanny auf den Platz zurück; und mit freudigem Lachen, das einen seltsamen Contrast dagegen bildete, warf sie sich auf das Gras neben den Hund und suchte ihn zum Spielen zu locken. So waren denn hier, an dieser Stätte des Todes, die vier Glieder der großen Kette zusammengebracht: üppig blühendes Leben – trostloses, kindisches Alter – Kindheit, noch, kaum der Seele sich bewußt, und das dumpfe Thier, das keine Bürgschaft eines Jenseits hat!

»Todt! Todt!« wiederholte der Alte, seine erstorbenen Sehorgane mit den welken Händen bedeckend. »Armer William!«

»Er gedachte Euer bis ans Ende. Er bat mich, Euch aufzusuchen – er hieß mich die Stelle des schuldbelasteten Sohnes zu ersetzen mit einem Wesen – rein und unschuldig, wie er gewesen, wäre er in seiner Wiege gestorben – mit einem Kinde, das Euer Alter erheitern werde! Kniee, Fanny, ich habe Dir einen Vater gefunden, der Dich zärtlich lieben wird – (oh, das werdet Ihr, Sir, nicht wahr?) – wie der, den Du nicht mehr sehen wirst!«

Es lag etwas so Feierliches in Mortons Stimme, daß der alte Mann und das Kind davon gerührt und erschüttert wurden; und Fanny, an den ihr so angewiesenen Beschützer sich schmiegend, und ihre Händchen zutraulich auf seine Kniee legend, sagte:

»Fanny will Euch lieben, wenn Papa es gewünscht hat. Küsset Fanny.«

»Ist es sein Kind – seines?«sagte der blinde Mann schluchzend. »Komm an mein Herz! – So! O Gott, vergib mir!«

Morton hielt es nicht für recht, ihn in diesem Augenblick zu enttäuschen rücksichtlich des eigentlichen Verhältnisses des armen Kindes zu dem Todten; und er wartete schweigend, bis Simon, nach einem Ausbruch von leidenschaftlichem Schmerz und Zärtlichkeit, aufstand, und, das Kind noch immer an seine Brust pressend, sagte:

»Sir, verzeiht mir! Ich bin ein gar schwacher alter Mann – ich habe Euch vielen Dank zu sagen – ich habe auch Vieles zu erfahren! Mein armer Sohn! er starb nicht im Mangel – oder doch?«

Die einzelnen Umstände von Gawtreys Schicksal, mit seinem wahren, seinen vielen angenommenen Namen, waren in den französischen Journalen erschienen, und zum Theil in die englischen übergegangen;– und Morton hatte erwartet, daß ihm die peinliche Erzählung jenes fürchterlichen Todes werde erspart werden; aber die gänzliche Abgeschiedenheit des alten Mannes, sein körperliches Leiden und seine seltsamen Gewohnheiten hatten ihn die Kunde noch nicht erfahren lassen, die ihm jetzt mitzutheilen Philipps harte Aufgabe war. Morton bedachte sich ein wenig, ehe er antwortete:

»Es ist jetzt spät; Ihr seyd noch nicht vorbereitet, dies arme Kind in Eurem Haus aufzunehmen, noch auch die einzelnen Umstände zu vernehmen, die ich Euch zu berichten habe. Ich komme erst heute in England an. Ich werde meine Wohnung in der Nähe nehmen, denn dieser Ort ist mir theuer. Wenn ich mich denn versichert halten darf, daß Ihr dies heilige und letzte Vermächtniß von Eurem unglücklichen Sohn an Euch aufnehmen und sorgsam hegen wollt, will ich Euch morgen das mir anbefohlene Kind bringen, und dann wollen wir ruhiger, als es jetzt möglich ist, über die Vergangenheit uns besprechen.«

»Ihr antwortet mir nicht auf meine Frage,« sagte Simon leidenschaftlich; »antwortet mir darauf, so will ich mit dem Uebrigen mich gedulden. Sie nennen mich einen Geizhals! Habe ich mein einziges Kind fortgeschickt, um Hungers zu sterben? Gebt mir darauf Antwort!«

»Beruhigt Euch. Er starb nicht in Armuth: und er hat sogar ein kleines Vermögen für Fanny hinterlassen, das ich Euch einhändigen sollte.«

»Und er dachte den alten Geizhals zu bestechen, daß er menschlich wäre! Gut – gut – gut! Ich will heimgehen.«

»Stützt Euch auf mich!«

Der Hund sprang lustig an seinem Herrn hinauf, als dieser aufstand, und Fanny entschlüpfte Simons Armen, um auf ihre Weise dem Thier zu liebkosen und mit ihm zu schwatzen. Wie sie langsam über den Kirchhof gingen, murmelte Simon eine kleine Strecke weit unzusammenhängend vor sich hin, und Morton wollte ihn nicht stören, da er ihn doch nicht trösten konnte.

Endlich sagte er ganz plötzlich: »Hat mein Sohn Reue gefühlt?«

»Ich hoffe,« antwortete Morton ausweichend, »daß er, wäre ihm das Leben gefristet worden, sich würde gebessert haben.«

»Geht mir weg, Sir! – Ich bin Siebzig vorüber; – wir bereuen – aber wir bessern uns nie!«

Und wieder versank Simon in seine trüben, unzusammenhängenden Träumereien.

Endlich kamen sie an des Blinden Hause an. Die Thüre ward ihnen geöffnet von einer alten Weibsperson von unangenehmem, abschreckendem Aeußern, die viel zu auffallend herausgeputzt war für den Stand einer Dienerin, obgleich sie in dieser Eigenschaft im Hause galt; aber die Blindheit des Geizigen ersparte ihr die Gefahr von Ausstellungen über ihren Aufwand. Wie sie mit einer Kerze in der Hand unter der Thüre stand, musterte sie neugierig und mit nicht willkommen heißenden Blicken die Begleiter ihres Gebieters.

»Mrs. Boxer, mein Sohn ist todt!« sagte Simon mit hohler Stimme.

»Nun und das ist recht gut, Sir!«

»Pfui, Weib!« sagte Morton entrüstet.

»Ei der Tausend! Sir! Wen haben wir denn da?«

»Jemand,« sagte Simon finster, »den Ihr mit Achtung behandeln werdet. Er bringt mir einen Segen, meinen Verlust zu erleichtern. Ein rauhes Wort gegen dieses Kind, und Ihr verlaßt mein Haus!«

Das Weib sah aus wie vom Donner gerührt; aber sich wieder fassend, sagte sie in wimmerndem Tone:

»Ich! ein hartes Wort gegen Jemand, der meinem theuern, gütigen Gebieter am Herzen liegt, und, mein Himmel, was für ein hübsches kleines Geschöpf es ist! Komm her, meine Liebe!«

Aber Fanny scheute zurück und wollte Philipps Hand nicht fahren lassen.

»Morgen also!« sagte Philipp und er wandte sich um, als ein plötzlicher Gedanke die Seele des alten Mannes zu durchkreuzen schien.

»Halt, Sir, halt! Ich – ich – hat mein Sohn gesagt, ich sey reich? Ich bin sehr – sehr arm: Nichts im Hause, – sonst wäre ich längst beraubt worden!«

»Euer Sohn trug mir auf, Euch Geld zu bringen, nicht Geld zu verlangen!«

»Geld verlangen! Nein, aber,« fuhr der, alte Mann fort, und ein Strahl schlauer Intelligenz schoß über sein Gesicht, »aber er ist in schlechte Gesellschaft gerathen. Verlangen! – Nein! – Zieht die Thürkette hinauf, Mrs. Boxer!«

Mit Besorgniß und Mißtrauen übergab Morton am folgenden Tag das Mädchen, das sich schon ins Innerste seines warmen Herzens geschmiegt hatte, der Obhut Simons. Nichts Geringeres, als jene abergläubische Achtung, welche alle Menschen den Wünschen der Todten zollen, hätte ihn bewegen können, dies Asyl für sie zu suchen; denn das Schicksal, das seine eignen Aussichten erheiterte und erhellte, hatte ihm eine Wahl eröffnet in dem Wohlwollen der Madame de Merville. Aber Gawtrey hatte mit solchem Ernst von der Sache gesprochen, daß es ihm war, als hätte er nicht das Recht, sich zu bedenken. Und war es nicht eine Art Sühne für alle Fehler, die der Sohn gegen den Vater mochte begangen haben, wenn er dem Herde des alten Mannes ein so süßes Pflegkind zuwies?

Die Seltsamkeit und Eigenthümlichkeit von Fannys Gemüth und Charakter jedoch machten ihn noch ängstlicher, als er sonst wohl gewesen wäre. Gewiß verdiente sie die rauhe Bezeichnung: schwachsinnig oder blödsinnig, nicht, aber sie war verschieden von allen andern Kindern; sie empfand und fühlte schärfer als die Meisten ihres Alters, aber das Denken konnte man ihr nicht beibringen. Es war etwas Queres oder Mangelhaftes in ihrem Geist, was die traurigsten Besorgnisse rechtfertigte; und doch, oft, wenn eine unordentliche, unzusammenhängende, unerklärliche Reihe von Ideen den Zuhörer aufs trübste stimmte, folgten darauf Einfälle und Phantasieen, so wunderbar ansprechend in ihrer Seltsamkeit, oder Gefühle, so herzgewinnend durch ihre Zartheit, daß sie plötzlich ebenso hoch über, wie unmittelbar vorher unter dem gewöhnlichen Maß kindischer Fassungskraft zu stehen schien.

Sie war wie ein Geschöpf, dem die Natur in einer grausamen, aber heitern Laune Alles gegeben, was, zur Poesie gehört, aber Alles versagt hat, was zum gemeinen, im Menschenleben nöthigen Verstand gehört; oder wie ein untergeschobenes Feenkind, freilich nicht nach dem gemeinen Aberglauben boshaft und mißgestaltet, sondern holdseliger als die Kinder der Menschen, umschwebt von dämmernden, kämpfenden Erinnerungen und Bildern eines zarteren und feineren Daseyns, aber gänzlich unfähig, die trocknen und harten Elemente zu lernen, welche das Wissen des wirklichen Lebens ausmachen.

Morton suchte, so gut er konnte, Simon die Eigenthümlichkeiten in Fannys geistiger Organisation zu erklären. Er stellte ihm dringend die Nothwendigkeit vor, für ihren sorgfältigen Unterricht zu sorgen, und Simon versprach, sie in die beste Schule zu schicken, die man in der Nähe finden könne; aber wie der alte Mann so sprach, legte er solchen Nachdruck auf den von ihm vorausgesetzten Umstand, daß Fanny Williams Tochter sey, und mit seiner Reue, oder Zärtlichkeit war ein nebenherlaufender Faden von Selbstsucht und Geiz so eng verflochten, daß Morton es für sein Interesse an dem Kinde gefährlich achtete, wenn er ihm seinen Irrthum benähme. Er schwieg daher – vielleicht entschuldbar genug! – ganz hierüber.

Gawtrey hatte bei der Priorin des Klosters neben dem Befehl, das Kind derjenigen Person auszuliefern, die es von ihr unter seinem wahren Namen, den er ihr anvertraute, fordern würde, eine Summe von 300 Pfund übergeben, die, wie er feierlich schwur, ehrlich erworben waren, und die er in allen seinen Widerwärtigkeiten und Glückswechseln nie berührte. Diese Summe, mit dem kleinen Abzug für das, was sie noch dem Kloster schuldete, händigte jetzt Morton Simon ein. Der alte Mann packte das Geld, das meist in französischen Goldstücken bestand, mit konvulsivischem Griffe; und dann, als schämte er sich dieser Gier, sagte er:

»Aber Ihr, Sir – kann irgend eine Summe – das heißt, eine billige Summe, Euch von Nutzen seyn?«

»Nein; und wenn es auch wäre, das Geld gehört weder Euch noch mir – sondern ihr! Bewahrt es für sie, und fügt dazu, was Ihr könnt.«

Während dieses Gesprächs war Fanny der Sorge der Mrs. Boxer übergeben worden, und Philipp stand jetzt auf, um sie zu sehen und von ihr Abschied zu nehmen, ehe er wegging.

»Ich komme vielleicht wieder zum Besuch, Mr. Gawtrey; und ich bete zu Gott, mich dann finden zu lassen, daß Ihr und Fanny gegenseitig einander ein Segen gewesen. Oh! vergeßt nicht, wie Euer Sohn sie geliebt hat!«

»Er hatte ein gutes Herz, trotz aller seiner Sünden. Der arme William!« sagte Simon.

Philipp Morton hörte dies, und seine Lippe verzog sich in trüber und gerechter Verachtung.

Wenn der Vater, als William Gawtrey, neunzehn Jahre alt, das väterliche Dach verließ, bedacht hätte, daß das Herz seines Sohnes gut sey, so lebte wohl dieser Sohn noch, als ein ehrlicher und glücklicher Mann! Müßt Ihr nicht lachen, o Ihr alles hörenden bösen Feinde! wenn die Menschen die Todten preisen, deren Tugenden sie, so lang sie lebten, nicht entdecken konnten? Es kostet viel Marmor, das Grab zu bauen – wie wenig Latten und Kalk hätte hingereicht, die Kammer auszubessern!

In ein kleines Zimmer tretend, das an das Wohnzimmer stieß, worin Gawtrey saß, fand Morton Fanny traurig an einem trübseligen, rußigen Fenster stehen, das auf die todten Mauern eines kleinen Hofes sah; Mrs. Boxer, an einem Tische sitzend, war beschäftigt einen Hut zu garniren; und an Fanny Fragen zu richten mit jener zärtlichthuenden Diskantstimme, womit Leute, die nicht an Kinder gewöhnt sind, sie gern anreden.

»Und also, meine Liebe, man hat dich nie lesen und schreiben gelehrt? Du bist kläglich vernachläßigt worden, armes Ding!«

»Wir müssen unser Bestes thun, das Versäumte einzuholen,« sagte Morton eintretend.

»Gerechter Gott, seyd Ihr es, Sir?« Und die Gouvernante fuhr auf und machte eine tiefe Verbeugung: denn Morton, jetzt ganz als Gentleman gekleidet, war nach Haltung und Person wohl der Mann, gemeiner Leute respektsvollen Blick auf sich zu ziehen.

»Ach, Bruder!« sagte Fanny, denn mit diesem Namen hatte er sie angewiesen ihn zu nennen, – und sie eilte auf ihn zu. »Komm fort von hier – es ist hier häßlich – es macht mich so kalt.«

»Mein Kind, ich hab' es Dir gesagt, Du mußt bleiben; aber ich hoffe Dich mit der Zeit wieder zu sehen. Wollt Ihr nicht freundlich seyn gegen dies arme Geschöpf, Madame? Verzeiht mir, wenn ich Euch vorigen Abend beleidigt habe, und erweist mir den Gefallen, dies anzunehmen, zum Beweis, daß wir Freunde sind.« Mit diesen Worten ließ er seine Börse in des Weibes Hand gleiten. »Ich werde mich immer verpflichtet fühlen für Alles, was Ihr für Fanny thun könnt.«

»Fanny will Nichts von irgend Jemand sonst; Fanny will nur ihren Bruder haben.«

»Das süße Kind! Ich fürchte, sie gewöhnt sich nicht an mich. Wollt Ihr mich lieb haben, Miß Fanny?«

»Nein, packt Euch fort!«

»Pfui, Fanny! Du erinnerst Dich, Du mochtest mich Anfangs auch nicht leiden. Aber sie ist so gemüthvoll, Madame; sie vergißt eine ihr erwiesene Freundlichkeit nie.«

»Ich will Alles, was ich kann, thun, sie zufrieden zu stellen, Sir, und also ist sie wirklich meines Gebieters Enkelin?«

Die Frau heftete bei diesen Worten ihren Blick so scharf auf Morton, daß dieser einige Verlegenheit empfand, und sich ohne zu antworten, damit zu schaffen machte, Fanny zu liebkosen und zu trösten, in welcher jetzt ganz das Bewußtseyn des ihr bevorstehenden Jammers zu erwachen schien; denn obschon sie nicht weinte – sie weinte sehr selten – zitterte doch ihr zarter Körper – ihre Augen waren geschlossen – ihre Wangen, ihre Lippen sogar, weiß – und ihre zarten Händchen hatten fest den Hals dessen umklammert, der sie jetzt an der Brust von Fremden lassen wollte.

Morton war tief bewegt. »Einen Kuß, Fanny, und vergiß mich nicht, bis wir uns wieder sehen!«

Das Kind drückte die Lippen an seine Wange, aber diese Lippen waren kalt. Er setzte sie sanft auf den Boden nieder; sie stand stumm und widerstandslos da.

»Erinnere Dich, daß er wünschte, daß ich Dich hier lasse!« flüsterte Morton, eines Zuspruchs sich bedienend, der seine Wirkung nie verfehlte. »Wir müssen ihm gehorchen – und so: Gott segne Dich, Fanny!«

Er stand auf und ging an die Thüre; das Kind machte die Augen auf und starrte ihn mit gespanntem, schmerzlichem, flehendem Blick an; ihre Lippen bewegten sich, aber sie sprach nicht. Morton konnte diesen stummen Jammer nicht ertragen. Er versuchte sie tröstend anzulächeln, aber das Lächeln wollte nicht kommen. Er schloß die Thüre und eilte aus dem Hause.

 

Von diesem Tag versank Fanny in eine Art fortwährender, trüber, lebloser Starrsucht, ähnlich der einer Somnambule, die der Magnetiseur zu wecken vergißt. Bisher hatte in alle Excentricitäten oder Mängel ihres Geistes eine wilde und phantastische Lustigkeit hereingespielt. Die war verschwunden. Sie sprach wenig – sie spielte nie – kein Spielzeug konnte sie reizen – selbst der arme Hund gewann ihr keine Aufmerksamkeit ab. Wenn man sie etwas thun hieß, starrte sie leer vor sich hin, und rührte sich nicht.

Sie legte jedoch eine Art stummer Achtung gegen den alten blinden Mann an den Tag; sie kroch an seine Kniee heran und saß da Stunden lang, selten antwortend, wenn er zu ihr sprach, aber unbehaglich, ängstlich und unruhig, wenn er sie verließ.

»Wollt Ihr auch sterben?« fragte sie einmal; der Alte verstand sie nicht, und sie suchte sich nicht zu erklären.

Eines Morgens früh, einige Tage, nachdem Morton weg war, vermißte man sie; sie war nicht in dem Hause, noch in dem trübseligen Hof, in den man sie manchmal gehen und dort spielen hieß – was sie jedoch nie that. In großer Unruhe und Angst beschuldigte der alte Mann Mrs. Boxer, sie weggelockt zu haben, und drohte und donnerte so laut, daß das Weib, sehr ungern, fortging, sie zu suchen. Endlich fand sie das Kind auf dem Kirchhof, ernst sinnend an einem Grabe stehend.

»Was macht Ihr hier, kleine Hexe!« sagte Mrs. Boxer, sie rauh am Arme packend.

»Das ist der Weg, wo sie Beide einst wieder kommen werden. Ich träumte so.«

»Wenn ich Dich je wieder hier treffe!« sagte die Haushälterin; und sich mit der einen Hand die Stirne wischend, schlug sie sie mit der andern. Fanny war nie vorher geschlagen worden. Sie bebte in Angst und Bestürzung zurück; und zum ersten Mal seit ihrer Ankunft brach sie in Thränen aus.

»Komm – komm – kein Geheul! und wenn Du's dem Herrn sagst, so schlage ich Dich halb todt!«

Mit diesen Worten nahm sie Fanny auf ihre Arme, schritt, scheltend und drohend mit ihr auf und ab, bis sie vor Angst das Weinen unterdrückte, kehrte dann triumphirend ins Haus zurück, stürzte in das Wohnzimmer und rief: »Da ist das liebe Herzchen, Sir!«

Als der alte Simon erfuhr, wo das Kind gefunden worden, war er froh, denn es war seine beständige Gewohnheit, so oft der Abend schön war, auf diesen Kirchhof zu schlüpfen – sein Hund war ihm Führer – und sich auf seinen Lieblingsplatz zu setzen, der untergehenden Sonne gegenüber. Dies geschah nicht sowohl wegen der Heiligkeit des Ortes, oder der Betrachtungen, die er einflößen konnte, als weil es der nächste, der sicherste und der einsamste Platz in der Nachbarschaft seines Hauses war, wo der blinde Mann freie Luft schöpfen und sich im Licht des Himmels wärmen konnte.

Bisher hatte er das Kind nicht mitgenommen weil er dachte, es sey trübselig für sie; in der That war Fanny gewöhnlich um die Stunde seines einförmigen Spaziergangs ins Bett geschickt worden. Jetzt erhielt sie Erlaubniß, ihn zu begleiten; und der Greis und das Kind pflegten da neben einander zu sitzen, wie Alter und Jugend in den Gräbern unten neben einander ruhten.

Das erste Merkmal von kindischem Interesse und Neugier, das man an Fanny bemerkte, ward durch das Leiden ihres Beschützers geweckt. Eines Abends, wie sie so da saßen, ließ sie sich von ihm den Jammer der Blindheit erklären. Sie schien ihn zu verstehen, obgleich er seine Klagen ihrer Fassungskraft anzubequemen sich nicht die Mühe gab.

»Fanny versteht,« sagte sie rührend; »denn sie ist auch blind, hier;« und sie preßte ihre Händchen an die Schläfe.

Trotz ihrer Schweigsamkeit und ihrer sonderbaren Art, und obgleich Simon die ausnehmende Holdseligkeit nicht sehen konnte, womit die Natur, wie in reuigem Erbarmen, ihr Aeußeres verschwenderisch ausgestattet, lernte er sie doch bald inniger lieben, als er je bisher geliebt hatte; denn die am kältesten gegen das Kind, sind oft am zärtlichsten gegen den Enkel. Ihr gegenüber schlief selbst sein Geiz. Leckereien, zuvor nie gesehen auf seinem sparenden Tisch, wurden bestellt, um ihren Appetit zu reizen; – Spielzeugläden geplündert, um sie aus ihrer Gleichgültigkeit zu wecken. Lang jedoch stand es an, bis er es über sich vermochte, seinem Versprechen gegen Morton nachzukommen und sich ihrer Gegenwart zu berauben.

Endlich jedoch, ermüdet durch der Mrs. Boxer Wehklagen über ihre Unwissenheit, und, selbst auch beunruhigt, wegen einiger Anzeichen ihrer Ungeschicklichkeit, die ihn zittern machten bei dem Gedanken, was wohl ihre Zukunft werden dürfte, wenn sie allein im Leben stehe, brachte er sie in eine Elementarschule in der Vorstadt. Hier rechtfertigte Fanny eine geraume Zeit die stärksten Behauptungen und Klagen über ihre Dummheit. Sie konnte nicht zwei Minuten nach einander ihre Augen auf das Blatt heften, auf dem sie die Mysterien des Lesens erlernen sollte; Monate vergingen, bis sie das Alphabet inne hatte, und nach einem Monat hatte sie es wieder vergessen, und die Arbeit begann von Neuem.

Das Einzige, worin sie Talent zeigte, wenn man es so nennen darf, war die Handhabung der Nadel. Die Schwestern im Kloster hatten sie schon manche hübsche Stücke in dieser Kunst gelehrt, und als sie merkte, daß sie in der Schule bewundert wurden – daß sie gelobt statt getadelt wurde – da ward ihre Eitelkeit geschmeichelt, und sie lernte so leicht Alles, was man sie in dieser nicht uneinträglichen Fertigkeit lehren konnte, daß Mrs. Boxer schlauerweise insgeheim ihre Arbeiten verwerthete, und aus des armen Pfleglings Kunstfleiß eine wöchentliche Rente zog.

Ein anderes Vermögen, das sie, wie andere Personen von mangelhaftem Geist und wie die unter dem Menschen stehenden Geschöpfe, besaß, war: ein höchst genauer und treuer Ortssinn. Zuerst war Mrs. Boxer pflichtlich Morgens, Mittags und Abends fortgeschickt worden, um sie in die Schule zu führen und sie abzuholen; aber das war eine so große Beschwerde für Simons einzige Hausvögtin, und Fanny setzte dem alten Manne so schmeichelnd zu, er möchte ihr doch erlauben, allein hin und her zu gehen, daß man die Beiden unwillkommene Begleitung unterließ.

Fanny's Freude über diese Freiheit war groß; und sie versäumte nie, beim Hingehen und beim Heimweg über den Begräbnißplatz zu gehen, und nachdenklich nach dem Grab zu sehen, aus dem, wie sie immer noch glaubte, Morton eines Tages wieder erscheinen sollte. Neben seinem Andenken nährte sie auch das ihres frühern, schuldhafteren Beschützers; aber es waren gesonderte Gefühle, die sie auf ihre Weise unterschied:

»Papa hatte sie aufgegeben. Sie wußte, er hätte sie nicht weggeschickt, weit – weit über das große Wasser, wenn er im Sinne gehabt hätte, Fanny wieder zu sehen; aber ihr Bruder hatte sie nur gezwungen verlassen – er mußte eines Tages lebend wieder kommen, und dann würden sie miteinander leben.«

 

Eines Tages, gegen Ende des Herbstes, hatte die Schullehrerin, im Ganzen eine gute Frau, die aber nicht so viel Einsicht hatte, um zu entdecken, welche Saiten angeschlagen werden mußten an dem Instrument, über welches sie mit ihrer ungeschickten Hand so plump hinfuhr – eines Tags, sagen wir, hatte sich zufällig die Lehrerin angekleidet zu einer Taufe in der Vorstadt, wozu sie gebeten war; und demgemäß wurden die Schülerinnen nach den Morgenstunden entlassen, und sollten Nachmittags Feiertag haben. Als jetzt Fanny, als die Letzte, kam, mit ihrem trostlosen ABCBuch, blieb sie plötzlich stehen, und ihre Augen hafteten voll Begierde auf einem großen Bouquet ausländischer Blumen, mit welchem gute Frau (sie war mager) den Mittelpunkt des übereinandergeschlagnen Tuches belebte, dessen gelbe Gaze züchtig jenen zarten Bestandtheil weiblicher Schönheit verhüllte, welchen schon Dichter mit Schneehügeln verglichen haben – ein frostiges Gleichniß! Es war Herbst, und Feld- und selbst Garten-Blumen wurden seltener.

»Wollt Ihr mir wohl eine von diesen Blumen geben?« sagte Fanny, und ließ ihr Buch fallen.

»Eine von diesen Blumen, Kind! warum?«

Fanny antwortete nicht; aber eines von den älteren und verständigeren Mädchen sagte:

»Ach, sie kommt von Frankreich, wißt Ihr, Madame, und die Römischen Katholiken streuen Blumen und Bänder und Sachen auf die Gräber; wißt Ihr, Madame, wir lasen gestern von Père-la-Chaise

»Nun, was weiter?«

»Und Miß Fanny will immer Alles für uns thun und arbeiten, wenn wir ihr Blumen geben.«

»Bruder hat mir gesagt; wohin sie streuen; – aber diese schönen Blumen – solche habe ich noch nie gehabt; die bringen ihn vielleicht zurück! Ich will so artig seyn, wenn Ihr mir eine geben wollt – nur Eine!«

»Willst Du Deine Aufgabe lernen, wenn ich es thue, Fanny?«

»Oh! ja! wartet einen Augenblick.«

Und Fanny schlich an ihren Pult zurück, legte entschlossen das verhaßte Buch vor sich hin, preßte beide Händchen dicht an die Schläfe; – Heureka! die rechte Saite war berührt; – und Fanny schritt im Triumphe dahin durch eine halbe Colonne feindlicher Doppelsylben!

Von diesem Tag an wußte die Lehrerin, wie sie anfeuern, und Fanny lernte lesen; der Pfad des Wissens ward ihr so im buchstäblichen Sinne mit Blumen bestreut! Catharine! Deine Kinder waren fern, aber Dein Grab prangte in heiterem Schmucke!

Es war ganz natürlich, daß jene kurzen und einfachen Reime oft religiösen Inhalts, die in den Schulen zur Uebung des Gedächtnisses hergesagt werden, einen Theil ihrer Studien ausmachten; und nicht sobald hatte der Klang von Versen ihre Phantasie berührt, als auch dadurch aufs Neue alle ihre Sinne und Empfindungen verwirrt und aufgestört zu werden schienen. Es war wie die Musik eines Lüftchens, nach welcher alle die jungen Blätter einer wilden Pflanze tanzen und zittern. Schon im Kloster hatte sie gar gerne die kindischen Reime hergesagt, mit welchen man sie in Schlaf zu lullen oder zu unterhalten gesucht, aber jetzt war dieser Geschmack noch stärker entwickelt.

Sie brachte jedoch in sinnloser und bunter Unordnung die verschiedenen Liederverse und Stücke, die ihr zu Ohren kamen, untereinander, und verwob sie auf eine Art, die ihr verständlich, allen Andern aber Kauderwelsch war! und oft, wenn sie allein durch die grünen Heckenwege oder durch die geräuschigen Straßen ging, wandten sich die Vorübergehenden halb mit Mitleid halb mit Besorgniß um, zu lauschen, wie sie Verse – halb sang, halb murmelte, die nur einer verirrten und verwirrten Phantasie anzugehören schienen, und da Mrs. Boxer bei ihren Besuchen in den verschiedenen Läden der Vorstadt Sorge trug, ihr hartes Schicksal zu beseufzen, daß Ihr die Wartung und Pflege eines so offenbar mondsüchtigen Geschöpfs obliege, war es kein Wunder, daß das Wesen und die Gewohnheiten des Kindes, verbunden mit ihrer seltsamen Neigung, den Kirchhof zu besuchen, die man nicht selten bei Personen von schwachem und zerrüttetem Geist findet, diese Aussagen und Ansichten von ihr bestätigten.

So wenn sie lustig und leicht über die Straßen und Plätze trippelte, pflegten die Kinder ihr auszuweichen und mit abergläubischer Furcht gemischt mit Verachtung zu flüstern: »Es ist das blödsinnige Mädchen!« Blödsinnig! wie vielmehr himmlisches Licht war doch in dieser Wolke, als in den Binsenlichtern, die, in schmutzigen Kammern flackernd, auf trübe Dinge den trüben Strahl ergoßen, und sich Sterne zu seyn dünkten!

 

Monate – Jahre verstrichen – Fanny zählte dreizehn Jahre, als eine neue Aera in ihrem Daseyn anbrach. Mrs. Boxer hatte nie ihre erste Abneigung gegen Fanny überwunden. Ihre Behandlung des armen Mädchens war immer hart und oft grausam. Aber Fanny klagte nicht; und da Mrs. Boxer in Gegenwart Simons sich immer schmeichelnd und liebkosend gegen sie anstellte, ahnte der alte Mann nie die Drangsale, die seine vermeintliche Enkelin durchmachte.

Es waren vor einigen Jahren nachtheilige Gerüchte in der Vorstadt gegangen über das Verhältniß zwischen dem Herrn und der Haushälterin; und die flotte Kleidung der Letztern, etwas Keckes in ihrem Blick und Wesen, und gewisse Sagen, daß ihre Jugend nicht eben der Vesta Vesta war in der altrömischen Religion die keusche Hüterin des heiligen Feuers, Göttin von Heim und Herd; ihre Priesterinnen waren zur Jungfräulichkeit verpflichtet. – Anm.d.Hrsg. geweiht gewesen, bestärkten den Verdacht. Der einzige Grund, warum wir von der Falschheit des Gerüchts nicht überzeugt sind, ist dieser: Simon Gawtrey hatte die frühern Thorheiten seines Sohnes so hart beurtheilt und behandelt!

Gewiß hatte jedenfalls das Weib einen großen Einfluß über den Geizhals ausgeübt vor Fannys Ankunft, und sie hatte viel beigetragen, seine selbstsüchtige Härte gegen den unglücklichen William zu stählen, und ebenso gewiß hatte sie zuversichtlich auf die Erbschaft der Ersparnisse des Geizigen, wie groß oder klein sie nun seyn mochten, gerechnet, sobald es der Vorsehung gefallen würde, seinen Tagen ein Ziel zu setzen. Sie wußte, daß Simon vor vielen Jahren ein Testament zu ihren Gunsten gemacht, sie wußte, daß er dies Testament nicht abgeändert hatte; sie glaubte daher, trotz aller seiner Liebe für Fanny, liebe er doch sein Gold viel zu sehr, um sich mit dem Gedanken zu befreunden, es Händen zu hinterlassen, die zu unbeholfen wären, den Schatz zu hüten. Dies hatte die Haushälterin einigermaßen ausgesöhnt mit der unwillkommnen Hausgenossin, die sie demungeachtet haßte, wie ein Hund einen andern Hund haßt, nicht nur wenn er ihm seinen Knochen nimmt, sondern wenn er ihn nur ansieht.

Plötzlich aber ward Simon krank. Sein Alter machte seinen Tod wahrscheinlich. Er wurde bettlägerig – sein Athem wurde schwächer und schwächer – er schien todt. Fanny, ohne alle weitere Gedanken, saß wie gewöhnlich an seinem Bett, und hielt den Athem an, um ihn nicht aufzuwecken. Mrs. Boxer eilte nach dem Schreibtisch – sie schloß ihn auf – sie konnte das Testament nicht finden; – aber sie fand drei Säcke voll glänzender alter Guineen; der Anblick bezauberte sie, Sie leerte sie aus aus dem befleckten grünen Tuch des Schreibtisches – sie fing an, sie zu zählen; und in diesem Augenblick wachte der alte Mann, als wäre ein geheimes magnetisches Verhältniß zwischen ihm und den Guineen, aus seiner Betäubung auf.

Seine Blindheit ersparte ihm den Schmerz, der vielleicht tödtlich auf ihn gewirkt hätte, die unheilige Profanation zu sehen; aber er hörte das Klingeln des Metalls. Schon dieser Klang gab ihm seine Kraft wieder. Aber die Schwachen und Kranken sind immer schlau – er ließ mit keinem Hauch Verdacht merken.

»Mrs. Boxer,« sagte er schwach, »ich glaube, ich könnte etwas Fleischbrühe nehmen.«

Mrs. Boxer stand in großem Schrecken auf, machte leise den Schreibtisch zu, und eilte die Treppen hinab, die Fleischbrühe zu holen. Simon ergriff die Gelegenheit, Fanny zu befragen; und sobald er die Operationen der Erbschaftsaspirantin erfahren, hieß er das Mädchen den Schreibtisch zuerst abschließen und ihm den Schlüssel bringen, und dann zu einem Advokaten laufen, dessen Adresse er ihr angab, und ihn augenblicklich her zu bescheiden.

Mit einem boshaften Lächeln nahm der alte Mann die Fleischbrühe aus den Händen seiner Dienerin.

»Arme Boxer, Ihr seyd ein uneigennütziges Geschöpf,« sagte er mit schwacher Stimme; »ich glaube, Ihr werdet jammern, wenn ich dahin bin.«

Mrs. Boxer schluchzte; und ehe sie sich erholt hatte, trat der Advokat ein. Noch an demselben Tage ward ein neues Testament gemacht; und der Advokat setzte Mrs. Boxer höflich in Kenntniß, daß man ihrer Dienste vom nächsten Morgen an nicht mehr bedürfe, wo er eine Krankenwärterin in das Haus bringen werde.

Mrs. Boxer hörte dies und faßte ihren Entschluß. Sobald Simon wieder einschlief, schlich sie in das Zimmer – führte Fanny hinaus – schloß sie in ihrem Zimmer ein – kehrte wieder zurück, suchte den Schlüssel dem Schreibtisch, den sie endlich unter Simons Kopfkissen fand – setzte sich in Besitz von Allem, was sie unter die Hände bekommen konnte – und am folgenden Morgen war sie für immer verschwunden!

Simons Verlust war größer, als.man hätte erwarten können; denn außer einer ganz geringen Summe in der Sparkasse hatte er, wie viele andere Geizige, Alles, was er besaß, in Noten oder baar Geld unter eigenem Schloß und Riegel gehalten. Sein ganzes Vermögen war allerdings weit geringer, als man glaubte; denn Geld erzeugt kein Geld, wenn es nicht auf Interessen So nannte man damals die Zinsen. – Anm.d.Hrsg. angelegt wird; und der Geizhals betrog sich selbst. Was in Banknoten steckte, hatte Mrs. Boxer vermuthlich die Klugheit zu vernichten; denn den Nummern, deren, Simon sich erinnern konnte, kam man nie auf die Spur; das Gold – Wer konnte darauf schwören? Die Kleinigkeit in der Sparkasse ausgenommen, und den ärmlichen Werth des Hauses, das er vermiethete, war der Vater, der die Magd bereichert, und den Sohn verbannt hatte, ein Bettler in seinem kindischen Alter! Diese Kunde jedoch ward ihm sorgsam verhehlt auf den Rath des Arztes, den der Advokat auf seine eigene Verantwortlichkeit ins Haus gebracht hatte, bis er sich so weit erholt hatte, um ohne Gefahr den Schlag zu ertragen; und dieser Verzug begünstigte natürlich die Flucht der Mrs. Boxer.

Simon blieb einige Augenblicke ganz betäubt und sprachlos, als man ihm diese Kunde eröffnete. Fanny, voll Angst über seine zunehmende Blässe, flog an seine Brust. Er stieß sie weg:

»Geh – geh – geh, Kind!« sagte er, »ich kann Dich jetzt nicht mehr erhalten. Laß mich allein und Hungers sterben.«

»Hungers sterben!« sagte Fanny erstaunt; und sie schlich sich weg und setzte sich nieder wie in tiefen Gedanken. Dann stahl sie sich wieder zu dem Advokaten, als dieser das Zimmer verlassen wollte, nachdem er seine Gemeinplätze von Tröstungen erschöpft hatte, und ihre Hand in die seinige legend, flüsterte sie:

»Ich möchte mit Euch sprechen – hierher!« Sie führte ihn durch dem Gang ins Freie.

»Sagt mir,« begann sie, »wenn arme Leute nicht Hungers sterben wollen, nicht wahr, dann arbeiten sie?«

»Ja, meine Liebe!«

»Die reichen Leute kaufen die Arbeit der Armen?«

»Gewiß, meine Liebe, freilich.«

»Sehr gut, Mrs. Boxer pflegte meine Arbeit zu verkaufen. Fanny will den Großpapa ernähren! Geht und sagt ihm, daß er nie ›Hungers sterben‹ soll!«

Der gutmüthige Advokat war bewegt – »Kannst Du wirklich arbeiten, mein armes Mädchen? Nun, so setze deinen Hut auf und komm und sprich mit meiner Frau.«

Und das war die neue Aera in Fannys Daseyn! Ihr in die Schule Gehen hörte auf. Aber jetzt nahm sie das Leben in die Schule. Die Nothwendigkeit reifte ihren Verstand! Und manches harte Auge wurde feucht – und wenn man sie mit ihrem Körbchen mit Modearbeiten durch die Straßen schweben sah, immer noch ihre glücklichen Bruchstücke unzusammenhängender Lieder wie ein Vögelchen summend, da sagten Alte und Kinder gleicherweise mit Achtung, worin jetzt keine Geringschätzung mehr lag:

»Es ist das blödsinnige Mädchen, das seinen blinden Großvater erhält!«

Blödsinnig nannte man sie noch!



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