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Fünftes Kapitel.

Nach dem gewohnten Treiben ging der Schelm,
Arglose Menschen lockend in sein Netz,
Kluge bezaubernd, wie zuvor gesagt;
Doch als er sah in stattlichem Gewand
Den ernsten, majestät'schen Ritter nahn,
War bang und lang sein Angesicht.

Thomson. Das Schloß des Müßiggangs.

Der Morgen brach an, welcher Monsieur Goupille mit Mademoiselle Adèle de Courval verbinden sollte. Die Ceremonie war vorüber, und Braut und Bräutigam machten diese Feuerprobe mit geziemendem Ernst durch. Nur schien die elegante Adèle in einer ernsthafteren Aufregung, als Mr. Love sich gut erklären konnte; sie war in »der Kirche sehr angegriffen und wandte die Augen öfter nach der Thüre als nach dem Altar. Vielleicht hatte sie Lust zu entlaufen; aber dazu war es jetzt entweder zu spät oder noch zu früh. Nachdem die Trauung vollzogen, begaben sich das glückliche Paar und ihre Freunde in den Cadran bleu, zu dem bei den Festlichkeiten der guten Bürger von Paris so berühmten Restaurant. Hier hatte Mr. Love, auf des épiciers Kosten, ein höchst geschmackvolles Gastmahl bestellt.

» Sacré! aber Ihr habt nicht den Oekonomen gespielt, Monsieur Love,« sagte Monsieur Goupille in ziemlich verdrießlichem Ton, als er einen Blick auf das lange, mit künstlichen Blumen geschmückte Zimmer, und die Table à cinquante couverts warf.«

»Bah!« erwiederte Mr. Love. »Ihr könnt nachher Euch einschränken. Denkt an das Vermögen, das sie Euch zubringt!«

»Es ist eine hübsche Summe, allerdings,« sagte Monsieur Goupille, »und der Notar ist vollkommen zufrieden.«

»Keine Heirath in ganz Paris macht mir mehr Ehre,« sagte Mr. Love; und er trat vor, um die Komplimente und Glückwünsche anzunehmen, die ihn bei denjenigen Gästen erwarteten, welche um seine geleisteten guten Dienste wußten.

Der Vicomte de Vaudemont war natürlich nicht anwesend. Er hatte sich dem Mr. Love nicht genähert, seit Adèle den épicier erhört hatte. Aber Madame Beavor, in einem weißen Hut, mit Lila staffirt, hing sentimental am Arm des Polen, der ein sehr vornehmes Gesicht machte mit seiner weißen Herzenskönigin, und Mr. Higgins war durch Mr. Love mit einer kleinen, schwarzen Kreolin bekannt gemacht worden, welche falsche Diamanten trug und sehr schmachtende Augen hatte; so daß dem Mr. Love wohl das Herz vor Zufriedenheit und Stolz schwellen mochte, bei der Aussicht auf die bevorstehenden Glückseligkeiten alle, welche ihm ihre Entstehung zu danken haben würden. In der That war dieser Erzpriester von Hymens Tempel nie größer als heute; nie schien sein Etablissement fester gegründet, nie sein Ruf populärer, sein Vermögen gesicherter. Er war das Leben der Gesellschaft

Nachdem das Bankett vorüber, machten die fröhlichen Gäste Anstalt zu einem Ball. Monsieur Goupille, in engen, straffen Beinkleidern, noch enger als er gewöhnlich trug, von vorzüglichem, ganz neuem Nanking, mit gestreiften seidnen Strümpfen, eröffnete den Ball mit der Dame eines reichen pâtissier in demselben Faubourg; Mr. Love zog die Braut auf. Der Abend rückte vor; und nach verschiednen andern Höflichkeitstänzen, glaubte sich Monsieur Goupille nunmehr auch berechtigt, einen der ehelichen Zärtlichkeit zu widmen. Ein Contretanz wurde verlangt, und der épicier erbat sich die schöne Hand der vornehmen Adèle. Um diese Zeit waren zwei Personen, die man bisher nicht bemerkt, in aller Stille ins Zimmer getreten, und schienen, in der Nähe der Thüre stehen bleibend, die Tanzenden zu mustern, wie wenn sie Jemand suchten. Sie fuhren mit den Köpfen hin und, herauf und ab, setzt bückten sie sich, jetzt stellten sie sich auf die Zehen. Der Eine war ein großer Mann mit großem Backenbart und hellen Haaren; der Andere eine kleine, magere, zierlich gekleidete Gestalt, die die Hand in den Arm ihres Begleiters legte und von Zeit zu Zeit ihm zuflüsterte. Der Herr mit dem Backenbart antwortete in einem Gutturalton, der seine deutsche Herkunft verrieth. Die eifrigen Tänzer bemerkten die Fremden nicht, wohl aber die Umstehenden, und ein neugieriges Gesumme ging durch den Saal: Wer mochten sie seyn? – Wer hatte sie eingeladen? – Es waren neue Gesichter im Faubourg – vielleicht Verwandte von Adèle?

In hohem Entzücken schwebte die schöne Braut tanzend dahin, während Monsieur Goupille, sich vorsichtig die Stirne wischend, ihre Gewandtheit bewunderte, als, siehe da! der Herr mit dem Backenbart plötzlich von seinem Begleiter weg vortrat und schrie:

» La voilà! Sacré tonnerre!«

Bei dieser Stimme – dieser Erscheinung hielt die Braut inne, und zwar so plötzlich, daß sie nicht Zeit hatte, beide Füße auf den Boden zu setzen, sondern den einen hoch in die Luft hinausgestreckt stehen blieb, während der andere auf der leichten, phantastischen Zehe schwebte. Die Gesellschaft glaubte natürlich, dies sey ein Hauptkunststück, welches Beifall erheische. Monsieur Love, der hinter ihr herdonnerte, schrie: Bravo! und da der wohlgewachsene Herr eine Schwenkung zu machen hatte, um ihr Gleichgewicht nicht zu stören, stieß er mit seiner ganzen Wucht auf den Fremden mit dem Backenbart und schleuderte ihn zurück wie ein Racket Schläger. – Anm.d.Hrsg. einen Ball.

» Mon Dieu!« schrie Monsieur Goupille. » Ma douce amie – sie ist ohnmächtig geworden!«

Und in der That, nicht sobald hatte Adèle wieder ihr Gleichgewicht gewonnen, als sie es von Neuem verlor, und dem erstaunten Polen, der zum Glück in der Nähe war, in die Arme sank.

Inzwischen trat der Fremde aus Deutschland, der sich vor dem Fallen dadurch gerettet, daß er mit seiner vollen Wucht dem Mr. Higgins auf die Zehen trat, wieder hervor, faßte die schöne Braut am Arm und rief:

»Keine Gaukeleien, wenn's beliebt, Madame – sprecht! Was Teufels habt Ihr mit dem Geld gethan?«

»In der That, Herr!« sagte Monsieur Goupille, seine Kravatte hinaufziehend, »das ist ein sehr ungewöhnliches Betragen! Was habt Ihr zu dieser Dame Geld zu sagen? – es ist jetzt mein Geld, Herr!«

»Oho! Euer? Wirklich? das wollen wir bald sehen. Approchez donc, Monsieur Favart, faites votre devoir!«

Auf diese Worte schlenderte der kleine Begleiter des Unbekannten langsam heran, während auf die Nennung seines Namens und beim Ton seiner Schritte Alles rechts und links zurückwich. Denn Monsieur Favart war Einer der berühmtesten Anführer der großen Pariser Polizei, – ein Mann, werth Zeitgenosse des großen Vidocq Eugène François Vidocq (1775-1857), französischer Krimineller und Kriminalist, dessen Leben zahlreiche Schriftsteller wie Victor Hugo und Honoré de Balzac inspirierte. Durch seine Aktivitäten als Begründer und erster Direktor der Sûreté nationale sowie die anschließende Eröffnung einer Privatdetektei, die wahrscheinlich die erste der Welt war, wird er von Historikern heute als »Vater« der modernen Kriminalistik und der französischen Polizei betrachtet und gilt als erster Detektiv überhaupt. – Anm.d.Hrsg. zu seyn.

» Calmez-vous, Messieurs; seyd ohne Furcht, meine Damen,« sagte dieser Herr in der allermildesten Stimme, die man sich denken kann; und gewiß brachte nie Oel auf die Wellen geträufelt eine so beruhigende Wirkung hervor, wie dieser dünne, schwache, zarte Tenor. Der Pole insbesondere, der die schöne Braut in seinen beiden Armen hielt, schüttelte sich ordentlich, und schien im Begriff, seine Bürde allmälig auf den Boden sinken lassen zu wollen, als Monsieur Favart, ihn mit wohlwollendem Lächeln anblickend, ansah.

» Aha, mon brave! c'est toi! Restez donc. Restez, tenant toujours la dame!«

Der Pole, hiemit verurtheilt, »immer die Dame zu haben,« hob mechanisch die Arme empor, die er zuvor hatte sinken lassen, und der Polizeibeamte sagte mit einem beifälligen Kopfnicken:

» Bon! ne bougez point, c'est ça!«

Monsieur Goupille, ebenso erstaunt als entrüstet, seine bessere Hälfte so, ohne Berücksichtigung seiner Gattengefühle, den Armen eines Anderen übergeben zu sehen, war im Begriff, sie dem Polen zu entreißen, als Monsieur Favart, ihn mit dem kleinen Finger auf der Brust anrührend, mit der freundlichsten Art sagte:

» Mon bourgeois, mengt Euch nicht in das, was Euch Nichts angeht.«

»Was mich Nichts angeht!« wiederholte Monsieur Goupille, sich dermaßen hoch emporrichtend, daß es schien, als wolle er seine engen Beinkleider sprengen. »Erklärt Euch, wenn es Euch beliebt! Diese Dame ist meine Frau!«

»Sagt das noch einmal – nur noch einmal!« schrie der Fremde mit dem Backenbart im gräßlichsten Französisch und mit einer wüthenden Geberde, indem er beide Fäuste dem épicier unter der Nase schüttelte.

»Es noch einmal sagen, Herr,« sagte Monsieur Goupille, keineswegs eingeschüchtert; »und warum sollte ich es nicht noch einmal sagen? Diese Dame ist meine Frau!«

»Ihr lügt! es ist die meinige!« schrie der Deutsche, und sich niederbückend, riß er die schöne Adèle aus den Armen des Polen mit so wenig Umständen, als hätte sie nie einen Marquis zum Großvater gehabt; und indem er ihr einen Puff gab, der Todte hätte erwecken können, donnerte er:

»Sprecht, Madame Bihl? Seyd Ihr meine Frau oder nicht?«

» Monstre!« murmelte Adèle, indem sie die Augen aufschlug.

»Da hört Ihrs! Sie erkennt mich an!« sagte der Deutsche mit triumphirender Miene sich an die Versammlung wendend.

» C'est vrai!« sagte die sanfte Stimme des Polizeimannes. »Und jetzt, bitte, laßt Euch nicht länger in Eurem Vergnügen stören. Wir haben einen fiacre vor der Thüre. Bringt Eure Dame weg, Monsieur Bihl!«

»Monsieur Love! Monsieur Love!« schrie; oder vielmehr kreischte der épicier, indem er durch das Zimmer stürzte und den chef am Rockflügel faßte, als er gerade halb zur Thüre hinaus war. »Kommt zurück! Quelle mauvaise plaisanterie me faites-vous ici? Sagtet Ihr mir nicht, das Frauenzimmer sey ledig? Bin ich verheirathet oder nicht? Stehe ich auf meinem Kopf oder auf meinen Füßen?«

»Still, still, mon bon bourgeois!« flüsterte Mr. Love; »Alles soll morgen erklärt werden.«

»Wer ist dieser Herr?« fragte Monsieur Favart, sich Mr. Love nähernd, der, als er sah, daß man ihn in Anspruch nahm, plötzlich den éspicier von sich schüttelte, die Hände in seine Hosentasche steckte, sein Kinn in seiner Kravatte begrub, die Augbrauen hinaufzog, die Augen blinzend zusammenzog und die Wangen aufblies, so daß der erstaunte Monsieur Goupille sich in der That verhext glaubte und im buchstäblichen Sinne das Gesicht des Ehenstifters nicht mehr erkannte.

»Wer ist dieser Herr?« wiederholte der kleine Beamte, der neben, oder vielmehr unter Mr. Love stand, und vermöge des Contrastes so zwerghaft erschien, daß man glauben konnte, der Priester Hymens dürfe nur athmen, um ihn wegzublasen. »Wer sollte er seyn, Monsieur?« schrie mit großer Keckheit Madame Rosalie Coumartin, mit der Großmuth ihres Geschlechts zur Hülfe herbeieilend – »das ist Monsieur Love – Anglais celèbre. Was habt Ihr gegen ihn zu sagen?«

»Er hat mir 500 Franks abgenommen!« schrie der épicier.

Der Polizeimann musterte den Mr. Love mit großer Aufmerksamkeit »So seyd Ihr also wieder in Paris! – Hein! – Vous jouez toujours votre rôle

» Ma foi!« sagte Mr. Love keck, »ich verstehe nicht, was Monsieur meint; mein Charakter ist wohl bekannt – geht und erkundigt Euch in London – fragt den Staatssekretär der auswärtigen Angelegenheiten, was man von mir sagt – erkundigt Euch bei meinem Botschafter – fragt meinen –«

» Votre passe-port, Monsieur!«

»Der ist zu Hause. Ein Gentleman führt seinen Paß nicht in der Tasche mit sich, wenn er auf einen Ball geht.«

»Ich will einsprechen und ihn sehen – au revoir! Nehmt meinen Rath an und verlaßt Paris; ich denke, ich habe Euch sonst schon gesehen!«

»Und doch habe ich noch nie die Ehre gehabt, Monsieur zu verheirathen!« sagte Mr. Love mit einer höflichen Verbeugung.

In Erwiederung dieses Scherzes warf der Polizeimann dem Mr. Love Einen Blick zu – es war ein ruhiger, sehr ruhiger Blick; aber Mr. Love schien ungewöhnlich betroffen darüber; er sagte kein Wort mehr, und befand sich in einem Nu außerhalb des Hauses. Monsieur Favart wandte sich um, und sah den Polen, der sich so klein als möglich zu machen suchte hinter den stattlichen Proportionen der Madame Beavor.

»Welchen Namen führt dieser Herr?«

»So–vo–lofski, der heldenmüthige Pole!« rief Madame Beavor mit unheimlichen Ahnungen bei der unerwarteten Feigheit eines so großen Patrioten.

» Hein! Nehmt Euch in Acht, meine Damen. Ich habe diesmal Nichts gegen diese Person. Aber Monsieur Latour hat seine Lehrjahre auf den Galeeren durchgemacht, und ist so wenig ein Pole, als ich ein Jude.«

»Und das Vermögen dieser Dame!« schrie Monsieur Goupille pathetisch; »die Contrakte sind alle gemacht – die Notare alle bezahlt. Gewiß, hier muß ein Mißverständniß obwalten.«

Monsieur Bihl, der inzwischen seine verlorene Helena wieder zur Besinnung gebracht, schritt auf den épicier zu, die Dame mit sich hinschleppend.

»Herr, hier ist gar kein Mißverständniß! Aber, wenn ich das Geld wieder habe – falls Ihr Lust zu der Dame habt, seyd Ihr ihr willkommen.«

» Monstre!« murmelte wieder die schöne Adèle.

»Kurz und gut, die Sache verhält sich so,« sagte Monsieur Favart: »Monsieur Bihl ist ein brave garçon und hat die halbe Welt als Courier durchreist.«

»Als Courier!« riefen mehrere Stimmen.

»Madame war Kinderstuben-Gouvernantin bei einem englischen Mylord. Sie heiratheten und entzweiten sich – nichts Arges daran, mes amis; Nichts gewöhnlicher als das. Monsieur Bihl ist ein sehr treuer Kerl; pflegte seinen letzten Herrn in einer Krankheit, welche mit dem Tod endete, weil er mit seinem Arzt reiste. Mylord hinterließ ihm ein schönes Legat – er zog sich vom Dienst zurück und wurde krank, vielleicht vom Müßiggang oder vom Bier. Ist die Geschichte nicht so, Monsieur Bihl?«

»Er war immerfort betrunken, der Elende,« schluchzte Adèle.

»Nur um meinen häuslichen Kummer zu ertränken,« sagte der Deutsche; »und als ich krank in meinem Bette lag, entlief Madame mit meinem Gelde. Dank diesem Herrn, habe ich beide wieder gefunden, und ich wünsche Euch eine recht gute Nacht.«

» Dansez toujours, mes amis,« sagte der Beamte mit einer Verbeugung, und Adèlen und ihrem Gemahle folgend, verließ der kleine Mann das Zimmer, wo er bei Leuten von so breiter Brust und so stämmigen Gliedern etwa dieselbe Bestürzung hervorgebracht hatte, wie ein kleiner Spürhund in einem Nest von Kaninchen zweimal so groß wie er.

Morton war länger geblieben als Mr. Love. Aber er erachtete es für unnöthig, noch lange nach dem Weggehen dieses Ehrenmannes zu verweilen; und in dem allgemeinen Aufruhr, der nun folgte, schlich er unbeachtet fort und erreichte bald das Bureau. Er fand Mr. Love und Mr. Birnie bereits beschäftigt, ihre Habseligkeiten zusammenzupacken.

»Ei, wann ginget denn Ihr weg?« sagte Morton, zu Mr. Birnie.

»Ich sah den Polizeimann eintreten.«

»Und warum Henkers habt Ihr es uns nicht gesagt?« fragte Gawtrey.

»Jeder ist sich selbst der Nächste. Ueberdies tanzte Mr. Love gerade,« versetzte Mr. Birnie mit einem stumpfen Blick der Verachtung.

»Philosophie!« murmelte Gawtrey, indem er seinen Staatrock in seinen Koffer packte; dann plötzlich seinen Ton ändernd, rief er: »Ha! ha! es war doch im Grunde ein prächtiger Spaß – gesteht nur, ich spielte meine Rolle gut! Bei Gott! wenn er mir nicht jenen Blick zugeworfen, ich glaube, ich hätte die Tische über ihn geworfen. Aber diese verdammten Kerls lernen von den Irrenärzten, wie sie uns bändigen können. Wahrlich, das Herz fiel mir in die Schuhe – und doch bin ich keine Memme!«

»Aber am Ende hat er Euch doch allem Anschein nach nicht erkannt?« sagte Morton, »und was hat er gegen Euch vorzubringen? Euer Gewerbe ist ein seltsames, aber kein unehrliches. Warum davonlaufen, als ob –«

»Mein junger Freund,,« fiel ihm Gawtrey ins Wort, »mag nun der Polizeibeamte uns aufsuchen oder nicht, unser Gewerbe ist ruinirt; diese höllische Adèle mit ihrer fabelhaften grand maman hat uns den Garaus gemacht. Goupille wird uns den Tempel über dem Kopf einstürzen machen. Da hilft Nichts – he, Birnie?«

»Nichts!«

»Geh zu Bette, Philipp; wir wollen Dich mit Tagesanbruch rufen, denn wir müssen aufgeräumt haben, ehe unsre Nachbarn die Läden öffnen.«

 

Nur halb entkleidet auf seinem Bette in seinem kleinen Cabinet liegend, überdachte Morton die Ereignisse dieses Abends. Der Gedanke, daß er nicht mehr jene weiße Hand und jenen schönen Mund sehen sollte, welche noch immer, als der Unbekannten angehörend, seiner Erinnerung vorschwebten, ließ ihn die von Gawtrey beabsichtigte plötzliche Flucht mit sehr ungünstigem Auge betrachten, während er (so groß war sein Glaube an diesen Mann, gegründet auf Achtung wegen zuversichtlicher Kühnheit gewesen, und so gänzlich furchtlos war Morton selbst,) seine Anhänglichkeit an den Chef gewaltig erschüttert fühlte durch die Erinnerung an den Eindruck, welchen ein einziger Blick von dem Werkzeuge des Gesetzes auf den kräftigen Mann gemacht hatte.

Er hatte noch nicht lange genug gelebt um zu wissen, daß Menschen manchmal die Repräsentanten von Dingen sind; daß, was die Skytale Die Skytale ist das älteste bekannte militärische Verschlüsselungsverfahren. Von den Spartanern wurden bereits vor mehr als 2500 Jahren geheime Botschaften. Zur Verschlüsselung diente ein (Holz-)Stab mit einem bestimmten Durchmesser. Um eine Nachricht zu verfassen, wickelte der Absender ein Pergamentband oder einen Streifen Leder wendelförmig um die Skytale, schrieb die Botschaft längs des Stabs auf das Band und wickelte es dann ab. Das Band ohne den Stab wird dem Empfänger überbracht. Fällt das Band in die falschen Hände, so kann die Nachricht nicht gelesen werden, da die Buchstaben scheinbar willkürlich auf dem Band angeordnet sind. Der richtige Empfänger des Bandes konnte die Botschaft mit einer identischen Skytale (einem Stab mit dem gleichen Durchmesser) lesen. – Anm.d.Hrsg für den spartanischen Helden war, der Verhaftbefehl eines Sheriffs oft für einen Träger der Waterloomedaille ist; daß ein Beamter von Bow-Street in die schändlichste Höhle hineintritt, wo der Mord mit seinen Genossen sitzt, und mit einem Wink seines Zeigefingers seine Beute herausholt; daß mit Einem Wort das Ding, das Gesetz heißt, wenn es einmal sichtbar und greifbar naht, selten die Wirkung verfehlt, das trotzige Herz des Dings, das Verbrechen heißt, zu lähmen. Denn das Gesetz ist das Symbol der ganzen Menschheit, die sich erhebt gegen Einen Feind – gegen den Menschen, der dem Verbrechen verfallen.

Noch unbekannt mit dieser Wahrheit, und nicht im Mindesten argwohnend, daß Gawtrey schlimmerer Sünden sich schuldig gemacht, als eines charlatanmäßigen und zweideutigen Gewerbes, sann der junge Mann verwundert und mit verachtender Mißbilligung über seines Protektors Feigheit nach; bis er endlich, ermüdet von Vermuthungen, Mißtrauen und Schaam über seine eigne seltsame Lage, daß er einem Manne verpflichtet war, den er nicht achten konnte, in Schlaf sank.

 

Als er erwachte, sah er das graue Licht der Morgendämmerung, das unlustig durch die Fenster ohne Läden brach, mit dem schwachen Schimmer einer Kerze kämpfen, welche Gawtrey, sie mit der Hand bedeckend, über den Schläfer hielt. Er fuhr auf, und, in der Verwirrung des Aufwachens, und bei dem unvollkommnen Licht, bei welchem er Gawtreys starke Züge sah, bildete er sich halb ein, es stehe ein Feind vor ihm.

»Gebt Acht, Freund!« sagte Gawtrey, als Morton in diesem Wahn ihn am Arm packte. »Ihr habt eine köstliche, derbe Faust, Einen zu packen. Seyd ruhig, wollt Ihr? Ich habe ein Wort mit Euch zu sprechen.«

Hier ging Gawtrey, indem er die Kerze auf einen Stuhl stellte, an die Thüre zurück und schloß sie.

»Seht Ihr,« begann er mit flüsterndem Tone; »ich habe beinahe den ganzen Kreis meiner Erfindsamkeit durchlaufen, und mein Witz, so fruchtbar er ist, gibt mir wenig Ermuthigung mehr für die Zukunft. Nachdem einmal dieser Favart sein Auge auf mich geworfen, wird alle Vermummung und alle Täuschung wenig helfen. Ich darf nicht nach London zurück; ich bin zu gut bekannt in Brüssel, Berlin und Wien –«

»Aber,« unterbrach ihn Morton, indem er sich auf den Arm stützte und seine dunkeln Augen auf seinen Wirth heftete, – »aber Ihr habt mir ja zu wiederholten Malen gesagt, Ihr habet kein Verbrechen begangen – warum denn so ängstlich zittern vor einer Entdeckung?«

»Warum!« wiederholte Gawtrey mit einem leichten Zögern, das er aber augenblicklich überwand, »warum! habt Ihr denn nicht selbst erfahren, daß der Schein oft die Folgen von wirklichen Verbrechen nach sich zieht? – wurdet Ihr nicht als ein Dieb gehetzt, als ich Euch vor Eurem Feind, dem Gesetz, rettete? – seyd Ihr nicht, obgleich den Jahren nach noch ein Knabe, unter einem fremden Namen ein Verbannter aus Eurem Vaterlande? Und wie könnt Ihr diese strengen Fragen an mich richten, der ich grau werde in dem Bestreben, Sonnenstrahlen aus Gurken zu ziehen – Lebensunterhalt aus der Armuth? Ich wiederhole, es liegen Gründe vor, warum ich für den Augenblick die großen Hauptstädte meiden muß. Ich muß eine Stufe im Leben herabsteigen und mich an die Provinzen halten. Birnie ist sanguinisch wie immer; aber er ist ein gräßlicher Tröster. Genug hievon. Jetzt zu Euch; unsre Ersparnisse sind geringer, als Ihr wohl erwartet; freilich ist Birnie Schatzmeister gewesen, und ich habe Etwas für die arme Fanny zurückgelegt, was ich nicht anrühren will, und müßte ich Hungers sterben. Indeß bleiben noch 150 Napoleons übrig, und unsre Habseligkeiten, zum vierten Theil ihres Werths verkauft, werden weitere 150 ertragen. Hier ist Euer Theil. Ich habe Mitleid mit Euch. Ich hab' Euch gesagt, ich wolle Euch unangefochten und unschuldig erhalten. Verlaßt uns, so lange es noch Zeit.«

Es schien jetzt Morton, Gawtrey habe seine Gedanken zu entfliehen und seine Schaam am vorigen Abend errathen; vielleicht war dem wirklich so; aber so ist das menschliche Herz, daß Philipp, statt die Befreiung willkommen zu heißen, die er halb und halb beabsichtigt, jetzt da sie ihm angeboten wurde, davor zurückschreckte als niederträchtiger Treulosigkeit.

»Armer Gawtrey!« sagte er, den Leinwandbeutel mit Gold zurückschiebend, der ihm hingeboten wurde, »Ihr sollt nicht in die weite Welt gehen mit dem Bewußtseyn, daß der Waise, den ihr genährt und gepflegt, mit Eurem Geld in der Tasche Euch verlassen in darbendem Mangel. Da Ihr mich wieder versichert, daß Ihr kein Verbrechen begangen, erinnert Ihr mich auch wieder, daß die Dankbarkeit kein Recht hat, streng zu seyn gegen das Thun und die Verirrungen des Wohlthäters. Wenn Ihr Euch nicht mit der Gesellschaft vertragt – was hat denn die Gesellschaft für mich gethan? Nein, ich will Euch nicht verlassen in der Widerwärtigkeit, das Glück hat Euch einmal fallen lassen! Muth denn, und ihm wieder nach!«

Diese letzten Worte hatte Morton, indem er vom Bett aufsprang, mit solcher Herzlichkeit und Heiterkeit gesprochen, daß Gawtrey, der wirklich an seinem Geschick verzweifelt hatte, wieder Muth faßte.

»Gut,« sagte er, »ich kann den einzigen Freund, der mir geblieben, nicht zurückweisen, und so lange ich lebe – Aber ich will keine Betheurungen vorbringen. Rasch denn, unser Gepäck ist schon fort, und ich höre Birnie den Rückzugsmarsch der Spitzbuben brummen.«

Mortons Toilette war bald vollendet, und die drei Genossen sagten dem Bureau Lebewohl.

Birnie, schweigsam und undurchdringlich wie immer, ging ein Wenig voraus als Führer. Sie kamen endlich an dem Laden eines Schlossers an, in einer Gasse nahe bei Porte St. Denis. Der Schlosser selbst, ein großer, grimmig aussehenden schwarzbärtiger Mann, nahm, als sie sich näherten, die Läden von seiner Werkstatt ab. Er und Birnie wechselten stumme Winke; und der Erstere führte sie, seine Arbeit verlassend, eine sehr schmutzige Treppenflucht hinauf in eine Bodenkammer, wo ein Bett, zwei Stühle, ein Tisch und ein alter Schreibtisch von Nußbaumholz das ganze Ameublement ausmachten. Gawtrey sah sich ziemlich betrübt in den schwarzen, niedern, feuchten Wänden um, und sagte in kleinlautem Tone:

»Im Tempel Hymens waren wir besser dran! Aber bringt uns eine Flasche Wein, Eier und eine Schmorpfanne, – beim Jupiter, ich werde einem Pfannkuchen tüchtig zusprechen!«

Der Schlosser nickte wieder, grinste und ging.

»Bleibt hier,« sagte Birnie mit seiner ruhigen, leidenschaftlosen Stimme, die jedoch, wie Morton zu bemerken glaubte, einen ungewohnten, befehlenden Ton annahm. »Ich will gehen und unsere Sachen so gut als möglich verhandeln, frische Kleider kaufen und unsere Plätze nach Tours bestellen.«

»Nach Tours?« wiederholte Morton.

»Ja; dort sind Engländer; man kann überall leben, wo Engländer sind,« sagte Gawtrey.

»Hm!« brummte Birnie trocken, und seinen Rock zuknöpfend schritt er langsam fort.

Um Mittag kam er mit einem Bündel Kleider zurück, welche Gawtrey, der immer die Elastizität seines Geistes wieder gewann, wo seine Talente sich zeigen konnten, mit großer Aufmerksamkeit und vielen Ausrufen: » bon! c'est ça!« musterte.

»Ich habe gut gehandelt mit dem Juden,« sagte Birnie, aus seiner Rocktasche zwei schwere Beutel ziehend. Hundert- und achtzig Napoleons. Wir werden mit einem hübschen Kapital anfangen.

»Ihr habt Recht, mein Freund,« sagte Gawtrey.

Der Schlosser ward jetzt zu dem besten Restaurant in der Nachbarschaft geschickt, und die drei Abenteurer hielten eine minder sokratische Mahlzeit, als man hätte erwarten sollen.



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