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Sechzehntes Kapitel.

Nach dem Mittagsessen mit der Familie, bei welchem der Gast des Pachters einen selbst für ihn ungewöhnlichen Appetit entwickelte, folgte Kenelm seinem Wirth nach dem Hof, auf welchem die Heuschober aufgestellt waren, und sagte:

»Mein lieber Herr Saunderson, obgleich Sie keine Arbeit mehr für mich haben und ich Ihre Gastfreundschaft nicht länger mißbrauchen sollte, würde ich Ihnen doch sehr dankbar sein, wenn Sie mir erlauben wollten, noch einen oder zwei Tage bei Ihnen zu bleiben.«

»Mein lieber Junge«, rief der Pachter, in dessen Achtung Kenelm seit seinem Sieg über Tom Bowles noch unendlich gestiegen war, »bleiben Sie, solange Sie wollen, wir werden uns alle freuen und bedauern, wenn Sie fortgehen. Auf alle Fälle müssen Sie bis 309 über Sonnabend bleiben; denn Sie sollen mit uns zum Erntefest beim Squire gehen. Sie werden da einen hübschen Anblick haben, und meine Mädchen rechnen schon auf einen Tanz mit Ihnen.«

»Sonnabend – übermorgen? Sie sind sehr gütig, aber Lustbarkeiten sind nicht eben meine Sache und ich glaube, ich werde schon unterwegs sein, ehe Sie zu dem Erntefest aufbrechen.«

»Bah, Sie müssen bleiben und ich sage Ihnen, junger Mensch, wenn Sie mehr zu thun haben wollen, so habe ich eine Arbeit, die ganz für Sie paßt.«

»Und die wäre?«

»Meinen Pflüger durchwalken; er ist diesen Morgen insolent gegen mich gewesen und ist nach Tom Bowles der stärkste Mensch in der Grafschaft.« Bei diesen Worten lachte der Pachter herzlich und freute sich seines eigenen Witzes.

»Danke ergebenst«, sagte Kenelm, indem er sich seine gequetschten Stellen rieb. »Ein gebranntes Kind scheut das Feuer.«

Unser junger Freund wanderte allein in die Felder. Das Wetter wurde trübe und es drohte zu regnen. Die Luft war ungewöhnlich still; die sonnenlose Landschaft trug das Gepräge trübseliger Einsamkeit. Kenelm gelangte an das Ufer des Baches, nicht 310 weit von der Stelle, wo der Pachter ihn zuerst gefunden hatte. Hier setzte er sich nieder, stützte den Kopf auf die Hand und heftete seine Blicke auf das stille dunkle Wasser, das traurig dahinfloß; Kummer beschlich sein Herz und gab seinen Gedanken eine trübe Färbung.

»Ist es denn wahr«, sagte er laut zu sich, »daß ich geboren bin, ganz allein durchs Leben zu gehen, ohne nach einer schwesterlichen Hälfte meiner selbst zu begehren, daß ich nicht einmal an die Möglichkeit einer solchen Vereinigung glaube, daß ich vor dem bloßen Gedanken an dieselbe zurückschrecke und diejenigen, die danach seufzen, halb verhöhnen, halb verlachen muß? Sie seufzen nach etwas Unerreichbarem, ebenso gut könnten sie den Mond herabsehnen. Und doch, wenn andere Männer danach seufzen, warum liegt denn mir die Sache so fern? Wenn die Welt eine Bühne ist und alle Männer und Frauen in derselben nur Schauspieler, soll ich allein den einsamen Zuschauer abgeben, der keine Rolle in dem Drama spielt und kein Interesse an dem Verlauf desselben nimmt? Ohne Zweifel gibt es Viele, die so wenig wie ich nach der Rolle des Liebhabers trachten, der eine klägliche Ballade auf die Augenbrauen seines Liebchens dichtet, aber dann verlangen sie doch nach einer andern 311 Rolle, zum Beispiel nach der des Soldaten, ›mit dem Bart wie ein Leopard‹, oder der des Richters, ›mit dem runden Bäuchlein, das fette Kapaunen gemästet‹. Aber mich beseelt kein Ehrgeiz, ich trage kein Verlangen, weder Carrière zu machen, noch zu glänzen. Ich möchte weder Oberst noch Admiral, noch Parlamentsmitglied, noch Alderman sein; ich sehne mich nicht nach dem Ruf eines Witzlings oder eines Dichters oder eines Philosophen oder eines beliebten Gesellschafters oder eines Hauptschützen bei einem Büchsenschießen oder bei der Jagd. Es ist nicht anders! Ich bin der einzige müßige Zuschauer und habe nicht mehr Interesse an der thätigen Welt als ein Stein. Es ist eine schauerliche, phantastische Grille von Goethe, daß wir ursprünglich alle Monaden waren, kleine in der Atmosphäre umherschwirrende gesonderte Atome, die hierhin und dorthin von Kräften, über die wir keine Herrschaft hatten, besonders durch die Anziehung anderer Monaden getragen wurden, sodaß eine Monade, von Schweinemonaden getrieben, sich zu einem Schwein krystallisirt, eine andere, von heroischen Monaden gedrängt, ein Löwe oder ein Alexander wird. Nun ist es ganz klar«, fuhr Kenelm fort, indem er seine Stellung veränderte und das rechte Bein über das linke schlug, »daß eine für einen andern Planeten bestimmte 312 oder geeignete Monade auf ihrem Wege zu dieser Bestimmung einem Strom anderer erdwärts schwebender Monaden begegnen und von diesem Strome aufgefangen und so fortgewirbelt werden kann, daß sie ihre ganze Bestimmung und den eigentlichen Schauplatz ihrer Wirksamkeit verfehlt und sich zu einem menschlichen Wesen conglomerirt hier niederlassen muß. Das ist wahrscheinlich mein Loos gewesen. Meine für eine andere Region des Weltraums bestimmte Monade ist hier auf die Erde gefallen, wo sie sich nie zu Hause fühlen, sich nie mit andern Monaden amalgamiren und nicht begreifen kann, warum diese anderen in einer fortwährenden krampfhaften Unruhe leben. Ich bekenne so wenig zu wissen, warum die Gemüther menschlicher Wesen so rastlos aufgeregt über Dinge sind, die ihnen eingestandenermaßen mehr Pein als Vergnügen verursachen, wie ich es verstehe, warum dieser Schwarm von Mücken, der so kurze Zeit zu leben hat, sich nicht einen Augenblick Ruhe gönnt, sondern auf und ab fliegt, aufwärts und niederwärts, wie auf einer Schaukel, und solchen Lärm über seine Wechselbewegungen von unten nach oben und von oben nach unten macht. Und doch würde vielleicht auch meine Monade auf einem andern Planeten mit verwandten Monaden so zufrieden und so albern gehüpft und 313 gesprungen und getanzt und geschaukelt haben, wie es die Monaden der Menschen und Mücken in diesem mir fremden Jammerthal thun.«

Kenelm war eben bei dieser conjecturalen Lösung der ihn beschäftigenden Schwierigkeiten angelangt, als er eine Stimme vernahm, die sang oder sich vielmehr in jener zwischen Recitativ und Gesang liegenden rhythmisch modulirten Weise bewegte, welche so angenehm wirkt, wenn die Intonation rein und musikalisch ist. Das war sie in diesem Falle und kein Wort des folgenden Gesanges entging Kenelm's Ohr.

Zufriedenheit.
        Zu Zeiten hört des Lebens Kummer auf.
Die Bienen schwirren durch die Luft ohn' Hast,
Das Bächlein singt in plätschernd ruh'gem Lauf
Den Hänfling und die Lerch' zur sanften Rast.

Im Fluß ihr Wellen friedlich gleitet hin,
Wie nah' ihr auch des Meeres Wogen seid.
Ich wandre durch die Welt so weit, so weit!
Zufriedenheit hat doch nicht Raum darin.

O Seele, sage nie, die Welt sei weit,
So eng nicht sind des Bächleins Ufer hier.
Du nur bist unbegrenzt nach jeder Seit';
Zufriedenheit hat nimmer Raum in dir.

Als der Gesang zu Ende war, richtete Kenelm sich auf. Aber die Ufer des Baches zogen sich dergestalt 314 in einer Schlangenlinie dahin und waren so dicht mit Gebüsch bewachsen, daß der Sänger ihm einige Minuten lang unsichtbar blieb. Da plötzlich trat aus dem vor ihm liegenden Gebüsch und wenige Schritte von ihm der Mann, dem er das Lob des Beefsteaks als poetischen Vorwurf statt der Liebe empfohlen hatte, welche der Minnegesang in seinem uralten Irrthum besingt.

»Ah!« sagte Kenelm halb aufstehend, »da treffen wir uns wieder. Das ist ja schön. Haben Sie je dem Kukuk zugehört?«

»Haben Sie«, entgegnete der Troubadour, »je die Gegenwart des Sommers empfunden?«

»Erlauben Sie mir, Ihnen die Hand zu reichen. Ich bewundere die Frage, mit welcher Sie die meinige parirt und zurückgeschlagen haben. Wenn Sie nicht eilig haben, setzen Sie sich doch zu mir und lassen Sie uns ein wenig plaudern!«

Der Troubadour verneigte sich und ließ sich am Ufer neben Kenelm nieder. Sein Hund, der jetzt eben aus dem Schilf hervortauchte, näherte sich mit ernsthafter Miene Kenelm, der ihn noch ernsthafter wieder ansah, setzte sich dann schwanzwedelnd auf die Hinterbeine und horchte mit aufrecht stehenden Ohren auf ein Geräusch in dem nahen Schilf, offenbar im 315 Zweifel darüber, ob dasselbe von einem Fisch oder einer Wasserratte herrühre.

»Ich habe aber meine Frage, ob Sie je dem Kukuk zugehört haben, nicht aus müßiger Neugierde gethan. Denn oft geschieht es an Sommertagen, wenn man grübelnd dasitzt, daß eine Stimme gleichsam aus der innersten Seele der Natur ertönt – so fern ist sie und doch so nahe! – die sehr beruhigende und wohlklingende Töne vernehmen läßt, sodaß man sich versucht fühlt, unüberlegter- und thörichterweise zu sagen: Die Natur antwortet mir. Der Kukuk hat mir diesen Streich oft genug gespielt. Ihr Gesang ist eine bessere Antwort auf die Fragen, mit denen ein Mensch sich grübelnd quält, als er sie je von einem Kukuk erhalten kann.«

»Das bezweifle ich«, erwiderte der Troubadour. »Gesang ist im besten Falle doch nur das Echo einer aus der innersten Seele der Natur ertönenden Stimme. Und wenn der Kukuksruf Ihnen als eine solche Stimme erschien, so war derselbe, wenn Sie seine Sprache richtig zu deuten verstanden hätten, vielleicht eine wahrere Antwort auf Ihre Frage, als ein Mensch sie geben kann.«

»Mein guter Freund«, antwortete Kenelm, »was Sie da sagen, klingt ganz hübsch und spricht eine 316 Empfindung aus, welches von gewissen Kritikern so erweitert ist, daß sie zur unbegrenzten Domäne der Dickköpfe geworden ist, die in der vulgären Sprache Blödwitz heißt. Aber obgleich die Natur nie schweigt, obgleich sie das Privilegium ihres Alters dazu mißbraucht, widerwärtig geschwätzig und klatschsüchtig zu sein, kann sie doch nie auf unsere Fragen antworten, sie hat kein Verständniß für Argumente, sie hat Mill's Logik nicht gelesen. Kurz, die Natur hat, wie ein großer Philosoph treffend gesagt hat, keinen Geist. Jeder, der sich an sie wendet, ist genöthigt, ihr für einen Augenblick seinen eigenen Geist aufzudrängen, und wenn sie eine Frage beantwortet, die sein Geist an sie richtet, so geschieht das papageienartig mit einer Antwort, die wieder sein eigener Geist ihr in den Mund gelegt hat. Und da der Geist jedes Menschen von dem jedes anderen verschieden ist, so bekommt auch jeder Mensch eine andere Antwort. Die Natur ist ein altes Lügenweib.«

Der Troubadour lachte herzlich und sein Lachen klang so anmuthig wie sein Gesang.

»Die Dichter würden sehr viel verlernen müssen, wenn sie die Natur in diesem Lichte betrachten müßten.«

»Das trifft zu für die schlechten Dichter und bei 317 diesen wäre das Verlernen nur um so besser für sie und für ihre Leser.«

»Studiren denn die guten Dichter nicht die Natur?«

»Gewiß studiren sie die Natur, wie die Aerzte die Anatomie studiren, wenn sie todte Körper seciren. Aber der gute Dichter betrachtet wie der gute Arzt dieses Studium lediglich als das unentbehrliche A-B-C und nicht als das Allumfassende, welches ihm zur erfolgreichen Uebung seiner Kunst unerläßlich ist. Ich nenne den noch keinen guten Arzt, der ein Buch mit mehr oder weniger genauen Einzelnheiten über Fibern, Nerven und Muskeln füllt, und ich nenne den keinen guten Dichter, der ein Inventar des Rheins oder des Thals von Gloucester aufnimmt. Ein guter Dichter ist wie ein guter Arzt nur der, welcher den lebendigen Menschen versteht. Was ist das Wesen der dramatischen Poesie, welche Aristoteles mit Recht am höchsten stellt? Ist sie nicht die Poesie, in welcher alle Naturbeschreibung nothwendigerweise sehr kurz und allgemein gehalten sein muß, in welcher auf die äußere Gestalt des Menschen so wenig ankommt, daß sie mit jedem Schauspieler, der die Rolle gibt, wechselt? Ein Hamlet kann blond oder dunkel, ein Macbeth untersetzt oder hochgewachsen sein. Das Verdienst der 318 dramatischen Poesie besteht darin, daß sie an die Stelle der sogenannten Natur, das heißt, der äußeren und materiellen Natur, intelligente und fühlende, aber so rein immaterielle Geschöpfe setzt, daß man von ihnen sagen kann, sie seien ganz Geist und Seele; sie begnügen sich mit dem zeitweiligen Darlehn irgend eines gerade vorhandenen Körpers, wie ihn die Schauspieler leihen können, um sich den Zuhörern faßbar und sichtbar zu machen, bedürfen aber keines solchen Körpers, um faßbar und sichtbar für den Leser zu sein. Die höchste Art der Poesie ist daher diejenige, welche am wenigsten mit der äußeren Natur zu thun hat. Aber die Poesie jeden Grades kann ihr mehr oder weniger wahres und großes Verdienst haben, je nachdem sie der Natur das einflößt, was sie nicht besitzt: Vernunft und Seele.«

»Ich bin wenig geneigt, anzuerkennen«, sagte der Troubadour, »daß eine Form der Poesie praktisch höher stehe als eine andere, das heißt, insofern diese Anerkennung mich nöthigen würde, den Dichter, welcher die von Ihnen als die höchste bezeichnete Gattung mit einigem Erfolge cultivirt, über den Dichter zu stellen, der eine von Ihnen als sehr untergeordnet bezeichnete Gattung mit einem viel durchgreifenderen Erfolge cultivirt. In der Theorie mag die dramatische Poesie 319 höher stehen als die lyrische und das ›Gerettete Venedig‹ ist ein sehr schönes Schauspiel; aber ich halte Burns für einen größeren Dichter als Otway.«

»Das ist er vielleicht, ich kenne aber auch keinen lyrischen Dichter, wenigstens unter den modernen, der die Natur weniger als die rein äußerliche Gestalt der Dinge behandelt oder ihren Körper leidenschaftlicher mit seinem eigenen Herzen erfüllt, als es Robert Burns thut. Glauben Sie, daß, wenn ein Grieche in einer Verirrung seiner Vernunft oder seines Gewissens die weissagenden Eichenblätter von Dodona befragte, die Eichenblätter ihm antworteten? Glauben Sie nicht vielmehr, daß die von seinem Geiste ausgehende Frage von dem Geiste seines Priesters, seines Nebenmenschen beantwortet wurde, welcher die Eichenblätter lediglich zum Werkzeug der Mittheilung machte, wie Sie und ich etwa ein Blatt Schreibpapier zu einem solchen Werkzeug machen würden? Ist nicht die Geschichte des Aberglaubens eine Chronik der thörichten Versuche der Menschen, die Natur zum Antworten zu bringen?«

»Aber«, sagte der Troubadour, »ich meine irgendwo gehört oder gelesen zu haben, daß die Experimente der Wissenschaft die Antworten der Natur auf die von Menschen an sie gestellten Fragen sind?«

»Sie sind die Antworten, welche des Menschen 320 eigener Geist ihr unterschiebt, weiter nichts! Sein Geist studirt die Gesetze des Stoffs und macht bei diesem Studium Experimente mit dem Stoff; durch diese Experimente gelangt sein Geist in Gemäßheit seiner vorher erworbenen Kenntnisse oder seiner natürlichen Schärfe der Auffassung zu seinen eigenen Schlüssen, und so entstehen die Wissenschaften der Mechanik, der Chemie und so weiter. Aber der Stoff selbst gibt keine Antwort. Die Antwort ist verschieden je nach dem Geiste, der die Frage stellt, und der Fortschritt der Wissenschaft besteht in der fortwährenden Berichtigung der Irrthümer und Verkehrtheiten, welche vorangehende Geister für die richtige, ihnen von der Natur gegebene Antwort hielten. Es ist das Uebernatürliche in uns, nämlich der Geist, der allein den Mechanismus des Natürlichen, nämlich des Stoffs, errathen kann. Ein Stein kann nicht einen Stein befragen.«

Der Troubadour erwiderte nichts und es entstand eine lange Pause, die nur durch das Gesumme der Insekten, das Geplätscher der vorüberfließenden Wellen und das Rauschen des Windes unterbrochen wurde. 321


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