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Neuntes Kapitel.

Am Abend des dritten Tages nach der Ankunft des Herrn Mivers saßen er, der Pfarrer und Sir Peter in dem Wohnzimmer des letzteren. Der Pfarrer saß in einem Lehnstuhl beim Kamin, aus einer kurzen Thonpfeife rauchend; Herr Mivers lag ausgestreckt auf dem Sopha und athmete langsam den Duft einer seiner eigenen ausgesuchten Trabucos ein. Sir Peter rauchte nie. Auf dem Tische standen Spirituosen, heißes Wasser und Citronen. Der Pfarrer war berühmt wegen seiner Geschicklichkeit in der Bereitung von Toddy; von Zeit zu Zeit schlürfte er aus seinem Glase und Sir Peter that, wenn auch weniger oft, das Gleiche. Es bedarf wohl kaum der Erwähnung, daß Herr Mivers den Toddy verschmähte; aber neben ihm auf einem Stuhle stand ein großes Trinkglas und eine Karaffe mit geeistem Wasser. Sir Peter hub an:

61 »Vetter Mivers, Sie haben jetzt Zeit gehabt, Kenelm genau zu beobachten und seinen Charakter mit der in dem Briefe des Doctors von ihm gegebenen Charakteristik zu vergleichen.«

Mivers antwortete in lässigem Ton: »Jawohl.«

»Ich frage Sie als einen Weltmann, was ich nach Ihrer Meinung am richtigsten mit dem Jungen thue. Soll ich ihn zu einem Lehrer schicken, wie der Doctor einen vorschlägt? Vetter John ist nicht derselben Meinung wie der Doctor und hält dafür, daß Kenelm's Sonderbarkeiten in ihrer Art schätzbare Eigenschaften seien, die ihm nicht vorzeitig durch Berührung mit weltlichen Lehrern und Londoner Pflaster ausgetrieben werden sollten.«

»Jawohl«, erwiderte Mivers in noch lässigerem Ton als zuvor. Nach einer Pause fügte er hinzu: »Pfarrer John, lassen Sie uns hören, was Sie zu sagen haben.«

Der Pfarrer legte seine Thonpfeife beiseite, leerte sein viertes Glas Toddy, warf dann seinen Kopf in der träumerischen Weise des großen Coleridge, wenn er sich einem Selbstgespräche überließ, zurück und hub in einem etwas näselnden Ton in etwa folgender Weise an:

»Am Morgen des Lebens –«

62 Bei diesen Worten zuckte Mivers die Achseln, drehte sich auf dem Sopha um und schloß die Augen mit einem Seufzer, wie ein Mann, der sich in das Anhören einer Predigt ergibt.

»Am Morgen des Lebens, wenn der Thau –«

»Ich wußte, daß der Thau kommen würde«, sagte Mivers. »Trocknen Sie ihn, bitte, ab; es gibt nichts Ungesünderes. Wir sehen voraus, was Sie sagen wollen, und das ist einfach Folgendes: Wenn ein Mensch sechzehn Jahre alt ist, so ist er sehr frisch. Das ist sicher. Fahren Sie fort, weiter!«

»Wenn Sie mich mit Ihrem gewöhnlichen Cynismus immerfort unterbrechen wollen, warum haben Sie mich denn zu reden aufgefordert?« sagte der Pfarrer.

»Es war ein Versehen, das gebe ich zu. Aber wer in aller Welt konnte auch ahnen, daß Sie in einer so blumenreichen Sprache anfangen würden. Morgen des Lebens! Unsinn!«

»Vetter Mivers«, sagte Sir Peter, »Sie sollen ja nicht John's Stil im ›Londoner‹ kritisiren und ich bitte Sie nicht zu vergessen, daß der Lebensmorgen meines Sohnes für seinen Vater etwas sehr Ernsthaftes ist und nicht von einem Vetter in der Knospe geknickt werden darf. Fahren Sie fort, John!«

63 Gutmüthig sagte der Pfarrer: »Ich will meine Ausdrucksweise dem Geschmack meines Kritikers anpassen. Wenn ein Mensch sechzehn Jahre alt und sehr lebensfrisch ist, so entsteht die Frage, ob er so frühzeitig anfangen soll, die der Jugend eigenen Ideen gegen die Ideen zu vertauschen, welche von Rechtswegen dem reifen Mannesalter angehören, ob er anfangen soll sich die Kenntniß der Welt anzueignen, welche Männer von mittleren Jahren erworben haben und lehren können. Ich glaube es nicht. Ich würde es lieber sehen, wenn er noch eine Zeit lang in der Gesellschaft der Dichter verbliebe, noch eine Weile begeisterten Hoffnungen und schönen Träumen nachhinge und sich ein heroisches Ideal formte, welches er als ein Muster vor Augen behalten könnte, wenn er als Mann in die Welt tritt. Es gibt zwei Arten des Denkens für die Bildung des Charakters: die reale und die ideale. Ich möchte den Charakter in der idealen Schule gebildet sehen, um ihn kühner, größer und liebenswürdiger für den Zeitpunkt zu machen, wo er seinen Platz in dem alltäglichen Leben einnehmen wird, das wir das reale nennen. Und deshalb bin ich nicht dafür, daß der Nachkomme Sir Kenelm Digby's in der Zeit zwischen Schule und Universität der Leitung eines in dem Gedränge der Hauptstadt lebenden 64 Weltmannes anvertraut werde, der wahrscheinlich ebenso cynisch sein würde wie Vetter Mivers.«

Mivers erwiderte, sich aufraffend: »Bevor wir uns in diesen Sumpf der Controverse zwischen realistischen und idealistischen Akademikern versenken, glaube ich, sollten wir erst darüber im Reinen sein, was Sie später aus Kenelm machen wollen. Wenn ich mir ein Paar Schuhe bestelle, so mache ich mir vorher klar, was für Schuhe es sein sollen, feine Tanzschuhe oder dicksolige Schuhe zum Marschiren, und ich lasse mir nicht vorher von dem Schuster eine Vorlesung über die verschiedenen Zwecke der Locomotion, zu welchen das Leder sich verwenden läßt, halten. Wollen Sie, Sir Peter, Kenelm geschickt machen, sentimentale Gedichte zu fabriciren, so hören Sie auf Pfarrer John; wollen Sie, daß er sich den Kopf mit idyllischem Schnick schnack von unschuldiger Liebe füllt, damit er vielleicht schließlich eine Müllerstochter heirathet, so hören Sie auf Pfarrer John; wollen Sie, daß er als ein alberner Grünschnabel ins Leben tritt, welcher jeden Wechsel über ein mit fünfzig Procent zu verzinsendes Darlehn unterschreiben wird, für welche ein junger Taugenichts ihn Garantie zu leisten bittet, so hören Sie auf Pfarrer John. Kurz, wenn Sie wollen, daß ein begabter Bursche wie Kenelm ein Einfaltspinsel 65 oder ein verliebter Narr, ein leichtgläubiger Tölpel oder ein sentimentaler Weichling werde, so ist Pfarrer John der beste Rathgeber, an den Sie sich wenden können.«

»Ich wünsche aber durchaus nicht, daß mein Sohn sich zu einem dieser abgeschmackten specimina entwickele.«

»Dann hören Sie nicht auf Pfarrer John und die Discussion hat ein Ende.«

»Nein, durchaus nicht. Ich habe noch nicht gehört, was Sie mir zu thun rathen, wenn ich John's Rath nicht befolgen will.«

Mivers zauderte. Er schien in Verlegenheit.

»Die Sache ist«, sagte der Pfarrer, »daß Mivers den ›Londoner‹ nach einem Princip redigirt, das für ihn selbst maßgebend ist: Alles tadeln, aber sich nie dadurch compromittiren, daß man sagt, wie es besser gemacht werden könne.«

»Das ist wahr«, sagte Mivers offen. »Die destructive Tendenz des Geistes vereinigt sich selten mit der constructiven. Ich und der ›Londoner‹ sind von Natur und aus Politik destructiv. Wir können das Gebäude in Schutt verwandeln, aber wir maßen uns nicht an, aus Schutt ein Gebäude aufzuführen. Wir sind Kritiker und, wie Sie richtig bemerken, nicht solche, 66 die sich durch Verbesserungsvorschläge compromittiren möchten, welche wieder von Anderen kritisirt werden könnten. Nichtsdestoweniger will ich um Ihretwillen, Vetter Peter, und unter der Bedingung, daß Sie mir versprechen, wenn ich Ihnen meinen Rath gebe, niemals davon zu reden und, wenn Sie ihn befolgen, es mir niemals zum Vorwurf zu machen, daß derselbe, wie es Rath meistens thut, sehr schlecht ausfällt, von meiner Gewohnheit abgehen und eine Meinungsäußerung riskiren.«

»Ich nehme die Bedingungen an.«

»Gut denn. Mit jeder neuen Generation entsteht ein neuer Ideenkreis. Je früher ein Mensch die Ideen in sich aufnimmt, welche seine Generation beherrschen werden, einen desto größeren Vorsprung hat er bei dem Wettlauf mit seinen Zeitgenossen. Wenn Kenelm im Alter von sechzehn Jahren die geistige Signatur seiner Zeit versteht, welche die jungen Männer von achtzehn bis zwanzig Jahren erst eben zu begreifen anfangen, wie er, wenn er auf die Universität kommt, finden wird, wird er sich durch seine Fertigkeit im Denken und die Anwendung derselben auf das praktische Leben sehr hervorthun, und das wird ihm in seinem späteren Leben große Dienste leisten. Nun aber haben die Ideen, welche die Masse der heranwachsenden 67 Generation beherrschen, ihre Quelle niemals in dieser Generation selbst. Sie entspringen vielmehr der ihnen vorangehenden Generation, gewöhnlich in einer kleinen, von der großen Majorität, welche sich dieselben später aneignet, vernachlässigten oder verachteten Minorität. Daher muß ein Bursche von sechszehn Jahren, wenn er zu diesen Ideen gelangen will, in nahe Berührung mit einem Geiste gebracht werden, der dieselben zwanzig oder dreißig Jahre früher in sich aufgenommen hat. Ich bin deshalb dafür, daß Kenelm der Leitung eines Mannes anvertraut werde, von welchem er diese neuen Ideen lernen kann. Ich bin ferner dafür, daß diese seine Einführung in die neuen Ideen in der Hauptstadt vor sich gehe. Mit den Empfehlungen, die wir ihm verschaffen können, kann er dort nicht nur mit neuen Ideen, sondern auch mit bedeutenden Männern aller Berufsarten in Berührung kommen. Es ist eine große Sache, bei Zeiten mit gescheidten Leuten zu verkehren. Man eignet sich unmerklich etwas von ihrem Geiste an. Diese Einführung in gute Gesellschaft hat noch einen anderen, nicht geringen Vortheil. Ein junger Mensch lernt da gute Manieren, Selbstbeherrschung und Geistesgegenwart, und er ist, nachdem er unter der Leitung competenter Führer die gute Gesellschaft kennen gelernt und an derselben Geschmack gefunden 68 hat, wenn er dann später als sein eigener Herr ins Leben tritt, viel weniger der Gefahr ausgesetzt, in unangenehme Lagen zu gerathen und an gemeinen Ausschweifungen Gefallen zu finden. So, da habe ich mich ganz außer Athem geredet. Und Sie thäten gut, sich sofort für die Befolgung meines Raths zu entscheiden; denn da ich ein sehr widerspruchsvolles Temperament habe, so kann es leicht geschehen, daß ich morgen dem widerspreche, was ich heute selbst behauptet habe.«

Auf Sir Peter hatten die so beredt entwickelten Argumente seines Vetters großen Eindruck gemacht.

Der Pfarrer rauchte schweigend seine Thonpfeife, bis Sir Peter ihn zu einer Meinungsäußerung aufforderte, und sagte dann: »In diesem Programm für die Erziehung eines christlichen Gentleman scheint mir sein Beruf als Christ ganz unberücksichtigt gelassen zu sein.«

»Die Tendenz der Zeit«, bemerkte Mivers ruhig, »ist dieser Nichtberücksichtigung günstig. Eine rein weltliche Erziehung ist die Reaction gegen eine rein theologische Abrichtung, wie sie sich aus der Abneigung einer christlichen Partei gegen die Lehren einer anderen Partei nothwendig ergeben mußte. Und da diese Antagonisten sich nicht darüber einigen werden, wie Religion gelehrt werden soll, so muß 69 überhaupt gar nicht gelehrt werden, oder die Religion muß dem Unterrichte fern bleiben.«

»Das mag sich für ein großes System nationaler Erziehung empfehlen«, sagte Sir Peter, »aber es leidet keine Anwendung auf Kenelm als das Mitglied einer Familie, deren sämmtliche Mitglieder der Staatskirche angehören. Er kann in dem Glauben seiner Voreltern unterrichtet werden, ohne daß ein Dissenter sich dadurch verletzt fühlen könnte.«

»Welcher Richtung der Staatskirche soll er denn aber angehören?« fragte Herr Mivers. »Der High Church, der Low Church, der Broad Church, dem Puseyismus, dem Ritualismus oder irgend einer andern Richtung der Staatskirche, die etwa in die Mode käme?«

»Bah!« sagte der Pfarrer. »Diese Verhöhnung ist hier sehr übel angebracht. Sie wissen sehr gut, daß ein Verdienst unserer Kirche in dem Geiste der Toleranz besteht, der nicht jede Schattirung einer Ansicht zu einer Ketzerei oder einem Schisma aufbläht. Aber wenn Sir Peter seinen sechzehnjährigen Sohn einem Erzieher anvertraut, der die Religion des Christenthums von seinem Unterrichte ausschließt, so verdient er halb todt geprügelt zu werden; und«, fügte der Pfarrer hinzu, indem er Sir Peter finster mit den 70 Augen musterte und mechanisch seine Manschetten aufschlug, »dann möchte ich ihn selbst prügeln.«

»Sachte, John«, sagte Sir Peter zurückweichend, »sachte, mein theurer Vetter. Mein Sohn und Erbe soll nicht als Heide erzogen werden und Mivers spaßt auch nur mit uns. Kommen Sie, Mivers; kennen Sie nicht unter Ihren Londoner Freunden einen Mann, der ein Gelehrter und ein Christ und doch ein Weltmann ist?«

»Ein Christ, insofern er der Staatskirche angehört?«

»Nun ja.«

»Und der Kenelm als Zögling bei sich aufnehmen würde?«

»Natürlich, ich thue Ihnen solche Fragen nicht aus bloßer Neugierde.«

»Ich kenne jemand, der gerade der rechte Mann für Sie ist. Er sollte ursprünglich Geistlicher werden und ist ein sehr gelehrte Theolog. Er gab den Gedanken, Geistlicher zu werden, auf, als er in Folge des plötzlichen Todes eines älteren Bruders in den Besitz eines kleinen Guts gelangte. Darauf kam er nach London und mußte hier theures Lehrgeld für Welterfahrung bezahlen, das heißt, er war eine generöse Natur, ließ sich leicht betrügen, gerieth in 71 Verlegenheiten, bis endlich sein Gut zum Besten seiner Gläubiger Verwaltern übergeben wurde, die ihm einen Jahrgehalt von vierhundert Pfund Sterling aussetzen durften. Um jene Zeit war er bereits verheirathet und hatte zwei Kinder. Er sah sich in die Nothwendigkeit versetzt, zur Schriftstellerei zu greifen, um sein Einkommen zu verbessern, und wurde einer der fähigsten Mitarbeiter der periodischen Presse. Er vereinigt Gelehrsamkeit mit Eleganz, schreibt vortrefflich, wird von Politikern sehr geschätzt, ist ein vollkommener Gentleman, macht ein angenehmes Haus und sieht die beste Gesellschaft bei sich. Nachdem er sich einmal im Leben hat übers Ohr hauen lassen, soll es jemand schwer werden, ihn zum zweiten Mal zu übervortheilen. Er hat seine Erfahrungen nicht zu theuer erkauft. Es gibt keinen geriebeneren und vollendeteren Weltmann. Die etwa dreihundert Pfund Sterling, die Sie ihm für Kenelm zu bezahlen hätten, würden ihm sehr zu statten kommen. Er heißt Welby und wohnt im Chester-Square.«

»Natürlich ein Mitarbeiter des ›Londoner‹«, sagte der Pfarrer sarkastisch.

»Jawohl; er schreibt unsere archäologischen, theologischen und metaphysischen Artikel. Was meinen 72 Sie, Sir Peter, wenn ich ihn auf ein paar Tage einlüde, wo Sie ihn dann sehen und selbst beurtheilen könnten?«

»Thun Sie das!« 73


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