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»Jetzt, mein junger Herr«, sagte Kenelm in einem ruhigen, aber sehr peremptorischen Tone, »jetzt, wo wir in der Stadt sind, sagen Sie mir, wohin soll ich Sie bringen, damit wir uns dort, es sei nun, wo es wolle, Lebewohl sagen.«
»Nein, nicht Lebewohl, bleiben Sie noch ein wenig bei mir. Ich fange an mich zu fürchten und ich stehe so allein.« Bei diesen Worten legte der Knabe, der bisher bei der leisesten Berührung Kenelm's scheu zurückgewichen war, seinen Arm in den Kenelm's und schmiegte sich zärtlich an ihn.
Ich weiß nicht, was meine Leser bisher von Kenelm Chillingly gedacht haben; ich kann ihnen aber versichern, daß es bei all seiner krausen Grillenhaftigkeit 143 ein untrügliches Mittel gab, sich den Weg zu seinem Herzen zu bahnen. Man brauchte nur schwächer als er zu sein und ihn um seinen Schutz zu bitten. Er wandte sich plötzlich um, vergaß ganz die Eigenthümlichkeit seiner Lage und erwiderte: »Du kleines Ungeheuer, ich will gehängt werden, wenn ich Dich verlasse; aber ein wenig Mitleid müssen wir auch mit dem Gaul haben; um seinetwillen sage mir, wo wir Halt machen sollen.«
»Das weiß ich wahrhaftig nicht; ich bin noch nie hier gewesen. Lassen Sie uns in einem respektablen ruhigen Gasthof einkehren. Fahren Sie langsam; wir wollen uns nach einem umsehen.«
Tor-Hadham war eine große Stadt, zwar nicht dem Namen nach die Hauptstadt der Grafschaft, wohl aber factisch durch die Bedeutung ihres gewerblichen Verkehrs und des regen in ihr herrschenden Lebens. Die grade Straße, durch welche der Gaul so langsam dahinschritt, als zöge er einen Triumphwagen durch die via sacra, bot ein bewegtes Bild dar. Die Läden hatten elegante Schaufenster mit Spiegelglasscheiben; auf der Straße war ein lebhaftes, nicht nur geschäftliches, sondern auch vergnügliches Treiben, denn ein großer Theil der Vorübergehenden bestand aus elegant gekleideten, zum guten Theil jungen und nicht wenigen 144 hübschen Vertreterinnen des schönen Geschlechts. Erst vor zwei Tagen war ein Regiment Husaren in die Stadt gelegt, und zwischen den Offizieren dieses glücklichen Regiments und dem schönen Geschlecht in dieser gastlichen Stadt bestand ein natürlicher Wetteifer, wer von beiden dem anderen tiefere Wunden beibringen werde. Die Ankunft dieser Helden, deren Beruf es mit sich bringt, daß sie überall die feindlich gesinnte Bevölkerung vermindern und die freundliche vermehren, gab den jungen Leuten der Gesellschaft, die gern gemeinschaftliche Vergnügungen arrangirten, einen neuen Anstoß zur Veranstaltung von Bogenschießen, Büchsenschießen, Concerten und Bällen, die sämmtlich auf Anschlagszetteln angekündigt wurden, welche an die Mauern geklebt und in den Schaufenstern aufgehängt waren. Der Junge blickte vom Wagen eifrig umher und prüfte mit besonderer Aufmerksamkeit diese Anschlagszettel, bis er endlich in großer Aufregung ausrief: »O ich hatte Recht, da ist er!«
»Was ist da?« fragte Kenelm. »Der Gasthof?« Sein Begleiter gab ihm keine Antwort, Kenelm aber gewahrte, als er den Augen des Jungen folgte, einen ungeheuren Anschlagszettel.
»Morgen den — ten dieses Monats erste Vorstellung in dieser Saison.
145 Richard III., Trauerspiel in fünf Aufzügen von Shakespeare. Richard III.: Herr Compton als Gast.«
»Fragen Sie doch einmal, wo das Theater ist«, flüsterte ihm der Knabe mit abgewandtem Gesichte zu. Kenelm hielt an, erkundigte sich und erhielt die Weisung, in die erste Straße rechts einzubiegen. Einige Minuten später präsentirte sich ihnen der Portikus eines häßlichen, verfallenen, dem Dienst der dramatischen Musen gewidmeten Gebäudes an der Ecke eines trübseligen, verlassenen Gäßchens. Die Mauern waren mit Theaterzetteln bedeckt, auf welchen der Name Compton in gigantischen Lettern prangte. Der Knabe seufzte. »Jetzt«, sagte er, »lassen Sie uns einen hier in der Nähe belegenen Gasthof aufsuchen.« Außer einigen kleinen Schenken von zweifelhaftem Aussehen wollte sich indessen kein Gasthof finden, bis sich endlich in ziemlicher Entfernung vom Theater und auf einem sauberen, altmodischen, menschenleeren Platz ein schmuckes, frisch geweißtes Haus zeigte, über dessen Thür sich auf einem Schilde in großen, schwarzen, finsterblickenden Lettern das Wort Mäßigkeitshotel befand. »Halt«, sagte der Junge, »glauben Sie nicht, daß das für uns passen würde? Es sieht ruhig aus.«
»Es könnte nicht ruhiger aussehen, wenn es ein Grab wäre«, erwiderte Kenelm.
146 Der Junge griff in die Zügel und brachte den Gaul zum Stehen. Der Gaul war in einem Zustande, daß die leiseste Berührung hinreichte, ihn zum Stehen zu bringen, wiewohl er den Kopf mit einer etwas kläglichen Geberde umdrehte, als ob er zweifle, ob auch die Gewährung von Heu und Korn sich mit dem Reglement eines Mäßigkeitshotels vertrage. Kenelm stieg ab und ging ins Haus. Eine sauber gekleidete Frau erschien hinter einer Art von Gläserschrank, welcher den Schenktisch bildete, sofern man bei diesem Ausdruck von den herzerfreuenden Getränken absieht, welche von dem beau idéal eines Schenktisches unzertrennlich sind und sich an deren Stelle zwei große Karaffen mit kaltem Wasser und Wassergläsern à discretion, sowie verschiedene zinnerne Teller mit dünnem Biscuit und Sandtorte hinzudenkt. Diese sauber gekleidete Frau fragte ihn höflich, was ihm zu Befehl stehe.
»Befehl«, antwortete Kenelm mit seinem gewöhnlichen Ernst, »ist nicht der Ausdruck, den ich selbst gewählt haben würde; aber mein Pferd, ich meine das Pferd da draußen, würden Sie durch einen Platz im Stall und ein Bündel Hafer und den jungen Herrn dort und mich durch ein Zimmer und ein Mittagessen zu lebhaftem Danke verpflichten.«
»Mittagessen!« wiederholte die Wirthin, »Mittagessen.«
147 »Ich bitte tausendmal um Verzeihung, Madame, aber wenn das Wort Mittagessen Sie choquirt, so nehme ich es zurück und sage statt dessen: etwas zu essen und zu trinken.«
»Zu trinken? Dies ist nur ein Mäßigkeitshotel, mein Herr.«
»O, wenn hier nicht gegessen und getrunken wird«, rief Kenelm grimmig, denn er war entsetzlich hungrig, »so empfehle ich mich Ihnen.«
»Warten Sie doch, Herr! Allerdings wird hier gegessen und getrunken, aber wir sind sehr einfache Leute, wir erlauben keine geistigen Getränke.«
»Auch nicht ein Glas Bier?«
»Nur Gingerbeer. Alcohol ist streng untersagt; wir haben Thee, Kaffee und Milch, aber die meisten unserer Gäste ziehen reines Wasser vor. Mit Speisen können wir allen bescheidenen Ansprüchen genügen.«
Kenelm schüttelte den Kopf und wollte eben wieder fortgehen, als der Knabe, der vom Wagen gesprungen. war und die Unterhaltung mit angehört hatte, ungestüm ausrief: »Was soll das heißen? Wer verlangt hier geistige Getränke? Wasser genügt uns vollkommen. Und was das Essen anlangt, so geben Sie uns, was Sie haben, Madame, geben Sie uns ein Zimmer, ich bin so müde.« Die letzten Worte sprach er in 148 einem einschmeichelnd bittenden Ton und so allerliebst, daß die Wirthin ihrerseits sofort ihren Ton änderte und indem sie vor sich hin murmelte: »Der arme Junge«, und noch leiser: »Was er für ein hübsches Gesicht hat«, ihm zunickte und auf einer sehr sauberen altmodischen Treppe voranging.
»Aber wohin sollen wir mit dem Pferde und dem Gig?« fragte Kenelm, welchem bei dem Gedanken, wie übel dem Pferde und seinem Herrn mitgespielt sei, das Gewissen schlug.
»O, für das Pferd und das Gig, Herr, finden Sie etwas weiterhin in Jukes' Miethstall Platz. Wir selbst haben kein Gelaß für Pferde, unsere Kunden halten selten welche; aber Sie finden die beste Unterkunft bei Jukes.
Kenelm führte das Pferd nach dem so empfohlenen Miethstall und blieb dort, bis das Tier zum Abkühlen herumgeführt, gut abgerieben und vor einem halben Bündel Hafer behaglich etablirt war; denn Kenelm Chillingly war ein gegen die Thiere human gesinnter Mensch. Dann kehrte er mit einem riesigen Appetit nach dem Mäßigkeitshotel zurück und wurde hier in ein kleines Zimmer geführt, auf dessen Fußboden in der Mitte ein Stückchen Teppich lag, in welchem sechs kleine Rohrstühle standen und an dessen 149 Wänden Kupferstiche hingen, welche die mannichfachen Wirkungen berauschender Getränke auf verschiedene menschliche Individuen darstellten, von denen einige Gespenstern, andere bösen Geistern glichen und die sämmtlich jämmerlich heruntergekommen aussahen, während im schärfsten Contrast damit sich auf anderen Blättern glückliche Familien, lächelnde Mütter, behäbige Väter und rosige Kinder als Exemplification des glückseligen Zustandes der Mitglieder des Mäßigkeitsvereins zeigten. Indessen zog ein Tisch mit einem fleckenlosen Tischtuch und zwei Gedecken vor allem Kenelm's Aufmerksamkeit auf sich.
Der Knabe stand am Fenster und betrachtete sich anscheinend ein kleines, vor demselben stehendes Aquarium, das die gewöhnliche Gesellschaft von kleinen Fischen, Würmern und Insekten enthielt, welche sich der Genüsse der Mäßigkeit in dem eigentlichen Elemente derselben, natürlich nebst einer gelegentlichen gegenseitigen Verzehrung, erfreuten.
»Was werden sie uns zu essen geben?« fragte Kenelm. »Es müßte nachgrade jetzt fertig sein.«
Mit diesen Worten zog er heftig an der Glocke. Der Junge trat vom Fenster zurück, und dabei frappirte Kenelm die Anmuth seiner Tournüre und sein Gesicht, das ohne Hut sehr viel hübscher aussah und 150 dessen durch Ruhe und frisches Wasser von Hitze und Staub befreiter zarter Teint jetzt erst recht sichtbar wurde. Es war ein außerordentlich hübscher Junge, der, einmal zum Manne herangewachsen, gewiß viele Frauenherzen erobern würde. Mit einer gewissen Miene anmuthiger Ueberlegenheit, wie sie ein höherer Rang, es wäre denn ein königlicher, selten verbürgt und wie sie vor allem dem höheren Alter gut steht, trat dieser junge Mensch an den vornehmen Erben der Chillinglys heran, reichte ihm die Hand und sagte: »Mein Herr, Sie haben sich außerordentlich gut gegen mich benommen und ich sage Ihnen meinen herzlichen Dank dafür.«
»Ew. königliche Hoheit sind äußerst gnädig«, erwiderte Kenelm Chillingly mit einer tiefen Verbeugung; »aber haben Sie das Mittagessen beordert? Und was werden wir bekommen? Auf das Klingeln scheint hier niemand zu hören; da es ein Mäßigkeitshotel ist, sind wahrscheinlich alle Dienstboten betrunken.«
»Warum sollen sie denn in einem Mäßigkeitshotel betrunken sein?«
»Warum? Weil man ganz allgemein behaupten kann, daß Leute die sich öffentlich das Ansehen von etwas geben, in Wahrheit das Gegentheil von dem sind, was zu sein sie vorgeben. Ein Mann, der sich für einen Frommen ausgibt, ist sicherlich ein 151 Sünder, und ein Mann, der sich rühmt, ein Sünder zu sein, hat sicherlich ein Stückchen schwachen, weinerlichen, greinenden Frömmlerthums an sich. Männliche Rechtschaffenheit, gleichviel ob sie mit Frömmigkeit oder Sündhaftigkeit gepaart ist, etikettirt sich weder als Frömmigkeit noch als Sündhaftigkeit. Stelle Dir vor, daß der heilige Augustinus sich selbst als Frommen oder daß Robert Burns sich als Sünder bezeichnet hätte, und Du kannst es mir aufs Wort glauben, mein Junge, obgleich Du die Gedichte von Robert Burns wahrscheinlich und die Bekenntnisse des heiligen Augustinus gewiß nicht gelesen hast, daß diese beiden Leute sehr brave Burschen waren; und bei etwas anderer Erziehung und Erfahrung hätte Burns die Bekenntnisse und Augustinus die Gedichte geschrieben haben können. – Ihr himmlischen Mächte, ich sterbe vor Hunger! Was hast Du uns zu essen bestellt und wann kommt es?«
Der Junge, der schon, als sein langer Begleiter in groben Beinkleidern und buntem Halstuch so patronisirend von Robert Burns und dem heiligen Augustinus sprach, seine großen nußbraunen Augen ungeheuer weit geöffnet hatte, antwortete jetzt mit einer etwas beschämten, gleichsam Abbitte thuenden Miene: »Es thut mir leid, aber ich habe nicht an das Mittagessen gedacht. 152 Ich habe nicht so viel Rücksicht auf Sie genommen, wie ich wohl hätte nehmen sollen. Die Wirthin fragte mich, was wir haben wollten. Ich sagte: »Was Sie wollen und die Wirthin murmelte etwas von« – Hier zögerte der Junge.
»Nun, von was? Von Hammelcoteletts?«
»Nein. Von Blumenkohl und Reispudding.«
Kenelm Chillingly fluchte nie und gerieth nie in Wuth. Wo menschliche Wesen von gröberem Stoff fluchten oder in Wuth geriethen, machte er seinem Unmuth in einem so pathetisch-melancholischen und trübseligen Gesichtsausdruck Luft, daß es das Herz eines hyrkanischen Tigers hätte erweichen müssen. Mit einem solchen Gesicht sah er jetzt den Jungen an und sank, indem er vor sich hin murmelte: »Blumenkohl! Hungertod!« auf einen der Rohrstühle und fügte ruhig hinzu: »Da baue einer auf menschliche Dankbarkeit!«
Der Junge fühlte sich offenbar durch die bittere Milde dieses Vorwurfs ins tiefste Herz getroffen. Mit fast vor Thränen erstickter Stimme stammelte er: »Bitte, verzeihen Sie mir, ich war undankbar. Ich will hinunterlaufen und sehen, was es gibt«; indem er dem Worte die That folgen ließ, verschwand er.
Kenelm blieb regungslos auf seinem Stuhle sitzen; er war in eine jener Träumereien oder vielmehr 153 Vertiefungen des inneren und geistigen Seins versunken, in welchen sich, wie man sagt, das Bewußtsein des indischen Derwisches infolge verlängerten Fastens concentriren kann. Der Appetit aller Männer von kräftiger Muskulatur ist viel zu stark, als daß irgend welche Quantität von Blumenkohl und Reispudding ihn befriedigen könnte. Einen Beleg dafür liefert Hercules selbst, dessen Verlangen nach substantieller Nahrung den classischen Poeten einen unerschöpflichen Stoff zu Scherzen bot. Ich will zwar nicht behaupten, daß Kenelm Chillingly den thebanischen Hercules im Kampfe oder im Essen besiegt haben würde; aber sicher ist, daß, wenn er sehr kampflustig oder sehr hungrig war, Hercules des Aufgebotes seiner ganzen Kraft bedurft haben würde, um es mit ihm aufzunehmen.
Nach einer Abwesenheit von zehn Minuten kam der Junge strahlend zurück. Er klopfte Kenelm auf die Schulter und sagte in scherzendem Ton: »Ich habe ein ganzes Rippenstück in Coteletts zerschneiden lassen; dazu bekommen wir den Blumenkohl und einen ungeheuren Reispudding und außerdem noch Eier und Speck. Seien Sie guten Muthes, es wird gleich aufgetragen.«
»Ah!« sagte Kenelm.
»Es sind gute Leute, sie wollten Sie nicht karg behandeln, aber es scheint, daß die meisten ihrer Kunden 154 von Gemüsen und Mehlspeisen leben. Es gibt hier eine auf das Princip dieser Ernährung gegründete Gesellschaft; die Wirthin sagt, es seien Naturforscher.«
Bei dem Worte Naturforscher erwachte in Kenelm die Kampflust wie in einem alten Jäger, wenn der Jagdruf bei der Fuchshetze erschallt. »Naturforscher«, sagte er, »ja, schöne Naturforscher! O, die Ignoranten, die nicht einmal die Structur des menschlichen Zahnes kennen. Siehst Du, mein Junge, wenn von dem gegenwärtigen Menschengeschlecht nichts auf der Welt übrig bliebe, wie es nach der Versicherung einer großen Autorität nächstens einmal der Fall sein wird – und das wird eine famose Aufräumung geben – wenn, sage ich, von dem Menschen nichts übrig bleiben würde, als Fossilien seiner Zähne und seiner Daumen, würde ein Naturforscher der überlegenen Race, welche auf den Menschen folgen wird, aus jenen Ueberresten sofort alle charakteristischen Eigenschaften und die ganze Geschichte des Menschen ersehen können; er würde, wenn er den fossilen Daumen mit den Klauen eines Adlers, den Tatzen eines Tigers und dem Huf eines Pferdes vergliche, sagen, der Besitzer dieses Daumens müsse der Herr über alle Geschöpfe mit Klauen, Tatzen und Hufen gewesen sein. Man kann einwenden, auch das Affengeschlecht habe Daumen. Man vergleiche den Daumen 155 eines Affen mit dem eines Menschen und frage sich, ob wohl der größte Affendaumen die Westminsterabtei hätte erbauen können. Aber selbst die Daumen sind nur ein schwacher Beweis für die Existenz des Menschen im Vergleich mit seinen Zähnen. Sieh Dir einmal seine Zähne an!« Bei diesen Worten sperrte Kenelm den Mund so weit wie irgend möglich auf und präsentirte zwei Halbkreise von Elfenbein, die so unübertrefflich gut zum Kauen eingerichtet waren, daß der größte Zahnkünstler an der Möglichkeit, diese Zähne nachzubilden, verzweifelt sein würde. »Ich sage, sieh Dir seine Zähne an!« Der Junge fuhr unwillkürlich zurück. »Sind das die Zähne eines elenden Blumenkohlfressers? Oder hat der Besitzer menschlicher Zähne sich nur mittels farinöser Nahrung zu dem Range des höchsten Zerstörers der Schöpfung aufgeschwungen? Nein, mein Junge, nein!« fuhr Kenelm fort, indem er den Mund schloß, dabei aber auf das Kind zuging, das bei jedem seiner Schritte weiter nach dem Aquarium hin zurückwich, »nein, der Mensch ist der Herr der Schöpfung, weil er von allen erschaffenen Wesen die größte Mannichfaltigkeit und die größte Anzahl erschaffener Dinge verzehrt. Seine Zähne beweisen, daß der Mensch auf jedem Boden von der heißen bis zur kalten Zone leben kann, weil er alles das, was andere 156 Geschöpfe nicht essen können, essen kann. Das beweist die Formation seiner Zähne. Ein Tiger kann Wild essen, das kann der Mensch auch, aber ein Tiger kann keinen Aal verzehren und der Mensch kann es. Ein Elefant kann Blumenkohl und Reispudding essen, das kann der Mensch auch; aber ein Elefant kann kein Beafsteak essen und der Mensch kann es. In Summa, der Mensch kann überall leben, weil er dank der Formation seiner Zähne alles essen kann!« schloß Kenelm und machte dabei einen ungeheuern Schritt auf den Jungen zu. »Der Mensch ißt, wenn ihm alle übrige Nahrung ausgegangen ist, seinen Nebenmenschen.«
»O nein! Sie machen mir bange«, sagte der Junge. »Aha!« fuhr er mit dem heiteren Gefühl der Befreiung fröhlich fort, »da kommen die Hammelcoteletts!«
Ein wundervoll sauberes, wohlgewaschenes oder richtiger wohl ausgewaschenes, mittelalterliches Stubenmädchen erschien jetzt mit einer Schüssel in der Hand. Sie stellte die Schüssel auf den Tisch, nahm den Deckel ab und sagte in einem höflichen, wenn auch kalten Ton, wie eine Person, die von Salat und kaltem Wasser lebt:
»Es thut der Frau Wirthin leid, daß sie Sie 157 hat warten lassen, aber sie glaubte, Sie wären Vegetarier.«
Nachdem Kenelm seinem jungen Freunde ein Hammelcotelett vorgelegt hatte, bediente er sich selbst und erwiderte, ohne eine Miene zu verziehen: »Bestellen Sie der Frau Wirthin, daß, wenn Sie uns nur Gemüse gegeben hätte, ich Sie aufgegessen haben würde. Sagen Sie ihr, daß der Mensch, wenn auch theilweise Grasfresser, doch hauptsächlich Fleischfresser sei. Sagen Sie ihr, daß das Schwein, wenn es auch Kohl und dergleichen frißt, doch, wenn es eines Kindes habhaft werden kann, das Kind frißt. Sagen Sie ihr«, fuhr Kenelm, der jetzt schon bei seinem dritten Cotelett angelangt war, fort, »daß es kein Thier gibt, dessen Verdauungsorgane mit denen des Menschen größere Aehnlichkeit haben als das Schwein. Fragen Sie sie, ob irgend ein kleines Kind im Hause ist, und wenn das der Fall, so würde ich ihr im Interesse des Kindes rathen, uns noch mehr Coteletts zu schicken.«
Selbst der schärfste Beobachter konnte selten ganz sicher sein, ob Kenelm Chillingly im Scherz oder im Ernst rede. Das arme Hausmädchen zauderte einen Augenblick und versuchte schwach zu lächeln. Kenelm erhob seine dunklen Augen mit einem unaussprechlich tiefen und traurigen Blick zu ihr und sagte in 158 melancholischem Ton: »Es sollte mir so leid thun um das Kind. Bringen Sie die Coteletts!« Das Stubenmädchen verschwand. Der Knabe legte Messer und Gabel hin und sah Kenelm mit einem durchdringenden und forschenden Blick an. Kenelm legte, ohne auf diesen Blick zu achten, dem Jungen das letzte Cotelett auf seinen Teller.
»Nicht mehr«, rief der Junge lebhaft und legte das Cotelett wieder in die Schüssel. »Ich bin fertig, ich habe genug gegessen.«
»Junge, Du lügst!« sagte Kenelm. »Du hast nicht genug gehabt, um Leib und Seele zusammenzuhalten. Iß das Cotelett oder ich haue Dich zusammen. Was ich sage, das thue ich auch.«
Der Junge fühlte, daß er sich fügen müsse, aß schweigend das Cotelett, sah Kenelm wieder an und dachte bei sich: »Ich bin bange.«
In diesem Augenblick trat das Stubenmädchen wieder ein und brachte eine frische Schüssel mit Coteletts und eine andere mit Speck und Eiern, denen bald darauf ein in einer zinnernen Schüssel gebackener Reispudding folgte, der groß genug gewesen wäre, sämmtliche Schüler einer Armenschule zu sättigen. Als die Mahlzeit beendigt war, schien Kenelm die gefährlichen Eigenschaften der fleischfressenden Thiere 159 vergessen zu haben; er streckte träge die Beine von sich und schien so harmlos wiederzukäuen wie das häuslichste grasfressende Thier.«
Da sagte der Junge etwas schüchtern: »Darf ich Sie noch um eine Gefälligkeit bitten?«
»Soll ich noch einen Onkel zu Boden schlagen oder noch ein Gig und einen Gaul stehlen?«
»Nein. Die Sache ist sehr einfach; es handelt sich nur darum, die Adresse eines sich hier aufhaltenden Freundes von mir auszufinden und ihm, wenn Sie ihn aufgefunden haben, ein Billet von mir zu geben.«
»Ist die Sache eilig? Nach der Mahlzeit soll man ruhen, sagt das Sprichwort, und Sprichwörter sind so weise, daß niemand ihren Urheber errathen kann. Man hält sie für Bruchstücke der Philosophie der Antediluvianer, die in einem in der Arche Noäh geretteten Paket auf uns gekommen sind.«
»So? Wirklich?« fragte der Junge ernsthaft. »Wie interessant! Nein, bei meiner Commission kommt's auf eine Stunde nicht an. Glauben Sie, daß es vor der Sündfluth auch schon Theaterstücke gegeben hat?«
»Theaterstücke? Ganz gewiß. Menschen, die tausend oder zweitausend Jahre alt wurden, hatten Zeit, Alles zu erfinden und zu verbessern, und damals konnte ein 160 Theaterstück auch seine rechte Länge haben. Damals wäre es nicht nöthig gewesen, die ganze Geschichte Macbeth's von seiner Jugend bis zu seinem höchsten Alter in einen albernen dreistündigen Aufzug zusammenzudrängen. Bei einer Darstellung dieses interessanten Schotten kann man keinen Zug von echt menschlicher Natur entdecken, weil der Schauspieler auf der Bühne immer erscheint, als wenn er in demselben Alter gestanden hätte, da er Duncan ermordete und da er im Herbste seines Lebens von Macduff gefällt wurde.«
»Glauben Sie, daß Macbeth jung war, als er Duncan ermordete?«
»Ohne Zweifel. Kein Mensch begeht jemals ein erstes gewaltthätiges Verbrechen wie Mord nach dem dreißigsten Jahre; wenn er früher anfängt, kann er es bis zum höchsten Alter fortsetzen. Aber die Jugend ist die rechte Zeit zum Beginn solcher falschen Berechnungen, welche aus unvernünftigen Hoffnungen und dem Gefühl physischer Stärke hervorgehen. So liest man in den Zeitungen, daß die Männer, die ihre Geliebten ermorden, gewöhnlich in dem Alter von zweiundzwanzig bis sechsundzwanzig Jahren stehen, und Leute, die aus andern Motiven als Liebe, aus Rache, Habsucht oder Ehrgeiz morden, thun das gewöhnlich im Alter von achtundzwanzig Jahren, in Jago's Alter. Mit 161 achtundzwanzig Jahren schließt gewöhnlich die Zeit, wo man sich seiner Mitmenschen energisch entledigt. Preisfechter pflegen nach diesem Alter abzufallen. Ich nehme an, daß Macbeth ungefähr achtundzwanzig Jahre alt war, als er Duncan ermordete, und etwa zwischen vierundfünfzig und sechzig, als er über den Mangel an den Bequemlichkeiten des höheren Alters zu jammern anfing. Aber können die Zuhörer bei einer dreistündigen Aufführung diesen Unterschied jemals begreifen? Oder unternimmt es jemals ein Schauspieler, dem Publikum diesen Unterschied vor Augen zu führen und im ersten Act als achtundzwanzigjährig, im fünften aber als sechzigjährig zu erscheinen?«
»Daran habe ich nie gedacht«, sagte der Junge, den diese Bemerkungen offenbar interessirten. »Aber ich habe ›Macbeth‹ nie gesehen. Ich habe ›Richard III.‹ gesehen; ist das nicht hübsch? Schwärmen Sie nicht fürs Theater? Ich schwärme dafür. Ein Schauspieler muß ein köstliches Leben führen!«
Kenelm, der bisher mehr mit sich selbst als mit seinem jugendlichen Begleiter gesprochen hatte, wurde jetzt aufmerksam, sah den Jungen mit einem durchdringenden Blick an und sagte:
»Ich sehe, Du bist ein Theaternarr. Du bist von Hause weggelaufen, um Schauspieler zu werden, und 162 es sollte mich nicht wundern, wenn dieses Billet, was ich für Dich abgeben soll, an den hiesigen Theaterdirector oder einen von seiner Gesellschaft gerichtet wäre.«
Das junge Gesicht, auf welches Kenelm's schwarzes Auge geheftet war, wurde sehr roth, nahm aber einen sehr festen und mißtrauischen Ausdruck an.
»Und wenn dem so wäre, würden Sie dann das Billet nicht abgeben?«
»Was! Einem Kinde in Deinem Alter, das von Hause weggelaufen ist, behülflich dazu sein, ohne Erlaubniß seiner Verwandten auf die Bühne zu gehen? Gewiß nicht.«
»Ich bin kein Kind; aber das gehört nicht hierher. Ich will keinenfalls ohne Erlaubniß der Person, die ein Recht hat, meine Handlungen zu bestimmen, auf die Bühne gehen. Mein Billet ist nicht an den Theaterdirector und auch nicht an ein Mitglied seiner Gesellschaft, sondern an einen Herrn gerichtet, der die Güte hat, hier einige Male aufzutreten, einen vollkommenen Gentleman, einen großen Schauspieler, meinen Freund, den einzigen Freund, den ich auf der Welt habe. Ich bekenne es offen, ich bin so von Hause weggelaufen, damit er das Billet bekomme, und wenn Sie es ihm nicht geben wollen, so wird es jemand anders thun!«
Bei diesen Worten war der Junge aufgesprungen 163 und stand aufrecht neben dem liegenden Kenelm, mit bebenden Lippen, mit thränenerfüllten Augen, aber mit festem und entschlossenem Ausdruck. Offenbar war es nicht Mangel an Willenskraft, wenn es diesem Jungen in der Welt nicht so ging, wie er wollte.
»Ich will Dein Billet abgeben«, sagte Kenelm.
»Hier ist es; geben Sie es in die Hände dessen, an den es adressirt ist – Herrn Herbert Compton.« 164