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Elftes Kapitel.

Kenelm blieb anderthalb Jahre bei diesem ausgezeichneten Lehrer. Während dieser Zeit machte er große Fortschritte in gelehrtem Wissen und lernte auch viele bedeutende Leute auf dem Gebiete der Literatur, des Rechts und des öffentlichen Lebens kennen. Er verkehrte auch viel in der fashionablen Welt. Elegante und vornehme Damen, welche mit seiner Mutter in ihrer Jugend befreundet gewesen waren, nahmen sich seiner an, beriethen und verzogen ihn; besonders eine, die Marquise von Glenalvon, welche noch ein besonderes dankbares Interesse für ihn hatte; denn ihr jüngerer Sohn war Kenelm's Schulkamerad in Merton-School gewesen und Kenelm hatte ihn vor dem Ertrinken gerettet. Der arme Junge starb später an der Schwindsucht und ihr Kummer um seinen Verlust 78 machte ihre Zuneigung zu Kenelm nur noch zärtlicher. Lady Glenalvon war eine der Königinnen der Londoner Welt. Obgleich im fünfzigsten Jahre, war sie noch sehr schön; sie war auch sehr talentvoll, sehr gescheidt, sehr gutmüthig, wie es einige dieser Königinnen sind; kurz eine von jenen Frauen, deren Einfluß auf die Ausbildung des Benehmens und des Charakters junger Männer, welche im spätern Leben eine Rolle zu spielen bestimmt sind, unschätzbar ist. Aber es verdroß sie sehr, als sie zu sehen glaubte, daß es ihr nicht gelinge, einen derartigen Ehrgeiz in dem Erben der Chillinglys zu erwecken.

Wir wollen hier bemerken, daß Kenelm's äußere Erscheinung sehr gewinnend war. Er war hoch gewachsen und die jugendliche Grazie seiner Glieder verbarg seine außerordentliche physische Kraft, welche mehr auf der eisernen Textur als auf der Mächtigkeit seines Fleisches und seiner Sehnen beruhte. Sein Gesicht entbehrte zwar der jugendlichen Rundung, war aber doch von einer ernsten, finsteren, unheimlichen Art von Schönheit; nicht von künstlerischer Regelmäßigkeit, aber malerisch und eigenthümlich durch seine großen dunklen ausdrucksvollen Augen und eine gewisse unbeschreibliche Vereinigung von Milde und Melancholie in seinem ruhigen Lächeln. Er lachte nie hörbar, aber er hatte 79 einen feinen Sinn für das Komische und sein Auge lachte, wenn seine Lippen schwiegen. Er sagte gelegentlich komische, drollige, unerwartete Dinge, die für humoristisch galten; aber bis auf jenes Aufleuchten der Auges hätte er sie nicht mit weniger Anschein eines absichtlichen Scherzes sagen können, wenn er ein Mönch von La Trappe gewesen wäre und von dem Grabe, das er grub, aufgeblickt hätte, um Memento mori zu sagen.

Sein Gesicht wirkte sehr verführerisch. Die Frauen glaubten darin eine Fülle romantischer Gefühle zu erkennen; sie hielten ihn für einen leicht entzündbaren Menschen, dessen Liebe ebenso poetisch wie leidenschaftlich sein müsse. Aber er blieb für alle weiblichen Reize so unzugänglich wie der jugendliche Hippolytus. Er erfreute den Pfarrer durch seine Beibehaltung athletischer Uebungen und erlangte auf dem Faustfechtboden, den er regelmäßig besuchte, einen Ruf als der beste unter den Boxern der eleganten Welt.

Er machte viele Bekanntschaften, schloß aber auch jetzt keine Freundschaften; alle jedoch, die viel mit ihm verkehrten, gewannen ihn lieb. Wenn er diese Zuneigung nicht erwiderte, so wies er sie doch auch nicht von sich. Er hatte etwas ungemein Sanftes in der Stimme und im Wesen und besaß den ganzen 80 Gleichmuth des Temperaments seines Vaters; Kinder und Hunde schmiegten sich instinctiv an ihn an.

Als Kenelm Herrn Welby verließ, brachte er einen mit den neuen, eben aufgesproßten Ideen reich ausgestatteten Geist nach Cambridge mit. Er setzte die anderen neuen Ankömmlinge in Erstaunen und machte gelegentlich auch die gewaltigen Collegiaten von Trinity und St.-John betroffen. Aber allmälig zog er sich von der Gesellschaft der übrigen Studenten zurück. In der That war er zu alt für seine Jahre, und nachdem er sich in den ausgewähltesten Kreisen der Hauptstadt bewegt, hatten Studentensoupers und Kneipereien nur wenig Reiz für ihn. Er behauptete seinen Ruf als Faustkämpfer bei gewissen Gelegenheiten. Wenn ein schwacher Student sich von einem gigantischen Ruderer hatte einschüchtern lassen, entwickelte er sein muskulöses Christenthum in der nobelsten Weise. Auf dem Gebiete intellectueller akademischer Auszeichnungen that er nicht so viel, wie er wohl hätte thun können. Aber doch bestand er immer mit am besten bei den Collegeprüfungen; er gewann zwei Preise und verließ die Universität mit einem sehr guten »Charakter«.

Darauf kehrte er nach Hause zurück, sonderbarer, mürrischer, kurz, weniger wie andere Menschen, als da er Merton-School verließ. Er hatte sich von 81 innen heraus in eine Einsamkeit eingesponnen und inmitten dieser Einsamkeit saß er still und beobachtend wie eine Spinne in ihrem Gewebe.

War es natürliche Anlage oder Folge seiner Erziehung durch Lehrer wie Herrn Mivers, der die neuen Ideen dadurch zur Geltung brachte, daß er nichts Vergangenes ehrte, und Herrn Welby, der die Routine des täglichen Lebens der Gegenwart als den wahren Realismus betrachtete und alle Vorstellungen von der Zukunft als idealistisch belächelte, gewiß ist, daß Kenelm's geistige Verfassung sich wesentlich als eine Art von ruhigem Indifferentismus kennzeichnete. Es war schwer, an ihm eins der gewöhnlichen Reizmittel zum Handeln, als da sind Eitelkeit oder Ehrgeiz, Durst nach Beifall oder Verlangen nach Macht, zu entdecken. Für alle weiblichen Reize war er bis jetzt völlig unempfänglich gewesen; er hatte noch nie die Gewalt der Liebe an sich erfahren, aber er hatte viel über die Liebe gelesen, und diese Leidenschaft erschien ihm als eine unerklärliche Verirrung der menschlichen Vernunft und als eine schmachvolle Hingabe des geistigen Gleichmuths, welchen sich ungetrübt zu bewahren die Aufgabe männlicher Naturen sein sollte. Ein von dem berühmten Oxforder Gelehrten Decimus Roach unter dem Titel »Die Annäherung an die Engel« geschriebenes 82 Buch, welches das Lob des Cölibats mit beredten Worten pries, hatte einen so nachhaltigen Eindruck auf sein jugendliches Gemüth hervorgebracht, daß er, wenn er Katholik gewesen wäre, vielleicht Mönch geworden sein würde. Sein leidenschaftlicher Eifer galt der logischen Ergründung der abstracten Wahrheit, das heißt dem, was er für Wahrheit hielt; und da das, was dem Einen als Wahrheit erscheint, einem Anderen unfehlbar für falsch gilt, war diese seine Vorliebe nicht ohne Unbequemlichkeiten und Gefahren, wie man wahrscheinlich aus dem nächsten Kapitel ersehen wird.

Inzwischen flehe ich Dich, aufrichtiger Leser, an – nicht als ob irgend ein Leser jemals aufrichtig wäre – Du wollest, um Kenelm's Benehmen in dem folgenden Kapitel richtig zu beurtheilen, Dich erinnern, daß er von neuen Ideen überströmte, welche, wenn sie auf einen tiefen und feindseligen Strom alter Ideen stoßen, nur in eine um so heftiger wallende Bewegung und in ein um so gewaltiger anstürmendes Wogen versetzt werden. 83


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