Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Einmal«, so berichtete der alte Ulebuhle, »habe ich eine ganz merkwürdige Fahrt mitgemacht, zu der ich nur gekommen bin, weil Old Cook, der alte Tauchermeister, eine Kiste spanischen Feuerweins aufgemacht hatte, als wir am Abend vor meiner Abreise beim Abschiednehmen waren.
›Ulebuhle‹, sagte der alte Cook und schlug mit dem Meißel in den Spalt des Kistendeckels, ›die Erde, diese alte Kartoffel, dreht sich so langsam, daß ich brüchiges Wrack von einem Seemann es nicht mehr erlebe, wenn Ihr nach zwei Jahren wieder nach Galveston zurückkehrt. Darum muß ein ordentlicher Abschied gefeiert werden, wie es unter vernünftigen Christenmenschen üblich ist.‹
Ich weiß nicht, wie lange Old Cook und ich in jener Nacht bei dem verteufelten Malaga gesessen haben, aber ich weiß noch, daß wir erst erwachten, als die Sonne schon ein ganz erhebliches Stück ihrer Tagesreise hinter sich hatte. Die gute alte Petroleumlampe brannte immer noch von der Decke nieder, obwohl sie gegen die liebe Sonne nicht aufkommen konnte, worüber sie sich sicher ärgerte.
›Cook‹, schrie ich, ›alte Öljacke! Mein Schiff ist sicher fort, denn es wollte um sieben Uhr unter Segel gehen. Was nun? Das nächste geht erst in fünf Tagen!‹
Der Alte erwachte langsam, gähnte und rieb sich die Augen.
›Ihr habt Glück, Ulebuhle, denn morgen früh geht die 'Hirondelle' unter Segel, direktemang nach Madeira, und von da kann man fast mit einer Droschke nach Hamburg fahren. Die 'Hirondelle' ist zwar weder ein Frachtschiff noch ein Passagierschiff, es sind lauter gelehrte Leute an Bord, und die wollen da um Madeira herum irgendeinen gelehrten Schnickschnack anstellen, aber Ihr seid ja selbst ein gelehrtes Huhn, und so werden sie Euch schon mitnehmen.‹
Wirklich war es so, wie es mein Freund, der alte Tauchermeister, gesagt hatte, und wirklich waren Führer und Mitglieder der Expedition sofort bereit, mich mit hinüberzunehmen. 286
So schüttelten wir uns am Ende der großen Hafenmole die Hand . . . Es war das letzte Mal; ich habe Old Cook nicht mehr lebend angetroffen, als ich wiederkam.
Ich will euch nicht mit der Beschreibung der Fahrt langweilen, Kinder, es passierte nichts besonders Erwähnenswertes. Das Wetter war gut, wir hatten andauernd frischen westlichen Wind und kamen vortrefflich vorwärts. Ja, die Fahrt war sogar langweilig wie selten eine, die ich gemacht, denn es waren wirklich außer den Seeleuten lauter gelehrte Männer an Bord, drei berühmte amerikanische Professoren, die fast immer in ihre Bücher und Karten vertieft waren und mächtig gelehrte Gespräche hatten, die ich natürlich nicht belauschen konnte. Einmal fragte ich den Kapitän der 'Hirondelle', was denn eigentlich der Zweck der Reise sei, aber er wußte auch nichts Genaues. ›Ein versunkenes Land wollen sie suchen‹, sagte er, ›da unten vor der Nordküste Afrikas soll es liegen!‹
Ei, sagte ich mir, da bist du ja in eine interessante Gesellschaft hineingeraten und nimmst vielleicht an einer großen wissenschaftlichen Entdeckung teil.
Von den gelehrten Herren hatte ich in den letzten Tagen keine Nasenspitze mehr gesehen, und das war begreiflich, denn es hatte sich, als wir auf dem achtundzwanzigsten Grad nördlicher Breite dahinsegelten und den dreißigsten westlicher Länge überschritten, ein ziemliches Lüftchen aufgemacht. Käpt'n Barrel hatte alle Hände voll zu tun mit seiner Mannschaft, um die 'Hirondelle', die absolut auf den Wogen Walzer tanzen wollte, zu bändigen. Endlich, ich stand gerade gegen den Hauptmast gelehnt, ließ sich auch Professor Josuah Peppercorn, der Leiter der gelehrten Expedition, sehen. Er war lang und mager wie ein Fahnenstock, und der lange schwarze Bratenrock, der um ihn flatterte, wirkte auf See sehr komisch. Um sein Haupt flatterte eine lange weiße Haarmähne, und auf der spitzen Nase saß eine riesige Hornbrille.
Die 'Hirondelle' machte gerade einen kleinen Hopser, als Peppercorn an mir vorüberging, er verlor das Gleichgewicht, kippte vornüber und landete noch rechtzeitig in meinen Armen. So machten wir Bekanntschaft und begrüßten uns. Eben hatte ich ihm die Brille aufgehoben, da machte das Schiff eine tiefe Verbeugung, Peppercorn verlor abermals das Gleichgewicht und setzte sich, 287 bums!, auf seinen rundlichsten Körperteil. Ich hob ihn wieder auf, und er bedankte sich tausendmal. ›Offenbar, Mister Ulebuhle‹, sagte er nachdenklich, ›sind Sie schon viel zur See gefahren und verstehen etwas von Meer und Wellen, denn Sie stehen fest wie ein Mastbaum bei diesem Wogenprall. Leider ist das bei uns nicht so. Ich halte mich noch am besten auf den Beinen, aber mein Kollege Plumboom liegt als unbrauchbares Bündel unten in seiner Hängematte und kann nichts weiter sagen als: By Jove! Ich gebe meinen Geist auf! – Professor Benjamin Pilps aber sieht schon aus wie ein zerbeulter Kupferkessel und pappt sich ein Heftpflaster nach dem anderen an Kopf und Glieder, denn jede dritte Welle wirft ihn krachend in eine andere Ecke.‹
›Was das betrifft, Mister Peppercorn‹, sagte ich, ›so können Sie auf mich zählen wie auf einen Vollmatrosen, denn ich bin durch alle Meere der Welt gefahren und in mancherlei nautischen Künsten wohlerfahren.‹ 288
›Vortrefflich! Wir wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie die Aufsicht über die Tiefen-Lotungen übernehmen würden, die nun bald beginnen werden und für uns sehr wichtig sind, denn wir müssen genau feststellen, wie groß rings um die Kapverdischen Inseln die Wassertiefe ist, wo der Meeresboden ansteigt und wo er sich senkt, wo unter Wasser Ebenen, Berge und Täler anzutreffen sind. Mein berühmter Kollege, der Professor für Geologie an der Universität in Dearborn, Mister Benjamin Pilps, wird Ihnen auseinandersetzen, warum das alles eingehend untersucht werden muß.‹
Ich versicherte dem gelehrten Herrn, daß solche Arbeiten für mich keine Schwierigkeiten haben würden, da ich oft auf Taucherschiffen gefahren sei und sowohl das einfache Senkblei wie die große Sigsbee-Lotmaschine zu handhaben wüßte, die ich längst am Achterschiff bemerkt hatte.
›Gut, gut, Mister Ulebuhle! Vortrefflich, und nun lade ich Sie ein, mit in unsere gemeinsame Arbeitskabine zu kommen, damit wir alles Weitere besprechen können.‹
Ich stieg mit dem Professor die Kajütentreppe hinab und stand alsogleich den anderen Herren gegenüber. Wirklich lag der eine seufzend in einer Hängematte, was ihn aber nicht hinderte, in einem dickleibigen Schmöker zu studieren. Der andere Kollege des Mister Peppercorn war wirklich so beklebt und zerbeult, wie es mir berichtet worden war. Er hatte sich jetzt fest zwischen Wand und Tisch in einen Ledersessel geklemmt und arbeitete eifrig mit Lineal und Zirkel auf einer mächtigen Seekarte.
›Hier, meine Herren, bringe ich Ihnen unseren neuen Gehilfen, Mister Ulebuhle, der ein Freund der Wissenschaft und ein weitgereister Mann ist. Er hat die Güte gehabt, uns seine Hilfe bei den Lotungen anzubieten, die er genau kennt.
Dies, Mister Ulebuhle, ist der Professor für Geologie Benjamin Pilps. Er ist eben dabei, die Seekarte für die Kapverdischen Inseln noch einmal genau zu studieren. Der Herr in der Hängematte ist der Paläontologe Professor Plumboom, und ich selber bin der Archäologe Josuah Peppercorn aus Washington, von der Regierung mit der Leitung des Unternehmens betrautPaläontologie: die Wissenschaft von den Lebewesen früherer Erdperioden, deren versteinerte Reste man findet. Archäologie: Kunde von den Völkern des Altertums..‹ 289
Die Herren versuchten, eine Verbeugung zu machen, und Herr Peppercorn wollte mir eben einen Sessel anbieten, aber in diesem feierlichen Augenblick machte auch die 'Hirondelle' wieder eine Verbeugung, die so plötzlich kam, daß Plumboom aus seiner Hängematte fiel, Pilps unter den Kartentisch rutschte und Peppercorn, der mit dem Rücken gegen die Kajütentür lehnte, durch diese hinausfuhr und einige Zeit verschwunden blieb. – Ich selbst konnte gerade noch den Sessel erwischen und blieb kopfoben. Dann aber half ich den gelehrten Herren, so gut es ging, in die Steigbügel.
Plumboom erkletterte mühsam wieder seine Hängematte und behauptete zum hundertsten Male, daß er hier ›bei Gott!‹ sein Leben lassen würde, während sein Kollege sich ein neues Pflaster quer über die aufgeschundene Nase pappte. Schließlich fand sich auch der lange Professor wieder ein, und nun begann eine für mich sehr lehrreiche Unterhaltung, die mir zeigte, daß die gelehrten Herren zwar nicht 290 sehr seetüchtig, aber Leute von erstaunlichem Wissen waren, und das war ja die Hauptsache, denn das andere hatten Kapitän und Matrosen zu leisten.
Der Steward brachte Tee; wir brannten unsere Pfeifen an, und dann wurde ich in den Plan des Unternehmens eingeweiht.
Professor Peppercorn nahm ein paar mächtige alte Schmöker zur Hand, und dann begann er:
›Sie wollten wissen, Mister Ulebuhle, was der Zweck unserer Forschungsreise sei. Sie sind, wie ich hörte, selbst ein gelehrter junger Herr und werden schon früher vernommen haben, daß es vor grauen Zeiten ein jetzt in den Fluten des Atlantischen Ozeans verschwundenes Land gegeben haben soll, das den Namen Atlantis führte. Dieses Land soll westlich von der Straße von Gibraltar und dem nordwestlichen Teil des afrikanischen Festlandes gelegen haben. Es ist möglich, daß es eine sehr große Insel war, und manche behaupten, daß die Azoren, Madeira, die Kanarischen und die Kapverdischen Inseln die letzten noch heute sichtbaren Reste dieses versunkenen Landes seien, daß es die Berge jener großen Insel wären, die eben noch aus der Meeresflut herausragen.‹
Hier unterbrach Professor Plumboom seinen berühmten Kollegen: ›Es gibt aber auch Leute‹, sagte er, ›die nicht an die Insel glauben, und zu diesen gehöre ich, Jeremias Plumboom von der Detroit-Universität, der auf Grund seiner paläontologischen Studien, also seiner Studien über die Tiere und Pflanzen, die in grauer Vorzeit gelebt haben, der Ansicht ist, daß die Atlantis nicht eine Insel war, sondern eine große Festlandbrücke, die von Europa und Afrika nach Amerika hinüberging. Die Alte und die Neue Welt waren früher gar nicht durch den Atlantischen Ozean getrennt, sie hingen zusammen.‹
Jeremias Plumboom warf sich, die Pfeife wieder zwischen die Zähne schiebend, in seine Hängematte zurück. – Aber nun warf sein Kollege Pilps den Zirkel hin:
›Ich bestreite das, bestreite das entschieden! Hören Sie wohl, Mister Ulebuhle, daß ich das bestreite! Das Land Atlantis ist gar nicht versunken, meiner Meinung nach. Ich halte das für eine Fabel, denn . . .‹
Plumboom fuhr wieder in der Hängematte hoch. Er beugte sich so weit heraus, daß ich fürchtete, er würde jeden Augenblick abstürzen. 291
›So, so, so! Mister Pilps bestreitet das! Wie wollen Sie denn erklären, Herr Kollege, daß . . .‹
Mister Peppercorn hob seine dürren Arme wie Signalstangen in die Luft, so daß sie beinahe die Decke der Kajüte erreichten.
›Aber, aber! Meine Herren! Beruhigen Sie sich doch! Was soll Mister Ulebuhle von uns denken! Er wird ganz verwirrt durch diesen Streit! Eines nach dem andern! – Sie müssen wissen, mein Herr, daß die Gelehrten über die ganze Sache verschiedener Ansicht sind, wie Sie soeben festzustellen Gelegenheit hatten. Wir wollen hübsch der Reihe nach vortragen, wie es um diese geheimnisvolle Sache steht. Erlauben Sie mir, Ihnen zunächst das mitzuteilen, was meine Wissenschaft, die Archäologie, die Altertumskunde, darüber zu sagen weiß. Platon, der große Philosoph der Griechen, berichtet, daß der weise Solon einst Ägypten bereiste und mit den in alle Geheimnisse der alten Zeit eingeweihten ägyptischen Priestern über die ferne Vergangenheit sprach. Da berichteten ihm jene weisen Männer, daß vor der Straße von Gibraltar, vor der Küste Afrikas, einst auf einer großen Insel, Atlantis geheißen, ein mächtiges Reich existiert habe. Steile Berge umgaben diese mächtige Insel. Sie fielen senkrecht ins Meer ab, aber das Innere des Landes war flach und reich an Schätzen. Kluge Menschen von hohen Kenntnissen in allen Künsten und Wissenschaften bewohnten die Insel; sie fuhren von dort nach verschiedenen Erdteilen. Könige herrschten über Atlantis. Sie wohnten in einer wunderbaren Stadt, die im Mittelpunkt der Insel aufgebaut war. Herrliche Tempel und Paläste, aus schwarzem und rotem Gestein erbaut, reich mit Gold verziert, waren überall anzutreffen, und das Land war dicht bevölkert.
Eine grausige Katastrophe vernichtete in einer einzigen Nacht das ganze Reich Atlantis. Ein Erdbeben ließ es in den Tiefen des Ozeans verschwinden. Nur mächtige Schlammassen, die von dem Sandboden der Insel herstammten, waren noch lange Zeit erkennbar und verhinderten die Schiffahrt.
Das, mein werter Mister Ulebuhle, ist die älteste und erste Nachricht, die wir von Atlantis haben. Wie Sie hörten, stammt sie von ägyptischen Priestern, die dem Solon sagten, daß in ihren uralten Tempeln Aufzeichnungen darüber zu finden wären.‹
Ich hatte sehr aufmerksam zugehört, denn sicher ist es eine interessante Geschichte, von einem versunkenen Land und Reich zu hören, 292 noch dazu, wenn man sich an Bord eines Schiffes befindet, das sich aufmacht, um dieses Land zu suchen.
›Das ist spannend wie ein Abenteurer-Roman, Mister Peppercorn‹, sagte ich.
›Vielleicht ist es auch nur ein Roman‹, meinte spitz Mister Benjamin Pilps. ›Atlantis ist nicht versunken. Es existiert heute noch!‹
Jeremias Plumboom fuhr wieder aus der Hängematte hoch: ›Dafür haben Sie keinerlei Beweise, Mister Pilps!‹
Wieder fuhren Peppercorns Signalarme aufwärts. Er tat mir wirklich leid, denn er mußte während der ganzen Fahrt fürchten, daß sich die beiden wissenschaftlichen Gegner jeden Augenblick in die Haare fahren würden.
›Auf diesen Bericht allein, mein werter Mister Ulebuhle, kann sich die Wissenschaft natürlich nicht verlassen, aber es gibt auch sonst noch allerlei, was zu beweisen scheint, daß man die Erzählung des weisen Solon nicht so ohne weiteres als eine Sage, als ein Märchen abtun kann. Sehen Sie, früher hat man auch geglaubt, daß die Geschichte vom Turmbau zu Babel, die die Bibel erzählt, nur eine Sage sei, aber inzwischen hat man die Ruinen des babylonischen Turmes wirklich gefunden und hält Steine seiner Grundmauern in den Händen.
Ich will Ihnen nur noch eines erzählen, mein Herr: Man hat bei den alten Völkern in Mexiko manches genau so gefunden, wie es die alten Ägypter in ihrem Reich am Nil hatten. Wie sonderbar ist es, daß die Ureinwohner Mexikos genau solche Pyramiden bauten wie die Ägypter! Heute sind die beiden Länder durch gewaltige Ozeane voneinander getrennt. Damals muß irgendeine Verbindung zwischen ihnen bestanden haben, und das war vielleicht das versunkene Land Atlantis, denn die Ägypter besaßen keine Schiffe, mit denen sie über das Weltmeer nach Amerika fahren konnten.‹
Hier schwieg Professor Peppercorn, und Jeremias Plumboom nahm das Wort:
›Mein berühmter Kollege aus Washington hat gesprochen, Mister Ulebuhle, und hat Ihnen erzählt, was seine Wissenschaft über die Sache zu sagen weiß. Ich will ihnen zeigen, daß auch die Lehre von den Tieren und Pflanzen, die in früheren Erdzeiten lebten, Beweise dafür erbringt, daß das sagenhafte Land Atlantis bestanden haben muß. Nur ist es nach meiner Auffassung keine Insel gewesen, sondern eine 293 feste, breite Landbrücke, die von der Alten Welt bis hinüber zur Neuen lief.
Wir haben in den Erdschichten Amerikas die versteinerten Reste von Tieren und Pflanzen gefunden, die vor Millionen Jahren lebten. Die gleichen Reste aber fanden die europäischen Gelehrten in Europa und in Afrika. So ist es erwiesen, daß damals in der Alten wie in der Neuen Welt dieselben Tiere und Pflanzen lebten. Über das Weltmeer können sie nicht gewandert sein. Beide Erdteile müssen früher zusammengehangen haben, so daß sich Tiere und Pflanzen über beide mächtige Länder ausdehnen konnten. Diese verbindende Landbrücke war die Atlantis. Durch irgendeine Katastrophe brach sie durch, versank im Meer!‹
Hier sprang Benjamin Pilps wütend auf: ›Brach sie durch, brach sie durch! Heiliger Chinchinchindra! Wie denken Sie sich das, Jeremias Plumboom! Eine Landbrücke ist doch kein Stück Pfefferkuchen! Brach sie durch! Brach sie durch! Aber davon verstehen Sie nichts!‹
›Jawohl, ich sage Ihnen, daß die Landbrücke durchbrach und ins Meer sank, und da unten liegt sie noch, und wir suchen sie und werden sie finden!‹
Plumboom war aus seiner Hängematte gesprungen, Pilps hatte sich wütend hinter seinem Kartentisch erhoben, und die beiden feindlichen Gelehrten standen sich mit erhobenen Händen und gesträubten Haaren gegenüber. Wir dachten, daß sie sofort einen Boxkampf miteinander ausfechten würden, und eilten herbei, sie zu beruhigen. Aber die gute 'Hirondelle' besorgte das weitaus besser, denn sie schlingerte plötzlich derart, daß wir alle wie ein Spiel Kegel durcheinanderpurzelten. Ein Dutzend Menschen-, Tisch- und Stuhlbeine und vier Paar Arme reckten sich aufwärts. Dazwischen Bücher, Karten, Teegeschirr, Tassen, Teller, Topf und Tine, eine Porzellan-Lawine.
Ächzend und fluchend erhoben wir uns, und selbst der würdige Professor Peppercorn machte ein grimmiges Gesicht und murmelte etwas ganz Unchristliches vor sich hin, denn er hatte sich mit seiner rundesten Rundung in Mister Pilps großen Kartenzirkel gesetzt.
Als alles wieder einigermaßen beisammen und der Tee, der dem Mister Plumboom oben zur Hemdkrause hineingelaufen war, durch die Röhren seiner Hosenbeine Abfluß gefunden hatte, sprach der Leiter der gelehrten Expedition ein ernstes und würdiges Wort: 294
›So kann es nicht weitergehen, ehrenwerte Herren Kollegen‹, sagte er. ›Ich bin tief betrübt und lasse Befehl geben, das Schiff zu wenden, da die Herren sich nicht miteinander vertragen können. Was muß Mister Ulebuhle von uns denken, wenn Sie fortwährend das Kriegsbeil ausgraben, und das bei diesem schrecklichen Seegang, wo man jeden Augenblick glauben möchte, seine Seele dem Herrn empfehlen zu müssen! Nein, das geht nicht so weiter!
Die Herren müssen sich die Hände reichen und mir versprechen, bis zum Ende der Expedition, die ja vielleicht beweisen wird, wer recht hat, gute Freunde zu bleiben. Habe ich nicht richtig gesprochen, Mister Ulebuhle?‹
›Wie ein Advokat und Pastor zugleich, ehrengeachteter Mister Josuah Peppercorn! Und sicher werden die Herren sich auch schnell versöhnen, denn die beiden Gentlemen bekämpfen ja nicht ihre Personen, sondern nur ihre wissenschaftlichen Meinungen. Ich würde mich freuen, wenn Sie einander die Hände reichten, und wenn nun erst einmal der ehrenwerte Professor Benjamin Pilps von der Dearborn-Universität auseinandersetzte, was er denn von der ganzen Atlantis-Sache hält. Glaubt er denn an all das überhaupt nicht?‹
Richtig gaben sich die beiden Gegner die Hände, und es trat wieder Ruhe ein.
›Ich will nun unserm neuen Freunde Mister Ulebuhle sagen, was meine Meinung ist‹, ließ sich Herr Pilps vernehmen und klebte sich ein neues Pflaster auf die Hand, die der beim Sturz aus der Pfeife gefallene brennende Tabak verwundet hatte. ›Ich bin sonst in allen Punkten mit meinen ehrengeachteten Kollegen einverstanden, glaube wie sie, daß die Erzählung des weisen Solon eine Wahrheit enthält, glaube, daß zwischen den alten Ägyptern und den Ureinwohnern Mexikos eine Verbindung bestand, glaube auch, daß früher die Alte Welt und die Neue Welt fest verbunden waren, so daß die Tiere und Pflanzen in beiden großen Erdreichen hin und her wandern konnten . . .‹
›Ja, aber‹, unterbrach ich den gelehrten Herrn, ›dann sind Sie doch eigentlich alle einer Meinung!‹
›Nein, Mister Ulebuhle! Ich bin in einem sehr wichtigen Punkt ganz anderer Meinung als vor allem mein ehrenwerter Kollege Mister Plumboom! Er glaubt, daß zwischen der Alten und der Neuen Welt, zwischen Europa und Amerika, eine schmale Landbrücke bestanden 295 hat, ich aber, hören Sie es, mein Herr, bin der festen Überzeugung, daß die Erdteile Europa und Amerika früher ein einziger Erdteil waren, daß es damals noch gar keinen Atlantischen Ozean gab, daß ganz langsam und allmählich sozusagen ein Riß, eine Spalte, in dieser großen Festlandmasse entstand, die immer breiter wurde, so daß schließlich zwei Festländer daraus wurden, zwei große Erdteile, die sich immer weiter voneinander entfernten und zwischen denen nun erst der Atlantische Ozean sich bildete. So entstand auf der einen Halbkugel der Erde das große Festland Europa–Asien–Afrika, auf der anderen das Festland Nord- und Südamerika. Haben Sie mich verstanden, Mister Ulebuhle? Hier, sehen Sie einmal her auf diese Erdkarte! Noch heute erkennt man genau, daß die Alte und die Neue Welt vor grauen Zeiten auseinandergerissen und daß die beiden Stücke genau zusammenpassen. Sehen Sie da! Jetzt pappe ich beide Teile wieder zusammen, und nun sieht man es genau!‹
Professor Pilps hatte mit einer großen Schere aus einer alten Landkarte Nord- und Südamerika ausgeschnitten und dicht an die Alte 296 Welt herangerückt, und da sah ich nun mit einem Male etwas ganz Sonderbares, auf das ich bisher nie geachtet, sooft ich auch meine Nase schon in den Atlas gesteckt hatte! Ih, du mein Gott! Wahrhaftig, die Alte und die Neue Welt passen wirklich und wahrhaftig so gut zusammen wie zwei Papierfetzen, die man auseinandergerissen hat. Da, schaut her, Kinder, ihr könnt es selber sehen, der alte Ulebuhle hat sich die Kartenstücke aufgehoben; hier sind sie:
So standen wir damals in der engen Kajüte der ›Hirondelle' und beugten uns über die Weltkarte.
Professor Pilps war sichtlich erfreut über meine Bewunderung, und da er ein ehrlicher und hochachtbarer Mann war, sagte er bescheiden: ›Mister Ulebuhle, ich bin durchaus nicht der erste Gelehrte, der das erkannt hat, und will mich nicht mit fremden Federn schmücken. Ich hörte, daß Sie ein Deutscher sind, und muß Ihnen sagen, daß ein deutscher Forscher vor allen anderen die Geschichte herausgefunden hatDer deutsche Geograph und Geologe A. Wegener, verunglückt 1930 in Grönland.. – Aber Sie sehen nun, daß ich eben nicht an jene Insel Atlantis und auch nicht an eine versunkene Landbrücke Atlantis glauben kann. Jenes sagenhafte Land Atlantis war nichts anderes, mein Herr, als . . . nun, Sie werden es schon erraten haben – war nichts anderes als Amerika selbst, das damals eben noch dem europäischen und afrikanischen Festland so nahe lag, daß es den alten Ägyptern als eine große Insel erschien und auch von ihren Seefahrern leicht erreicht werden konnte. So erklärt es sich, daß vor grauen Zeiten in Mittelamerika Völker lebten, die ganz ähnliche Künste verstanden wie die Ägypter am Ufer des Nils und Pyramiden bauten wie sie. Beide Völker wohnten ja damals gar nicht so weit auseinander, und das eine konnte durch Reisende vom andern lernen. – – Aber jenes Land Atlantis ist nicht im Meer versunken, es besteht heute noch, es ist Amerika.‹
›Nun‹, sagte hier Professor Josuah Peppercorn, ›manches mag davon stimmen, manches aber erklärt meine Wissenschaft auch anders. Jedenfalls aber ist es doch sonderbar und zeugt von einer Verbindung zwischen der Alten und Neuen Welt, daß jene alten amerikanischen Völker allerlei alte Sagen kannten, die schon die Bibel aus Ägypten und Babylon berichtet.‹ 297
›Ja, mein Gott, hochgelehrte Herren‹, erwiderte ich, ›vor wieviel Jahrtausenden soll denn das aber alles so gewesen sein?‹
›Zehntausend Jahre sind mindestens seitdem vergangen‹, meinte Peppercorn.
›Viel, viel zuwenig!‹ sagte Mister Pilps. ›Es müssen Jahrhunderttausende vergangen sein seit den Tagen, da Amerika und Europa noch zusammenhingen!‹
›Aber damals gab es doch noch gar kein Volk der Ägypter und noch keine großen Reiche in Amerika!‹
›Das wissen wir gar nicht, Mister Ulebuhle! Wir wissen nur, was die Völker in den letzten paar tausend Jahren angestellt haben, aber was vorher geschah, davon haben wir keine Ahnung.‹
So endete an jenem Tage das denkwürdige Gespräch, das ich mit den berühmten, hochgelehrten Herren hatte. Mir summte ordentlich der Kopf von alledem, und ich ging an Deck, um mir den frischen Seewind um die Nase wehen zu lassen und erst einmal alles in meiner Gedächtniskammer richtig zu verstauen. Der Kapitän stand im Ölzeug auf seinem Posten. Als er meiner ansichtig wurde, lachte er:
›Mister Ulebuhle, Ihr macht ein Gesicht wie ein Kater, der eine Rolle Kautabak verschluckt hat. Ich sehe, daß Ihr die Reden der gelehrten Herren ebenso schlecht verdaut habt wie ich selber, als sie mir davon erzählten. Mir war es, als hätte ich mich in zehn Zentner verfitzten Stacheldraht verwickelt, und ich mußte erst einen gehörigen Buddel Rum in meinen Magen gießen, um wieder seetüchtig zu werden. Kommt mit in meine Kajüte, wir wollen einen ordentlichen nördlichen Grog trinken und von Old Cook reden, dieser schnurrigen Wasserratte, die Euch auf mein Schiff gebracht hat, was ein vortrefflicher Gedanke war, denn diese drei hochgelehrten Professoren bringen mich um den letzten Rest meines Verstandes, wenn sie mit mir reden. Freilich kommt das selten genug vor, denn wenn die 'Hirondelle' nicht gerade wie eine alte Droschke durch die Wellen gleitet, sind sie nicht zu sehen. Sie sind noch nie zur See gefahren, und ich fürchte, wenn der Sturm nicht bald nachläßt, kommen nur noch einige Knochenhäufchen von ihnen bei den Kapverden an.‹
Ein paar Tage später waren wir in der Nähe der Kapverdischen Inseln gekommen. Die See war klar wie ein Spiegel, und es war so wenig Wind, daß alle Segel gesetzt werden mußten, um überhaupt ein 298 wenig Fahrt zu machen. Aber das war jetzt ganz gut für uns, denn wir begannen mit den Lotungen, um die Natur des Meeresbodens genau zu erforschen. Ich selbst bediente die Lotmaschine und gab die Tiefenzahlen an. Neben mir stand Professor Peppercorn und trug alles sehr sorgfältig in Tabellen ein. So konnten wir ein genaues Bild davon gewinnen, wie es in der unsichtbaren Tiefe da unten aussah, wie der Meeresboden sich hob und senkte, wie da unten Berge, Ebenen und Täler abwechselten. – Schnurrrrrr, rack, rack, stopp! ging es den ganzen Tag. Viele tausend Meter Klaviersaitendraht waren auf unserer Meßtrommel. Das Sinkgewicht an seinem Ende fuhr hinab in die Tiefe, und wenn es den Meeresboden erreicht hatte, fiel es ganz von selbst ab. Das merkte man oben an der Trommel sofort, denn nun wurde die Schwere des langen Drahtseiles geringer. Dann lasen wir ab, wie viele Meter Draht niedergerollt waren, und wußten so, wieviel hundert und tausend Meter Wasser sich unter uns, bis zum Grunde der See, befanden. Es kamen doch immer so rundherum 4000 Meter heraus, ehe der Boden plötzlich, dicht bei den Inseln, emporstieg.
Aber der gelehrte Professor Pilps machte noch schwierigere Geschichten. Dann und wann ließ er eine ›Sonde‹ hinab zum Meeresgrund, um zu sehen, aus was für Gesteinen der Boden der See bestand. Eine merkwürdige Zange war es, die ihr eisernes Maul weit offen hielt, wenn das Ding hinabgesenkt wurde. Hatte sie aber den Grund erreicht und sich in ihn eingewühlt, dann schnappte der Mechanismus zu, die Zange biß sozusagen ein Stück von dem Gestein ab und hielt es zwischen ihren Backen fest. Auch allerlei seltsames Getier kam da zuweilen mit herauf, mit dem sich nun wieder Professor Plumboom befaßte, der all diese Spinneriche mit ihren Stakelbeinen liebte. Benjamin Pilps hingegen schimpfte über das Gelichter, von dem er nichts wissen wollte, und hatte nur Augen für die Gesteine der Tiefe, die er gleich Schätzen in seine Höhle trug, um sie genau zu studieren.
So hatte denn jeder an Bord der 'Hirondelle' alle Hände voll zu tun, und langsam fielen selbst die Heftpflaster des Herrn Pilps ab, denn das Schiff stand so ruhig, daß eine alte Schwarzwälder Pendeluhr da ungehindert hätte ihren Schwinger hin und her werfen können.
Schließlich aber waren wir dicht bei den Kapverden angekommen. Deutlich sahen wir bei unseren Arbeiten, daß der Meeresboden sich hier immer mehr emporhob. Aber auch tiefe Täler neben steilen 299 Bergen gab es auf dem Grunde der See; es mußte für jemanden, der da unten hätte wandern können, genau so sein wie in einer wild zerklüfteten Gebirgslandschaft auf dem festen Lande. Die Zange des Professors Pilps brachte glasartiges Gestein empor, Lava, die aus Vulkanen auf dem Meeresgrunde ausgeworfen worden war. Alles in weitem Umkreise wurde abgesucht, und deutlich erkannten die gelehrten Herren, daß hier eine mächtige Zerstörung des Grundes vor langen Zeiten stattgefunden hatte. Eine ungeheure Spalte war wie ein Axthieb tief in die steinerne Haut der Mutter Erde gegangen, ein Riß und Bruch zwischen dem Festlande Afrika und dem Boden des Meeres, aus dem damals, als die Haut der Erde dort zerbarst, die glühenden Massen der Tiefe emporgequollen waren und in Dampf und Feuer alles ringsum zerstört hatten.
Vielleicht war damals wirklich hier ein Stück Erdrinde, auf dem einst Völker gelebt hatten, zerstört worden und hinabgesunken in die ungeheure Wassertiefe . . . Vielleicht rührte der mächtige Bruch wirklich aus jenen Tagen, da – wie Benjamin Pilps es gesagt – der große Erdteil zerriß und in zwei Teile gespalten wurde, die Alte und die Neue Welt . . . Wer konnte es beweisen –?
Und immer weiter ging in Bogen um die Kapverden herum die Fahrt, und den ganzen Tag rasselte die Lotmaschine schnurrr, rack, rack, stopp! Die Zange fuhr zu Grund und holte immer neue Bodenproben herauf aus der Tiefe.
Da geschah eines schönen Vormittags etwas ganz Besonderes. Wir arbeiteten nahe bei Saint Vincent. Eben kam die große Beißzange über Wasser und wurde eingeschwenkt; polternd ließ sie ihre Steinlast fallen. Da sprang Mister Pilps auf, als hätte er den Veitstanz. Mit einer Schrubberbürste reinigte er höchsteigenhändig den Steinklumpen und stieß ein Freudengeheul aus, so daß wir alle hinzuliefen und selbst Käpt'n Barrel sich in Bewegung setzte.
›Mauerwerk, Mauerwerk‹, schrie Benjamin Pilps.
›By Jove! Mauerwerk!‹ brüllte Jeremias Plumboom.
Wahrhaftig, es sah aus wie behauene Steine, die mit irgendeinem Mörtel zusammengefügt waren. Der ganze Klumpen war ja nicht größer als eine kräftige Reisetasche, aber man sah doch deutlich, daß es ein Bruchstück von Mauerwerk war, das Teile von drei oder vier aneinandergefügten Steinen enthielt. 300
›Mauersteine aus Basalt‹, sagte der Professor der Geologie.
In der Tat sollen die Atlantier, wie Solon erzählte, ihre Häuser aus schwarzen, roten und weißen Steinen erbaut haben. Die schwarzen, das können Basaltsteine gewesen sein.
Und nun schleppten die gelehrten Männer ihren Schatz nach unten, um ihn sorgfältig mit der Lupe von allen Seiten zu beaugenscheinigen.
Käpt'n Barrel zog mich in eine Ecke. ›Auf diesen Schreck, Ulebuhle, müssen wir einen Schluck nehmen! Ich habe so meine eigenen Gedanken bei diesen alten Brocken, die sie da eben gefischt haben. Ich will doch gleich zwanzig Klafter tief in den Grund hineinfahren, wenn das ein Stück von einer Villa ist, die vor zehntausend Jahren so ein Anhaltiner oder wie sie die Kerle nennen, die hier früher gehaust haben sollen, bewohnt hat. Ich wette, daß der alte Plunder von irgendeiner Hafenbefestigung herrührt, die die Brandung zerstört und in die See geworfen hat. Aber mit diesen Gelehrten ist ja kein vernünftiges Wort zu reden. Hol' sie der Geier! Ich bekümmere mich nicht weiter um den Krempel, denn sie haben mir schon zehnmal gesagt, daß ich unwissend wie ein Säugling sei!‹
Und nun ging die Sucherei erst richtig los. ›Mister Ulebuhle‹, sagte ganz geheimnisvoll der lange Peppercorn zu mir, ›jetzt sind wir sozusagen erst richtig im Tritt! Bedenken Sie, versuchen Sie zu begreifen, zu ermessen, was für einen historischen Moment wir alle erleben! Atlantis ist gefunden! Mauerwerk! Ein Pompeji auf dem Meeresgrund! Hier unten (er zerrte mich am Ärmel zur Reling und wies mit seinem langen Zeigefinger in die Tiefe), hier unten, zwölfhundert Meter tief, liegt seit zehn Jahrtausenden versunkenes Land und Volk!‹
Ich sah nur noch Käpt'n Barrels mächtiges Stück Kautabak in der Tiefe gemächlich verschwinden, in die der Finger Peppercorns wies.
›Wir müssen weitersuchen, müssen noch mehr finden! Ausdauer muß man haben, Ausdauer und Glück, das ist alles!‹
Und unablässig arbeitete die Winde, Schnurrrrr, rack. rack, stopp! Aufwärts! –
Nach drei Tagen vergeblichen Fischens, als die Mienen der Matrosen immer düsterer geworden waren, schlich sich nach dem Abendbrot, als ich eben am Achterdeck nachdenklich meine Pfeife rauchte, Jan Schnörk, der Schiffszimmermann, an mich heran. Er sah sich erst ein 301 paarmal listig und vorsichtig um, spuckte einen handlichen Priem über Bord und trat näher.
›Nichts für ungut, Mister Ulebuhle‹, sagte er, seine Mütze zwischen den Händen drehend. ›Kalkulieren alle, daß Sie'n Herz für jede Teerjacke zwischen den Wendekreisen haben. Ja, kalkulieren so, Mister Ulebuhle! Darum sozusagen gewissermaßen als Abgesandter hier! Ganz im Vertrauen, Mister! Der Käpt'n und die gelehrten Herren brauchen es nicht zu wissen.‹
›Rolle dein Garn ruhig ab, Jan Schnörk, alte Haut‹, sagte ich und zog ihn hinter einen mächtigen Ballen Tauwerk.
›Möchten nur gern erfahren, Mister Ulebuhle, wie lange der vermaledeite Krempel noch angehn soll. Möchten zu gern wissen, was sie da unten noch suchen. Ja, möchten es alle zu gern wissen, Mister! Und darumsozusagen gewissermaßen, und weil kalkulieren, daß Mister Ulebuhle für alle Teerjacken 'n Herz . . .‹
›Jan Schnörk, ich verstehe alles ohne Brille. Die Sache ist so: Die gelehrten Herren suchen nach einem versunkenen Land; sozusagen ein vor zehntausend Jahren versunkenes Ägypten soll es sein. Kannst auch annehmen, daß da zu Noahs Zeiten schon Mexikanerkönige oder so gehaust haben. Mauerstücke glauben sie schon gefunden zu haben, und nun suchen sie noch andre, bessere Dinge.‹
›Knochengerippe und Gold und so?‹
›Nee, Jan Schnörk, das kann man woll nich mehr finden, aber 302 vielleicht denken sie so was Ähnliches zu finden wie die Leute, die im versunkenen Pompeji herumbuddeln: irgend etwas, was die Leute da früher gemacht haben; Trümmer von irgendwelchen Kunstwerken oder so. – Sie haben immer noch Hoffnung, etwas zu erwischen. So weht der Wind, Jan Schnörk!‹ – –
›Aha! Hm, hm! Habe alles kapiert, Mister Ulebuhle. Versteh aber nichts von! Kalkuliere, werden nichts finden!‹
›Kalkuliere auch so, Jan Schnörk!‹
›Müssen aber was finden, Mister!‹
›Wäre gut, Jan Schnörk!‹
Der sah sich wieder vorsichtig nach allen Seiten um und rüstete sich zum Rückzug. Er streckte mir seine mächtige Hand, die hart und schwer war wie eine Maurerkelle, entgegen.
›Nichts für ungut, Mister Ulebuhle! Danken Ihnen alle. Haben ein Herz für alte Teerjacken. Werden's gedenken! Good bye!‹
Vorsichtig schlich der Alte ins Logis zurück.
Zwei Tage später war der zehnte Juni, und diesen zehnten Juni an Bord der 'Hirondelle' kann ich beim besten Willen nicht schildern, denn es war ein Tag ausgelassener Freude. Am Nachmittag ruhte alle Arbeit. Am nächsten Tage sollte der nahe Hafen von Saint Vincent angelaufen werden, und von da ging's stracks in die Heimat. Die Matrosen tranken und tanzten. Sie sangen ein altes Seemannslied: ›Hojoho und'n Buddel voll Rum‹, endete jeder Vers. Jan Schnörk mit seinem pfiffigen Gesicht spielte auf dem alten Schifferklavier, was der Balgen halten wollte.
In der Herren-Kajüte aber gab es ein Festessen, an dem Käpt'n Barrel und ich als Ehrengäste teilnahmen. Es wurden viel schöne und auch gelehrte Reden gehalten, und die alten Gegner Benjamin Pilps und Jeremias Plumboom tranken Brüderschaft bei einer Kanne Tee.
Ja, das war ein großer Tag! Am frühen Vormittag, nach dem vierten Aufziehen der Grundzange, kam zwischen Schlamm und Muscheln, Tang und Seegetier ein merkwürdiges Stück Gestein nach oben. Wir waren dicht bei dem felsigen, zur Meerestiefe hinabsteigenden Fuß der Insel Saint Vincent. Die Sonde ging da gar nicht mehr tief, kaum zweihundert Meter, und überall war basaltartige Lava. – Aus diesem Gestein bestand auch der abgerissene Block, den die Zange förderte, aber wer beschreibt die Freude, als sich erwies, daß dieser Block 303 merkwürdige, vom Zahn der Zeit zernagte Figuren und Zeichen enthielt. Sie waren sehr unklar; auf den ersten Blick schienen sie Spuren abgesprungener und ausgesprungener Steintrümmer zu sein, aber dann sah man doch ganz deutlich Zeichen seltsamer Art. Manche von ihnen erinnerten an die altägyptische Bilderschrift. So erkannte man den Kopf eines Sperbers, zwei Wellenlinien übereinander, die offenbar Wasser darstellen sollten, und ein drittes Zeichen war sicher ein Auge. Dann kam ein Dreieck, dann wieder Zeichen, die Professor Peppercorn für ganz unbekannt erklärte.
›Merkwürdig, merkwürdig‹, sagte er immer wieder und strich die Stoppeln seines Kinnes. ›Hm . . . hm . . . ja, sonderbar. Es scheint doch, als ob die Atlantier irgendwie mit der altägyptischen Kultur Verbindung gehabt hätten. Ja, wer weiß, vielleicht stammen die Urväter der Ägypter aus diesem versunkenen Land. Indessen . . . Ich weiß nicht . . . Der Stein erscheint mir sonderbar. Er könnte ein Stück von einem Obelisken, einer Denksäule sein . . . Aber . . . Hm, ja, rätselhaft!‹
Käpt'n Barrel stand nicht mehr sehr fest auf seinen Beinen, als wir, tief in der Nacht, unsere Kabinen aufsuchten.
Als wir am Besanmast vorbeistrichen, hielt er plötzlich an und legte mir seine schwere Faust auf die Schulter: ›Will'n Schuft sein, Ulebuhle, alte Landratte, und gleich sechs Klafter tief in den Grund fahren, wenn das Ding seine Richtigkeit hat! Aber, verstehe ja nichts von. Is auch'n schöner Stein, trotz alledem, aber . . . wissen Sie, ich habe einen Verdacht . . . meine Leute grinsen so sonderbar, vor allem dieser Jan Schnörk . . . Wenn die man da nicht dazwischengemogelt haben! Na, gute Nacht! Sleep you well in your Bettgestell!‹
Dann verschwand er, und ich hörte ihn die Kajütentreppe hinunterpoltern.
Am andern Tage liefen wir in den Hafen von Saint Vincent ein, und hier trennte ich mich mit hundert Händedrücken von all meinen Reisegefährten.
Nach Jahr und Tag kam ein mächtig dickes Buch heraus, in dem die gelehrten Männer über die Auffindung der ersten Spuren der sagenhaften Atlantis berichteten.
Aber es dauerte nicht lange, da erschienen andre Bücher von anderen gelehrten Männern, die waren anderer Ansicht über die ganze Geschichte und meinten, daß der sonderbare Stein nicht von den 304 Atlantiern stammen könne und sehr verdächtig aussehe. – So wurde schließlich ein großer Gelehrtenstreit aus der Sache, und bis zum heutigen Tage weiß kein Mensch etwas Genaues über das interessante versunkene Land Atlantis und seine Bewohner.
Ich habe mich weiter nicht mehr um den ganzen Krempel gekümmert, denn es gibt noch tausend andere Rätsel in der Welt. Aber eines schönen Tages wurde ich doch an meine damalige Fahrt erinnert, als ich in Rotterdam zu Schiff ging. – Da saß am Bollwerk ein alter Knabe, braun wie eine überjährige Zwiebel, und war eben dabei, sich mit seinem Schiffermesser einen handlichen Priem abzuschneiden. – Donner und Hagel, denke ich, das ist doch leibhaftig Jan Schnörk!
›Hallo! Jan Schnörk!‹
Der Alte sieht auf. Sein Gesicht zieht sich in tausend Falten, die listigen blauen Augen blinzeln, dann schwenkt er seine alte fettige Seemannsmütze.
›Kalkuliere, Mister Ulebuhle? Lange nicht gesehn! Immer noch unter Segel, Mister?‹
Ich drücke die breite Pranke des Alten, und wir kommen in ein Gespräch. Ein harter Taler macht den früheren Schiffszimmermann der 'Hirondelle' redselig. – Aber schließlich muß ich an Bord, und beim Abschiednehmen zwinkere ich so ein wenig mit den Augen und sage: ›War'n schöner Stein damals, den wir bei Saint Vincent aus der Tiefe gezogen, Jan Schnörk!‹
›Woll, woll, Mister, schöner Stein. Soll doch von die alten ägyptischen Mexikaner oder mexikanischen Ägypter-Kaiser oder so gewesen sein. Hörte so!‹
›Wißt Ihr denn nichts Näheres von dem Stein, Jan Schnörk? Hatte denn alles seine Richtigkeit?‹
Der Alte blinzelt pfiffig, aber dann macht er ein ganz harmlos dummes Gesicht:
›Keine Ahnung, Mister Ulebuhle! – Kalkuliere doch!‹
Dann schneidet er sich in Seelenruhe seinen Priem ab und hält mir auch die Dose hin. ›Wollt Ihr auch einen, Mister Ulebuhle? Habt immer'n Herz gehabt für eine ehrliche Teerjacke!‹
›Nee, Jan Schnörk‹, sagte ich lachend, ›ich prieme nicht.‹
Dann schüttelten wir uns noch mal kräftig die Hände und schieden voneinander.« 305