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Einmal ging eine böse Krankheit durch die Stadt. Auf leisen Sohlen schlich sie heimtückisch in alle Häuser, zu den Armen und zu den Reichen, und der Wagen des alten Doktor Horn klapperte von früh bis spät durch die winkligen Gassen mit den schnurrigschiefen Häuschen; aber weder die bittere Medizin noch die lustigen Scherze des Alten vom Theresienhof wollten diesmal helfen. Der Tod, der überall im Lande reiche Ernte hielt, wollte auch aus der Bergstadt Goslar seinen Zehnten haben, und war kein Kraut gegen ihn gewachsen.
Eines Tages starben zu gleicher Stunde der alte Bergmann Klaus, der achtzig Sommer gehen und kommen sah, und sein Enkelchen Friedel, das mit uns auf der Schulbank saß und mit zum Märchenkreis des alten Ulebuhle gehörte.
Am Abend, als sie zu Grabe getragen wurden, das uralte Menschenkind und das ganz junge, saßen wir betrübt beim Doktor Ulebuhle, 59 und da erzählte er die Geschichte vom Zündholz und der Kerze, vom kurzen und vom langen Leben.
»Kinder«, sagte er, »kurz und lang, das ist Menschenwitz. Für den Herrn der Welt ist es eins. Ihm lebt der Maikäfer so lange wie der Elefant, obgleich der ein paar hundert Jahre alt werden kann, denn für die Ewigkeit ist die Minute so lang wie das Jahrhundert. Seht, da stand eine Kerze auf dem Tisch eines jungen Mannes, und ein Zündholz lag dabei. Die Kerze war schön weiß und hatte noch nie geleuchtet, denn die Magd hatte sie erst am Morgen vom Krämer gekauft. Das Zündholz hatte einen ganz roten Kopf. Es war ein Bullerjahn, wie alle aus seiner Familie, und immer gleich Feuer und Flamme und immer auf dem Sprunge, sich an allem und jedem zu reiben. Die Kerze tat sehr steif und vornehm und war von ihrem Beruf ungemein eingenommen. Oben hatte sie einen kleinen Zopf und unten ein Spitzenkleid aus Papier; ihr Fuß steckte in einem Porzellanschuh, und dicht daneben lag das Zündhölzchen in einer kleinen hölzernen Bettlade ganz allein, denn es war das letzte Glied einer kinderreichen Familie.
Ein Sonnenstrahl drang durch die Fensterladen und fiel auf die beiden. Das Zündhölzchen erwachte, besah sich eine Weile die Kerze und sagte plötzlich:
›Gestatten Sie, daß ich mich Ihnen vorstelle. Zündholz ist mein Name. Ich stamme aus Schweden. Meine Mutter war eine geborene Tanne, die erst mit einem Herrn Schwefel und nachher mit Herrn Phosphor verheiratet war. Entschuldigen Sie, daß ich im Liegen spreche. Wenn man ein Holzbein hat . . . Sie begreifen! Ich bin der Letzte meines Stammes. Wir sind ein kurzlebiges Geschlecht!‹
Die Kerze schwieg eine Weile und überlegte, ob sie dem kleinen rotköpfigen Wicht überhaupt antworten sollte. Endlich aber sagte sie mit fettiger Stimme:
›Ich heiße Kerze. Ich möchte Sie aber darauf aufmerksam machen, daß ich nicht auf vertraulichem Fuße mit Ihnen verkehren kann, denn Sie sind als mein Diener hier angestellt. Mein Vater war der Baron von Rindertalg, und meine Mutter stammt aus der reichen Kaufmannsfamilie Baumwolle. Ein Verwandter von mir ist ein hervorragendes Kirchenlicht, und einer meiner Brüder stand an der Spitze des Christbaumes, dicht neben dem Weihnachtsengel. Sie unterhielten so enge Beziehungen und der wundervolle Engel verliebte sich derart in 60 meinen Bruder, daß er vor Sehnsucht zerfloß, denn er war eine wachsweiche Natur.‹
›Das ist alles sehr interessant‹, meinte das Zündholz, ›aber Ihr Diener bin ich denn doch nicht!‹
›Aber freilich, Verehrtester, Sie sind ja nur meinetwegen hierher gelegt und werden mich heut abend entzünden! Was meinen Sie wohl, welche Rolle ich hier im Hause spiele! Ich bringe Licht in die ganze Geschichte. Ich ersetze die Sonne, bin ihr Stellvertreter auf Erden. Ohne mich könnte der junge Herr gar nicht seine schönen Gedichte zu Papier bringen, denn das tut er nur des Nachts, und dann seufzt er, denn er liebt eine schöne Dame.‹
›Sehr interessant‹, meinte der kleine Mann mit dem Holzbein wieder, ›aber wenn ich nicht wäre, dann könnten Sie gar nicht leuchten, denn ich muß durch mein Feuer Sie erst entzünden. Seien Sie nicht so hochmütig! Wenn ich auch nur klein bin und nur ein Holzbein habe, bin ich doch ein tüchtiger Kerl, denn ich habe es im Kopfe.‹
›Nur keinen Streit, mein Bester! Ich darf mich nicht erhitzen, das schadet meiner Figur, und ich habe noch ein langes Leben vor mir. Sie freilich, mit Ihrem Holzbein, sind schnell in Asche zerfallen, aber ich zehre von meinem Fett und überlebe Sie und alle Ihre Brüder.‹
Der alte Tisch mit den seltsam verschnörkelten krummen Beinen, der schon länger als ein Jahrhundert in diesem Hause diente, knackte plötzlich laut, so daß die beiden erschraken und der Holzwurm, der in dem alten Möbel hauste, zu bohren aufhörte. Es war, als ob der Tisch irgend etwas knurrte, aber man konnte den alten Burschen nicht verstehen.
›Sie sind schrecklich aufgeblasen und hochmütig wie alle reichen Leute, die von ihrem Fett zehren‹, meinte das Zündholz, ›aber wenn Sie auch ein wenig länger leben als ich, sterben müssen Sie auch einmal, und ob Sie das in Ihrem letzten Stündlein so mutig tun werden wie ich, das ist noch die Frage, denn ich verschieße im letzten Moment mutig mein Pulver, wie ein alter Soldat, daß es zischt und pufft, und dann hat die liebe Seele Ruhe, ich habe meine Schuldigkeit getan, und damit Gott befohlen! Denn darauf kommt es im Leben allein an, daß man seine Schuldigkeit tut. Wir waren sechzig Schweden in einer Schachtel; alle taten ihre Pflicht; sie gaben Feuer und starben. Nur zwei waren Drückeberger; sie brachen zusammen, und der Herr schleuderte sie wütend ins Wasser und sagte: ›Lumpenzeug!‹ 61
›Nun‹, sagte die Kerze, ›es wird sich alles finden. Wenn Sie mich nur heut abend nicht im Stich lassen und kräftig Feuer geben, denn dazu sind Sie hierher gelegt. Mein Zopf ist schön gedreht und gefettet. Noch ist er weiß, aber je älter ich werde, je länger ich leuchte, um so dunkler wird er. Es ist umgekehrt wie bei den Menschen. Die haben in der Jugend einen schwarzen Zopf und im Alter einen weißen! Schade, daß Sie mich nicht strahlen sehen können. Aber zu Herzen wird es mir doch gehen, und dann weine ich große Tropfen, die an meinem Kleide niederrollen. Ja, das Leben ist schwer!‹
Der kleine hölzerne Gesell schwieg. Die Kerze war ihm zu hochnäsig und selbstgefällig. Da lag er in seiner winzigen hölzernen Bettlade und träumte vor sich hin.
Und dann ging die Sonne unter, und die Nacht kam, und es war dunkel ringsum. Die Finken, die in den hohen Bäumen vor dem Hause gelärmt hatten, waren schlafen gegangen, und hinter dem mächtigen alten Kachelofen wisperten die Mäuse. Dann schlug die alte brummige Turmuhr neun, und da ging die Tür auf, und der junge Mann trat ins Zimmer.
Jetzt! dachte die Kerze und war so aufgeregt, daß sie an Herzschlag gestorben wäre, hätte sie ein Herz besessen. Die Sonne ist schlafen gegangen, der Mond ist all diese Tage an Amerika verborgt, nun komme ich dran. Mein Licht allein leuchtet durch die Finsternis.
Da ergriff der junge Mann die hölzerne Lade mit dem Zündhölzchen. ›Eines nur‹, meinte er, ›hoffentlich tut es seine Schuldigkeit!‹
Der Mann mit dem Holzbein aber stand kerzengerade zu Befehl, wie ein braver, guter Soldat von Anno dazumal, und mutig ließ er sein Leben für die Pflicht.
›Leben Sie wohl!‹ schrie er, als er mit seinem dicken Pulverkopf gegen die Reibfläche stieß, und dann puffte und zischte er und gab Feuer, denn das war sein Beruf. Schnell verkohlte er und zerfiel in Asche, aber die Kerze konnte das alles gar nicht beobachten, denn nun kam sie an die Reihe. Der junge Mann setzte ihr weißes Zöpfchen mit dem Zündholz in Brand, und das war der feierlichste Augenblick in ihrem Leben, denn nun strahlte sie ihr helles Licht aus und meinte, sie könne es mit der Sonne aufnehmen.
Der junge Mann, der die schöne Dame liebte, saß bis tief in die Nacht hinein und schrieb Gedichte, und dann seufzte er. Die Kerze 62 aber wollte immer heller leuchten; ihr Zöpfchen wurde immer länger, und ihre Flamme flackerte. Da kam aber die große eiserne Lichtputzschere, sperrte ihren Rachen auf und sagte: ›Nur keine Aufregung, Jungfer!‹ Dann biß sie ein Stück von dem Zopf ab, und die Kerze fand das so empörend, daß sie dicke Tränen weinte. Aber die Lichtputzschere kümmerte sich nicht darum. Sie hatte ein Gemüt wie ein Fleischerhund. Sie lag breitbeinig und mit offenem Rachen zu Füßen der Kerze und wartete auf den nächsten Biß.
›Sie sind äußerst unliebenswürdig und verstehen nicht, mit Damen umzugehen‹, sagte die Kerze weinend, ›hier zu meinen Füßen lag vorher ein alter Soldat; der ging für mich durchs Feuer und ließ sein Leben für mich. Aber Sie sind kein Kavalier.‹
›Schnedderengteng! Hier herrscht Ordnung!‹ meinte die Schere und klappte das Maul auf. ›Ich tue hier meine Pflicht und damit basta! Damen mit langen Zöpfen werden hier nicht geduldet. Ich liebe die langen Flammen nicht; mein Herr auch nicht. Damen dürfen nicht rauchen. Sie haben aber eben geraucht, gequalmt sogar, Verehrteste. Und nun hören Sie auf zu weinen, sonst kriegen Sie die Abzehrung und sterben bald.‹
›Meine Verwandte war ein hohes Kirchenlicht, mein Bruder, der . . .‹
›Hat den Weihnachtsengel geschmolzen! Haben Sie ja vorhin schon alles erzählt, Madame! Geben Sie Obacht auf Ihren Spitzenrock, den haben Sie mit Ihren dicken Tränen schon ganz betropft. Je mehr Sie heulen, je schneller geht es mit Ihnen zu Ende.‹
›Ich lebe noch lange‹, meinte die Kerze, ›das Leben ist sehr interessant, und man lernt immer wieder etwas Neues.‹
›Schnedderengteng! Es ist immer wieder dasselbe. Ich liege hier schon an die hundert Jahre und putze den Kerzen die langen Zöpfe, damit sie nicht die Bude vollqualmen, aber es ist immer dasselbe. Die jungen Damen denken immer, sie leben ewig und bleiben ewig strahlend schön und voll Wärme, und dann sind sie übermütig und wollen hoch hinaus und denken, es muß ein Prinz kommen, der sich in sie verliebt. Aber langsam werden sie alle klein und häßlich, weinen immer mehr und kriegen ganz absonderliche Figuren und dicke Füße. Lange Krokodilstränen hängen auf dem weißen Kleide, der Zopf fasert aus, sie gewöhnen sich das Rauchen an, und es fehlt nicht viel, 63 so fangen sie noch an zu schnupfen wie der alte Gustav, der hier morgens immer alles ins reine bringt. Endlich aber sind sie so zusammengedörrt wie eine Backpflaume, klein und unansehnlich, und dann will sie keiner mehr, und die Geschichte hat ein Ende. Ich mag das ganze Weibsvolk nicht leiden. Ich war fünfundzwanzig Jahre mit einer gewissen Kette verheiratet. Ich hing an ihr mit all meiner Kraft. Wir standen in enger Verbindung mit einem sehr hohen Herrn, einem gewissen Messingleuchter. Was soll ich Ihnen sagen, eines Tages riß sie sich von mir los und ging mit dem Kerl auf und davon. Darum sage ich: Weg mit dem Weibervolk, mit der Liebe und den langen Zöpfen! Alles Schnedderengteng!‹ Sprach's und biß wieder ein Stück vom Zopf der Kerze ab, denn die war so empört von der Rede des alten Bullenbeißers, daß sie in hellem Zorn aufloderte.
›Wenn Sie mit der Kette auch so umgegangen sind wie mit mir, dann kann ich es ihr nicht verdenken, daß sie mit dem Messingleuchter durchging, denn Sie sind ein roher Patron. Aber für mich fängt das Leben erst an, und ich glaube, es wird ganz interessant werden. Ich mache Furore und sicher einmal eine gute Partie, eine glänzende Partie, wie es mir zukommt. Freilich, den ersten besten würde ich nicht nehmen.‹
Schrumm! sagte es plötzlich. Ein dicker Käfer, angelockt durch das Licht der Kerze, war zum Fenster hereingeflogen und lag nun zu ihren Füßen. Er hatte große Bürsten an den Beinen, und damit strich er über seinen Schnurrbart und seine Frackflügel, denn er wußte, was sich schickt, wenn man einer Dame seinen Besuch macht. Er machte eine gar possierliche Figur, denn er war sehr dick, hatte einen kugelrunden Kopf und ganz kurze Beinchen. Er kribbelte langsam an dem Leuchter herum, machte ein paarmal seine Verbeugung und schien zu warten.
›Da kommt der erste Freier‹, sagte die Lichtputzschere, ›halten Sie sich zu, sonst schwirrt er wieder ab.‹
›Pee‹, meinte schnippisch die Kerze, ›er ist mir zu dick und zu klein. Es wird noch ein anderer kommen. Ich habe Zeit, das Leben fängt ja erst an!‹
Der Käfer kletterte inzwischen an der Kerze hoch, und als er dicht bei ihrem Flammengesicht war, knisterte sie so böse, daß er vor Schreck auf den Tisch hinunterfiel und auf seinem runden Rücken zu 64 liegen kam. Da lag er nun, strampelte unbeholfen mit den Beinen und konnte nicht wieder aufkommen, bis ihm die Schere einen Arm entgegenstreckte und ihm wieder auf die Beine half.
›Sehen Sie, Verehrtester, so geht es, wenn man auf Abenteuer ausgeht. Suchen Sie sich eine andere Flamme, denn diese hier will hoch hinaus, und man wird am besten mit ihr fertig, wenn man ihr den Zopf abbeißt.‹
Der Käfer war ganz verstört. Schnurr, schnurr, sagte er, und dann flog er in die Gardinen.
Aber schon kam ein neuer Freier daher! Das war eine Pferdemücke. Entsetzlich dünn und langbeinig, eng geschnürt wie ein Gardeleutnant und mit roten Stielaugen im Kopfe. Sie schnurrte immer rundum um die Kerze und tat sehr verliebt.
›Herrgott‹, sagte die, ›was für ein dünner Schneider! Ein gräßlicher Kerl! Ich mag ihn nicht um einen Wald voll Affen! Da muß ein ganz anderer kommen!‹
Die Pferdemücke war, geblendet durch die Flamme, in das Tintenfaß geraten, hatte sich die Flügel gefärbt und kroch nun über das Schreibpapier des Dichters, einen langen Strich mit Tinte hinter sich ziehend. Da wurde er ärgerlich und warf sie in weitem Bogen zum Fenster hinaus.
›Nun werden Sie eine alte Jungfer‹, schnauzte die Schere. ›Der eine ist Ihnen zu dick, der andere zu dünn. Ja, denken Sie vielleicht, es kommt ein Prinz?‹
Aber wirklich, da kam ein Prinz! Ein niedlicher bunter Falter mit einem blauen Seidenmantel und schwarzem Samtkragen. Er hatte zarte Fühlhörnchen, umtanzte die Kerze und wisperte so fein, daß man es kaum hören konnte. Zudem war es eine fremde Sprache, die keines im Zimmer verstand. Der bunte Fremdling machte der 65 strahlenden Kerze seine tiefsten Verbeugungen. Vielleicht hielt er sie wirklich für die Sonne. Ihr Licht und ihre Wärme lockten ihn, er war geblendet von ihrem Glanz und umschmeichelte sie mit seinen surrenden bunten Flügeln.
Die Kerze fühlte sich äußerst gehoben. Stolz stand sie da. Endlich ein eleganter junger Herr, dachte sie, und strahlte noch einmal so hell.
›Junger Mann‹, brummte die Lichtputzschere, ›hören Sie auf einen alten Knasterbart, der das Leben kennt, und machen Sie, daß Sie fortkommen, sonst gibt's ein Unglück! Ich sah schon manchen Ihresgleichen ein Ende nehmen. Er verbrannte sich die Frackflügel an der Flamme und mußte zu Fuß nach Hause gehen, oder es ging ihm wie jenem dicken Nachtschwärmer, der an der Kerze hängenblieb und elend mit ihr versengte.‹
Der kleine bunte Fremdling aber hörte nicht. Er taumelte um die Kerze, und sie lockte ihn mit ihrem Strahlenlächeln.
›Das Leben ist doch schön!‹ sagte sie. ›Nun liebt mich auch jemand so, wie der junge Mann, der dort sitzt und Gedichte schreibt, das Fräulein liebt.‹
Da zuckte sie plötzlich erschreckt zusammen. Es gab einen kleinen Puff, und der bunte Schmetterling fiel auf den Tisch nieder, gerade neben die Lichtputzschere. Er hatte die Kerze küssen wollen, und richtig verbrannte er sich dabei die Flügel. Da lag er nun und schnurrte unbeholfen, und das schöne Spiel war aus.
›Sehen Sie, junger Mann! Was habe ich Ihnen prophezeit!‹ schnarrte die Schere. ›Übermut tut selten gut. Wer nicht hört, muß fühlen, und Jugend hat keine Tugend!‹
›Es ist schade‹, meinte die Flamme, ›aber vielleicht kommt ein anderer.‹
›Sie sind ein herzloses Frauenzimmer, und außerdem rauchen Sie schon wieder!‹ Mit diesen Worten sprang die Lichtputzschere empor, klappte das Maul auf und biß herzhaft ein Stück von dem brennenden Zopf ab. Sie konnte das tun, denn sie war von Eisen.
Die alte Uhr sagte zehn, und dann elf, und endlich zwölf. Die Kerze wurde kleiner und kleiner und die Schatten im Zimmer länger und länger. Alles tauchte immer mehr in Finsternis, und die Welt wurde so beängstigend stille. Der Bohrwurm in der Tischplatte schlief, und der kleine Schmetterling hatte sich traurig hinter den Büchern verkrochen. 66 Auch die Schere war eingenickt. Als die Uhr zwölf gesagt hatte, brummte sie noch lange ganz leise vor sich hin, denn das war ihre größte Arbeit, und nun mußte sie wieder mit eins anfangen, aber dann schliefen die Leute schon, und keiner hörte zu.
Da erhob sich endlich der junge Mann, der das schöne Mädchen liebte. Er seufzte noch einmal, und dann ging er ganz leise hinaus, hinüber in sein Schlafzimmer. Aber der alte Gustav, sein Kammerdiener, hatte ihn doch gehört. Er stellte die Pantoffeln zurecht und den Stiefelknecht, und dann ging er hinüber in das Studierzimmer seines Herrn, um nach Ordnung zu sehen. Da stand die Kerze noch auf dem Tisch und brannte noch. Aber wie sah sie aus! Alt und häßlich! Ganz winzig klein war sie geworden und flackerte ängstlich hin und her. Ihr Spitzenkleid war angesengt. Sie weinte dicke Tränen und sagte einmal über das andere Mal: ›Nun ist es aus! Wie ist das Leben so kurz!‹
Der alte Gustav nahm den winzigen Kerzenstumpf mit der Schere aus dem Leuchter heraus. Aber seine zittrigen Finger zerdrückten ihn.
›Autsch!‹ sagte die Kerze, und dann verlöschte sie, und es war rabenschwarze Nacht. Das winzige Wachsstümpfchen rollte in die Ofenecke, und als der alte Gustav mit seinen Filzschuhen davongeschlurft war, kamen die kleinen Mäuse hinter dem Ofen vor, strichen ihre Schnurrbärte, schnupperten umher und verzehrten das Wachs. Nur den kleinen Zopf ließen sie liegen.
Die Lichtputzschere erwachte, riß das Maul auf und gähnte. Alles schon dunkel, dachte sie, die Jungfer Kerze ist inzwischen gestorben, wie es scheint. Ja, das Leben ist kurz. Einmal werde auch ich in die Grube fahren, ich spüre es doch schon in den Gelenken, daß ich hundert Jahre alt bin. Es ist das Zipperlein.
»Seht, Kinder«, sagte der alte Doktor Ulebuhle und stopfte noch eine Pfeife, »das war die Geschichte vom Zündholz und der Kerze. Die Kerze glaubte wunder wie langlebig sie sei, aber die Schere und der Tisch, die schon ein Jahrhundert lang im Dienste des Hauses waren, für die war die Kerze so vergänglich wie das Zündhölzchen. Die Hauptsache ist, daß man sich schlecht und recht durchs Leben schlägt und seine Pflicht tut.«
So sagte der schnurrige Alte, und dann nieste er, daß die Katze beim Ofen entsetzt einen Seitensprung tat, und schlurfte mit der Kerze uns voran die alte steile Stiege hinab. 67