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Heute«, sagte der Doktor, »kommt die Geschichte von der Schwalbe und dem Telegraphenpfahl. Die ist nicht lustig und ist auch nicht traurig, und wer sie nicht hören will, der läßt es bleiben. Basta!
Ja, da wandern die blanken Telegraphendrähte von der großen Stadt weithin weg durch Felder und Wälder. Längs der Eisenbahn ziehen sie dahin, und wenn die Vögel darauf sitzen, sehen sie aus wie Notenlinien mit dickköpfigen Noten. Das geht durch stille Dörfer, immer auf hohen Stangen, und die Kinder halten die Ohren an die dicken Pfähle, denn sie summen eine sonderbare Melodie, aber die machen sie nicht selbst, sondern es ist der Wind, der auf den Drähten spielt wie auf einer Harfe.
Und dann geht es über Land, wo das Getreide gelb in der Sonne steht, und geht durch stille Buchenwälder mit frischem Grün, immer weiter und weiter, bis wieder eine neue Stadt kommt, mit Rauch und Staub und lärmenden Menschen.
Da, wo die Felder jenseits des Dorfes aufhörten und eben der grüne Wald anfing, stand ein Telegraphenpfahl, der hielt mit starken Armen die Drähte beieinander droben, dicht unter den grünen Zweigen der Bäume. Eine Schwalbe mit blauschwarzem Frack und weißer Weste kam dahergeflogen. Sie setzte sich auf den Telegraphenpfahl, wippte mit dem Schwänzchen und pickte dem alten, ewig brummenden Burschen auf seinen dicken Holzschädel.
›Pitt, komm mit‹, sagte sie, wippte zierlich und hackte mit ihrem kleinen Schnabel dem Alten vertraulich aufs neue auf den Holzkopf.
›Reisende Musikanten sind lockere Vögel‹, brummte der. Aber er war nicht böse, denn er liebte die kleinen, munteren Sänger, die von weit her kamen und ihm guten Tag sagten.
›Pitt, komm mit‹, sagte die Schwalbe, das hatte sie sich so angewöhnt, denn ihre Mutter hatte es schon gesagt und ihre Großmutter, und es ist Schwalbenart. 185
›Ich stehe hier schon zwanzig Jahre‹, sagte der Telegraphenpfahl, ›und ich komme hier nicht weg. Ich bin ein alter, getreuer Beamter. Es wäre eine schöne Geschichte, wenn die Telegraphenstangen auch so in der Luft herumfliegen wollten wie ihr Federvolk.‹
›Ich komme von weit her‹, sagte die Schwalbe, ›von dort, wo die Sonne wärmer scheint und der Himmel so tief blau ist wie die Kornblumen. Da liegen sonnige Küsten am Meer, Lorbeerhaine stehen am Ufer, goldgelbe Zitronen und Orangen hängen im dunklen Laub, und die Menschen sind fröhlich und singen lustige Lieder zur Laute. Ja, da ist es schön. Pitt, komm mit.‹
›Ja‹, sagte der alte Pfahl, ›das muß wohl schön sein. Unsereiner sieht von all dem nichts und tut hier oben seinen Dienst als alter Beamter. Wenn ich nicht Obacht gäbe auf die Drähte und ihnen den Willen ließe, dann gäbe es eine schöne Verwirrung in der Welt. Sie sind widerspenstig und zerren wie ein Fleischerhund, der an der Kette liegt, aber ich halte sie in Ordnung, denn Ordnung muß sein bei einem alten Beamten, der treu ist und pensionsberechtigt!‹
›Aber es ist langweilig‹, zwitscherte das Schwälbchen und zupfte an seiner weißen Weste. ›Ich komme durch die ganze Welt und höre viel Neuigkeiten. Wenn du willst, erzähle ich dir welche.‹
›Ach Gott‹, meinte der Telegraphenpfahl, ›Neuigkeiten kannst du mir nicht erzählen, die kommen hier alle durch meine Drähte, und da höre ich sie zuerst.‹
›Aber die Dinge, die ich heute auf meiner Reise sah, die sind dir noch unbekannt, denn ich komme in eilendem Fluge herauf aus dem Süden, und was da geschah, das kannst du nicht wissen, alter Holzkopf!‹
›So schnell kannst du gar nicht fliegen wie die Gedanken der Menschen hier in den Drähten, windiger Federball. Mit Blitzesschnelle sausen die Begebenheiten aus aller Welt hier an mir vorüber. Wenn man nicht aufpaßt wie ein Jagdhund, sind sie schon wieder hundert Meilen fort, ehe man noch recht verstanden hat, um was es sich handelt. Ja, die Menschen sind kluge Leute und haben es weit gebracht. Da braucht man nicht vom Ort, braucht keine weiten Reisen zu machen und hört doch alles, was in der Ferne, weit über Länder und Meere vor sich geht. Das kommt hier alles durch diese dünnen Drähte hindurch. Telegramme nennen es die Menschen. Ganz da in der Ferne, in der großen Stadt, sitzen die Männer, die die ganze 186 Geschichte machen. Da haben die Drähte in einem großen Hause ein Ende, und dieses Haus ist das Telegraphenamt. Da stellen sie in sonderbaren Gefäßen eine ganz schnurrige Sache her, eine unsichtbare Kraft, noch zarter als der feinste Windhauch und doch mächtig und stark. Kommt man mit dem Finger an diese Geräte, dann gibt es einen Schlag, und es ist, als bisse es einem in die Hand. Diese seltsame Kraft nennen die Menschen Elektrizität. Was aber das tollste ist, sie läuft schneller davon als der wildeste Sturmwind, schneller als die schnellsten Vögel fliegen, so schnell wie der Blitz, der ja auch von der Elektrizität fabriziert wird. Und mit dieser sonderbaren Kraft schicken die Menschen ihre Worte und Gedanken durch diese Drähte, so daß man sie am andern Ende genau verstehen kann. Ja, so ist es, die Gedanken der Menschen schwirren auf elektrischen Flügeln durch diese Drähte. – Aber nun mußt du erzählen, was du auf deiner Reise erlebt hast.‹
›Ich war da unten im Süden, in den sonnigen Gärten. Schöne, seltene Blumen dufteten. In einem Hain von alten Bäumen stand ein Schloß. Es war alles von Gold und Silber darin, und hohe Spiegel von Kristall deckten die Wände. Ein kranker König wohnte dort. Er saß im Hain bleich und elend in einem Sorgenstuhl. Seine Diener standen um ihn herum, viel Herren und Damen in kostbaren Gewändern. Alles war stumm. Die Sonne schien so warm, die Blumen dufteten so süß, die kleinen Vögel sangen so lieblich in den Zweigen, aber eine Träne rann dem König über die fahlen Wangen, denn er wußte, daß er sehr krank sei und sterben müsse. – Es war zu traurig, ich strich dicht über ihn hin und sagte: Pitt, komm mit. Er hörte es, denn er lächelte ein wenig und hob den Blick . . . aber dann flog ich fort und weiß nicht, wie die Geschichte zu Ende gegangen ist.‹
›Aber ich weiß es‹, sagte der alte hölzerne Wächter. ›Es kam hier durch die Drähte durch. In wenigen Sekunden waren die elektrischen Boten aus dem fernen Süden bis hier heraufgeeilt in den kalten Norden, wo des Königs Reich liegt, und Trauer geht durch das Land, denn der gute König ist am nämlichen Abend, als die Sonne hinter den Bäumen des schönen Gartens ins Meer sank, gestorben.‹
›Es ist schnurrig‹, sagte die Schwalbe, ›ich komme im schnellsten Fluge von dort unten her, und doch weißt du über die Dinge, die sich da zugetragen haben, besser Bescheid als ich selbst.‹ 187
›Ja, das ist alles die Elektrizität und die Telegraphie‹, meinte der Hölzerne, und man sah es ihm an, daß er stolz darauf war, ein Telegraphenbeamter zu sein.
›Ich flog über die Alpen hinweg‹, sagte die Schwalbe, ›oh, wie glänzten die vereisten Gipfel, die mächtigen Schneefelder im Sonnenlicht. Die Felszinnen ragten hoch in den Himmel hinein. Ich sah einen Eisenbahnzug drunten am Fuße der Bergwände dahinkriechen, und dann kam etwas Seltsames! Aus der Höhe rollten mächtige Schneemassen zu Tal, wahre Berge von Schnee ballten sich zusammen und fuhren abwärts. Sie rissen Felstrümmer und Geröll mit sich und knickten die hohen Tannen unten in den Bergwäldern. Es war eine gefährliche Geschichte, und man hörte den Eisenbahnzug drunten ängstlich kreischen, und dann kamen die Schneemassen über die glitzernden Schienen des Bahnstranges, ja weicher Pulverschnee hüllte selbst den Zug ein, und da saß er nun fest im weißen Meer mit allen seinen Menschen, eingegraben im Schnee zwischen den hohen Felswänden. Ich hätte gern gesehen, wie sie die Sache nun wieder in Ordnung gebracht haben. Aber ich mußte weiter und flog nordwärts.‹ 188
›Siehst du‹, sagte der Telegraphenpfahl, »ich wußte schon alles, was du berichtest. Die ganze Geschichte ist schon längst hier durch die blanken Drähte geschnurrt, und heut abend lesen es die Leute in der großen Stadt, wenn sie in Schlafrock und Filzpantoffel gemütlich auf dem Sofa sitzen und ihren Tee trinken, in der Zeitung, denn der Telegraph hat es gemeldet. Es war eine große Schneelawine, die du da in den Bergen niedergehen sahst, und eben kam die Nachricht durch, daß es noch viele Stunden dauern wird, bis der Schienenweg wieder frei ist und der Zug weiterfahren kann. Von allen Dörfern kommen die Menschen mit Schaufeln und Picken herbei, den Schnee fortzuräumen, ein ganzes Bataillon Soldaten kämpft gegen den Racker Schnee, aber nicht mit der Flinte, sondern mit der Schippe.‹
›Ja, ja‹, zwitscherte das Schwälbchen, ›seit die blanken Drähte durch die Welt gehen, können wir fliegenden Boten keine Neuigkeit mehr erzählen. Wir müssen nach den Urwäldern auswandern, denn da gibt es noch keine Telegraphendrähte, aber da sieht man auch nicht so viel Interessantes wie in der großen Welt, wo die Menschen wohnen.‹
›Höre‹, sagte der alte Pfahl, ›was alles mit Blitzesgeschwindigkeit hier hin und her schnurrt. Gutes und Böses, Lustiges und Trauriges. Da ist ein berühmter Mann gestorben, sagen die Drähte. Eine Minute später erzählen sie, daß irgendwo eine Mutter ein Kind geboren hat. Ein Schiff ist auf dem Meere untergegangen, schnurrt es. Ein armer Mann, der für seine Kinder kaum das Brot kaufen konnte, hat plötzlich das große Los gewonnen. Trauer und Freude schnurrt hier entlang, und der Wanderer, der durch die stille Waldstraße zieht, sieht nur blanke Drähte und weiß nicht, was für wichtige Dinge sie über seinem Kopf hinweg melden. – Aber nun mußt du weitererzählen, vielleicht weißt du eine Neuigkeit, von der die Drähte nichts berichten.‹
›Ich flog durch einen dunklen Wald. Ein einsames Haus stand darin. Ich ruhte einen Augenblick auf dem Giebel. Ein schlechter Mensch kam aus dem Walddunkel herangeschlichen, er sah unheimlich aus und trug eine Flinte unter dem Mantel verborgen. Er stieg durch ein Fenster. Nur eine Frau war in der kleinen Stube, die saß am Bette ihres Kindes und wartete, daß ihr Mann, der Waldhüter, heimkehre. Ich hörte sie ängstlich schreien, hörte, wie der Bösewicht sein Gewehr abschoß, und dann war es stille. 189
Nach einer Weile stieg er mit einem Bündel geraubten Gutes wieder aus dem Fenster heraus. Er sah sich scheu um, niemand hatte ihn gesehn, und er verschwand schnellen Schrittes im Dunkel der Tannen. Ich allein habe den Räuber gesehen, ich flog über ihm dahin und schrie unablässig 'Pitt, komm mit, Pitt, komm mit', aber er entschwand im dichten Gehölz meinen Blicken und ist entkommen.
›Nein, er ist nicht entkommen', sagte der alte Stamm, ›aber er wäre entkommen, wenn die blanken Drähte des Telegraphen nicht durch die Welt zögen. Der Waldhüter war nicht mehr weit, er hatte den Schuß gehört. Sein Weib lebte noch und wird wieder genesen. Mit schwacher Stimme konnte sie erzählen, wie alles gewesen und wie der Räuber ausgesehen. Sie beschrieb sein wildes Gesicht und seine Kleidung. Auf seinem blinkenden Rade fuhr der Waldhüter wie ein Sturmwind nach dem nächsten Marktflecken und berichtete alles. Und nun kam der Telegraphist an die Reihe. Er schickte durch die Drähte Zeichen und Worte, erzählte die ganze Geschichte, beschrieb genau den Täter und was er entwendet, und die Drähte trugen die Nachricht mit 190 Blitzesschnelle von einer Bahnstation zur anderen, von einer Stadt zur anderen, so daß bald jeder Landgendarm wußte, was sich zugetragen.
Ganz spät in der Nacht wollte der Räuber, der auf dichten Waldwegen weit hinweggeeilt war, auf einer kleinen Bahnstation in den Zug steigen, um in die große Stadt zu fahren, wo niemand ihn kannte. Aber da stand ein Mann mit einem Tschako, einem Säbel und einem mächtigen Schnauzbart. Seine scharfen Augen besahen sich jeden, der daher kam, und dann verglich er sein Aussehen mit der Beschreibung, die die Drähte von dem Bösewicht gegeben. Sieh, da kommt der Vogel geflogen! sagte er plötzlich, denn der Flüchtling hatte den kleinen Bahnhof betreten. Und ehe er sich zur Wehr setzen konnte, hatte man ihn gepackt, mit Ketten gefesselt, und als ein Gefangener fuhr er nun der großen Stadt zu, in der er seinen Raub verbergen wollte. Wären die Drähte nicht gewesen, er wäre entwischt, denn wer kann ohne sie überallhin so schnelle Nachricht geben!‹
›Alter‹, sagte die Schwalbe, ›mit dir kann man sich keine Neuigkeiten erzählen, denn du weißt sie alle am besten. Ich bin aber doch froh, daß sie den Bösewicht erwischten. Lebe wohl, alter Holzkopf! Künftig werde ich mich in die Wipfel der alten Tanne setzen, sie weiß nichts von den blanken Drähten, und alles, was ich ihr berichte, ist neu und interessant.‹
Damit flog der kleine Vogel zwitschernd davon, und noch von weitem hörte man ihn rufen: ›Pitt, komm mit!‹
Die Telegraphenstange brummte laut vor sich hin. Ein Wanderbursch, der da unten vorbeizog auf der Straße, einen grünen Zweig am Hute und ein Ränzel auf dem Rücken, hörte es, aber er wußte nicht, was sie sagte.« 191