Bruno Hans Bürgel
Die seltsamen Geschichten des Doktor Ulebuhle
Bruno Hans Bürgel

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John Dolland, der Taucher

Das Haus des alten Ulebuhle am Frankenberger Plan zu Goslar, das so putzig aussah mit seinem jahrhundertealten, spitzen Schieferdach, dem bunten Holzwerk und den kleinen Fensterchen, war wie ein Museum. Bücher und Instrumente und Sammlungen aller Art füllten es vom Keller bis zum hohen Giebel. Überall standen uralte Truhen mit eisernen Bändern und Messingschlössern, und sie waren angefüllt »mit tausend Schnurrpfeifereien«, wie die alte Christine sagte, aber die verstand nichts davon. Da gab es Kästen mit seltsamen Muscheln und Käfern, mit versteinerten Tieren, mit Totengebein und ausgestopften Vögeln. Alte Uhren und Seefahrerinstrumente, Vergrößerungsgläser, seltsame Münzen und Briefmarken, Eier von indischen Vögeln, Bogen, Pfeile und Messer wilder Völker füllten Kisten und Kasten.

Und noch ein ganz besonderer Schrank stand im Studierzimmer des seltsamen Alten. Hinter den Scheiben war eine grüne Gardine; man konnte die Dinge, die da lagen und standen, nicht sehen, aber zuweilen – wenn wir Kinder kamen – kramte der gelehrte Mann zwischen diesen Raritäten herum, und da sahen wir denn allerlei krauses Zeug. Ein paar ganz merkwürdige Tabakspfeifen, riesige Schlüssel, einen rostigen Säbel, eine zerbrochene bunte Tasse, eine reichverzierte Schnupftabaksdose, einen alten Gänsekiel, der früher als Schreibfeder gedient hatte, eine grüne Weste, eine leere braune Bouteille, Knochen, Metallteile von einem Sargdeckel, vergilbte Briefe, Lorbeerkränzlein und vieles andere.

»Das ist des Doktor Ulebuhle Erinnerungsschrein«, sagte die alte Christine, wenn wir sie fragten. »Ihr dürft ihn nicht stören, wenn er in dieser Raritätenkiste herumkramt, denn jedes Stück ist irgendein Zeuge seltsamer Erlebnisse oder stammt von berühmten Männern, die längst im Grabe ruhen.«

Als wir eines Tages wieder bei ihm erschienen, stand er vor dem alten Schrein und betrachtete mit seiner mächtigen Hornbrille einen 95 eisernen, rostigen Riegel. Wir standen still daneben, um ihn nicht zu erzürnen, und begriffen nicht, was es an dem alten Eisenstück zu sehen gäbe. Da drehte sich der Alte plötzlich um und sagte:

»Seht her, ihr Racker! Dieses Eisenstück ist weit her. Einst lag es auf dem Grunde des Meeres. Da hat es einem Menschen das Leben gerettet. Dieser Mensch war meines Vaters Freund. Er hieß John Dolland und war ein Taucher. Und weil ihr mir so brav von den Bergwiesen Kräuter gesammelt habt, will ich euch heute die Geschichte, die mit dem alten rostigen Riegel zusammenhängt, erzählen, so wie sie John Dolland uns selbst erzählte.«

Der Alte schlurfte zu seinem hochlehnigen Sorgenstuhl, nahm umständlich eine Prise, nieste zweimal, wie es bei ihm alter Brauch, und dann begann er seine Geschichte.

»Damals, als John Dolland, der Taucher, zu uns kam, war ich selbst noch ein Bub. Mein Vater hatte ihn auf einer langen Seereise, die ihn als Arzt bis hinunter nach Südafrika geführt, kennengelernt. Zu jener Zeit gab es noch keine Eisenbahnen und kein Dampfschiff und all das andere Teufelszeug, mit dem sich der moderne Mensch herumärgern muß, und allein die großen Segelschiffe fuhren nach fernen Ländern. – John Dolland war ein echter, rechter Seemann nach altem Schlag. Groß und breit und wetterhart. Blaue Augen saßen in dem braunen Gesicht, und im linken Ohrläppchen trug er einen Goldring. Das war ein alter Brauch.

Drei Tage und Nächte wohnte er in unserem Hause und erzählte sich mit meinem Vater von alten Seefahrten. Und eines Abends, als der Regen rauschte und der Wind durch die Schlüssellöcher winselte, als die gute Mutter bei uns saß und strickte, die Männer einen heißen Grog tranken, zog der Taucher den alten Eisenriegel hervor und wickelte sein Garn ab, wie die Seeleute sagen, wenn sie eine Geschichte erzählen.

›Herr Doktor‹, sagte er, ›ich habe Ihnen gestern versprochen, mein Erlebnis mit der ›Isabella‹ zu erzählen. Heut, so kalkuliere ich, ist der rechte Augenblick dazu, und so will ich das Ding abrollen. Also das war im Jahr 1822, und ich trieb damals so zwischen Gibraltar und den Kapverdischen Inseln mein Handwerk. Das war eine vielbefahrene Wasserstraße, und manches gute Schiff kam bei den Azoren, bei Madeira, den Kanarischen Inseln oder dem Kap Verde auf Grund, und ein 96 guter Taucher konnte da immer einen Beutel Silberlinge verdienen. »Eines Abends, ich arbeitete gerade im Hafen von Funchal auf der schönen Insel Madeira, wo unter Wasser an den Hafenanlagen große Ausbesserungen nötig waren, kam ein Bote zu mir, den der alte berühmte Tauchermeister Cook gesandt hatte. – Ein großer Segler, der von Lissabon, der Hauptstadt Portugals, nach hier unterwegs war, sei draußen auf See, nordöstlich von Porto Santo, in der Nacht untergegangen, und der alte Cook wolle mit mir über die Sache sprechen.

Ich saß mit meinen Kameraden bei einem guten Schluck Portwein in der uralten verräucherten Taverne ›La Paloma‹; wir spielten Karten und rauchten, daß die alte Ölfunzel an der Decke kaum noch durchdringen konnte. ›Kinder‹, sagte ich zu meinen Kumpanen, ›der Mensch kann nicht mehr als ein ehrliches Stück Arbeit tun, und dann hat er seinen Schluck Wein und seine Pfeife Tabak verdient. Wenn der alte Wassermolch glaubt, daß ich zu dem weggesackten Kasten vor Porto Santo heruntersteige, dann hat er falsche Segel gesetzt. – Sagt ihm das, Jüngling, und laßt Euch auf meine Kosten eine Pinte Roten vom Wirte geben.‹

Der Bote tat so und ging mit starker Schlagseite wieder unter Segel.

Als wir noch so ein Stündchen gespielt hatten, ging plötzlich die Tür auf, und aus dem dichten Tabakrauch tauchte Oll Cook auf, rund wie ein Oxhoft Wein.

›Jungens‹, sagte er, ›ich denke, wenn der Berg nicht zu Sankt Peter kommt, dann kommt Sankt Peter zum Berg.‹ Und damit ließ er sich schnaufend an dem breiten Eichentisch nieder.

›Wirt‹, schrie ich, ›einen großen Humpen, einen ganz großen Humpen vom Allerbesten für Seine Eminenz Oll Cook, die bravste Teerjacke zwischen den Wendekreisen!‹

Da saßen wir denn und pokulierten und schmokten, daß einer den andern nicht mehr sah, aber so gegen Mitternacht meinte der alte Wassermolch plötzlich ganz ruhig: ›So, und morgen früh fahren wir mit dem Taucherschiff raus und John Dolland sieht nach der gesunkenen 'Isabella'. Sie liegt bei dreißig Faden30 Faden = 55 Meter. tief, und wenn John Dolland nicht heruntergeht, ein anderer kann's schon gar nicht; höchstens 97 Nils Nilsen, aber der fühlt sich seit Tagen nicht so recht wohl, sein Magen, sagt er, muß kalfatertKalfatern nennen die Seeleute das Dichtmachen eines Fahrzeuges durch Werg und Pech. werden.'

›Dreißig Faden‹, sagte ich, ›das ist ein hübsches Ende. Da kann einem die Puste bei wegbleiben. Da hab ich aber auch kein Quentchen Lust zu! Was ist es denn mit diesem Kasten von 'Isabella'? Hatte er Goldbarren geladen?‹

›Jung‹, antwortete die alte Wasserratte, ›hast du je erlebt, daß der alte Cook einem ehrlichen Christenmenschen ein Stück schwierige Arbeit andreht, wenn nicht auch eine anständige Seemannsmütze voll Zechinen dabei zu verdienen ist? Aber es kömmt noch was anderes bei in Betracht, und eine Extrabelohnung von der portugiesischen Regierung!‹

›DunnerhageI, Oll Cook, dat ist ja eine ganze Handvoll!‹

›Tja, dat is es auch. Und nun seid man still und hört genau zu, wie die Sache liegt. Also die 'Isabella' kam von Lissabon, und an Bord war ein ganz hohes Tier von der Regierung, ein Gesandter oder so was, und 98 er hatte wichtige Papiere bei sich, an den Gouverneur dieser Insel. Auch Waffen und Pulver für die Hafenkanonen waren an Bord. Es muß irgendein Unglück damit geschehen sein, eine Explosion, denn sonst hätte das gute Schiff in der ruhigen und windstillen Nacht nicht plötzlich und schnell sinken können. Der Leuchtturmwächter bei Porto Santo hat auch draußen im Meer in der Nacht einen grellen Lichtschein und einen starken Knall wahrgenommen. Das hängt wohl mit dem Unglück zusammen. Die portugiesische Regierung zahlt einen hohen Preis für die Papiere. Ihr Vertreter war heut bei mir und hat mich gebeten, für einen zuverlässigen Taucher zu sorgen, und ich sagte ihm, daß dreißig Faden für einen Christenmenschen mit einem gewöhnlichen Herzen und Lungen, die nicht aus Büffelleder sind, zu viel wären. Ich kenne nur einen, der es versuchen könnte, und das ist John Dolland, aus dem der Herrgott eigentlich einen Zugochsen machen wollte und sich im Teig und in den Knochen vergriffen hat!‹

›Einen Schluck zu Ehren Oll Cooks‹, sagten lachend meine Freunde, ›das ist ein wahres Wort!‹

Ich war immer noch im Zweifel, ob ich das schwierige Stück Arbeit übernehmen sollte, aber da rückte der schlaue Fuchs noch mit einer neuen Geschichte heraus.

›Früher, als ich noch ein junger Kerl war, Maate, habe ich manches ähnliche Stück vollführt, und da waren die Taucheranzüge und die Luftpumpen noch nicht so gut wie heut, aber jetzt kann ich das nicht mehr. Indessen, beinahe würde ich es dennoch wagen, denn es befand sich an Bord der 'Isabella' auch noch eine junge Frau, die ihre beiden Kinder von hier nach Spanien herüberholen wollte, in die Heimat. Ihr Gatte, ein Offizier, bei dem die Kinder hier lebten, starb vor kurzem. Nun ist auch sie mit dem Schiff zugrunde gegangen, und die armen Waisen standen den ganzen Tag am Leuchtturm und starrten weinend hinaus auf die See, die ihnen die Mutter nahm. Wahrscheinlich hat die Frau ihr Barvermögen bei sich. Auch das könnte man retten, und es wäre eine gute Tat, denn welcher Seemann hülfe Kindern nicht, die das nasse Element so schwer geschlagen!‹

›Oll Cook‹, sagte ich, ›Ihr sprecht wie ein Advokat und würdet eine verlorene Seele aus dem Fegefeuer herausreden. Also gut! Die Kinder sollen sehen, daß ein Seemann noch mehr kann als Grog und Portwein trinken. So will ich also hinunter zur 'Isabella', aber nur unter einer 99 Bedingung, nämlich, daß Ihr selbst auf dem Taucherschiff alle Arbeiten leitet, denn wenn nicht alles bis aufs I-Tüpfelchen seine Ordnung hat, riskiert man Kopf und Kragen bei dem Geschäft!‹

›Selbstverständlich, Maat!‹ rief der Alte freudig und hieb mir mit seiner noch immer eisenfesten Pranke kräftig auf die Schulter. ›Und nun, Jungens, schnell noch ein paar Augen voll Schlaf, denn morgen früh bei Sonnenaufgang geht's hinaus auf die See.‹

Da trollten wir denn von dannen. Draußen war es dunkel und etwas neblig, aber die Kupfernase des alten Cook leuchtete wie eine Backbordlaterne durch die Finsternis.«

Doktor Ulebuhle unterbrach hier seine Erzählung, um sich eine frische Pfeife zu stopfen, und die alte Christine brachte Tee für uns Kinder und einen guten Abendtrunk für ihren Herrn.

»So ein Taucher hat ein gefahrvolles Handwerk, Kinder«, hub der Alte wieder an. »Es ist keine Kleinigkeit, auf den Boden des Meeres hinabzusteigen, und das ist überhaupt nur für eine ganz geringe Tiefe möglich, so etwa bis auf rund sechzig bis siebzig Meter. Damals, als John Dolland tauchte, war das noch ein großes Wagnis, und man begreift, daß er keine Lust verspürte, das dreißig Faden, also fünfundfünfzig Meter tief liegende Schiff aufzusuchen.

Was aber ist es, das die Arbeit unter Wasser so schwierig macht? Nun, es ist der Druck der Wassermassen auf den menschlichen Körper! Seht, wir alle leben ja eigentlich auf dem Grunde eines Meeres, nämlich des Luftmeeres, und da die Luft viele Kilometer hoch emporreicht, so drückt sie auch auf uns. Wir könnten uns viel leichter bewegen, wenn der Raum um uns luftleer wäre, wie es auf dem Monde der Fall ist.

Das Wasser aber ist fast achthundertmal schwerer als die Luft, was ihr ja alle merkt, wenn ihr mit dem leeren Eimer, in dem nur Luft ist, nach dem Brunnen geht und mit dem gefüllten Eimer zurückkommt. Steigt der Taucher nun ins Meer hinab, so drückt die Wassermasse mit immer größerer Wucht auf ihn, je tiefer er geht. Dieser Druck aber wirkt auf unseren Körper, der eben nicht für das Meer, sondern für die Erdoberfläche gebaut ist, schädlich ein. Herz und Lungen werden in ihrer Tätigkeit sehr gestört. Bei alten Tauchern findet man zudem häufig Blindheit, fast immer aber Taubheit und allerlei Herzkrankheiten.

Läßt man eine leere Blechbüchse tief hinab auf den Meeresgrund und zieht sie dann wieder herauf, so ist sie zusammengedrückt, und 100 eine Kugel aus Kork wird fast so flach wie ein Taler. Aber das ist freilich erst in mehreren tausend Meter Tiefe möglich. Ja, ihr Buben, so tief ist das Meer. An manchen Stellen, bei den japanischen Inseln, ist es neuntausend Meter tief, und wenn man da den höchsten Berg der Erde hineinstellen würde, der in Asien liegt und Gaurisankar heißt, dann guckte er nicht einmal mehr mit der Nasenspitze heraus, denn er ist nur achttausendachthundertvierzig Meter hoch.

Nun denkt einmal an, daß die Taucher noch nicht einmal hundert Meter tief hinuntersteigen können. Wie wenige Schiffe, die gesunken sind, liegen in so flachem Wasser! Auf ewig bleiben also die versunkenen Menschen und Schätze in diesen Tiefen unseren Augen verborgen. Sie liegen in der grausigen Finsternis da unten, wo ewiges Schweigen herrscht, denn weder das Sonnenlicht noch der Wellenschlag dringt hinab auf den Grund des Ozeans.

Aber nun will ich weiter berichten, was John Dolland erzählte!

›Am andern Morgen, bei Sonnenaufgang‹, so sagte er, ›waren wir alle auf dem Taucherschiff versammelt. Der alte Cook, mein Kamerad Nils Nilsen, der Beamte der portugiesischen Regierung, der sogar ein Bild von dem ertrunkenen Gesandten mitgebracht hatte, und alle Leute, die dienstlich bei der Taucherarbeit zu tun hatten. Als wir eben nach Porto Santo hinausfahren wollten, kam noch eine fromme Schwester mit den beiden Kindern, deren Mutter mit der 'Isabella' in die Tiefe ging, denn da nirgendwo ein Rettungsboot angekommen war, mußte man annehmen, daß das Unglück nächtlicherweile und urplötzlich erfolgt sei und niemand ihm entgangen war.

›Hier, ihr Kinder‹, rief der alte Cook, ›seht ihr den Mann, der hinabsteigen will zu eurer ertrunkenen Mutter! Er wird euch mit herauf bringen, was sie an Gütern bei sich trug. Wünscht ihm Glück und Gottes Schutz. Er ist ein tapferer Mann, und hauptsächlich, um euch zu nützen, wird er tauchen!‹

Die weinenden Kleinen flüsterten kaum hörbar ihre Bitten. Die fromme Schwester schlug ein Kreuz und betete für gutes Gelingen, und dann gingen wir unter Segel und verließen die Bucht von Funchal.

Wir wendeten nach Norden. Noch war es frisch; ein leichter Dunst lag auf dem Wasser, aus dem in der Ferne da und dort, wie weiße Schmetterlinge, ein paar Segler auftauchten. Ein schwacher Wind nur strich über das fast glatte Meer; zum Tauchen ein vortreffliches Wetter. 101

Bei Porto Santo kam der Leuchtturmwächter zu uns an Bord, um die Stelle zu zeigen, bei der etwa die 'Isabella' gesunken sein mußte. Bald hatten wir diese dem Lande nahe Gegend erreicht. Wir ließen einen Anker bis fast zum Meeresgrunde hinab und fuhren nun ganz langsam kreuz und quer, bis nach etwa einstündigem Suchen der Anker faßte. Wir zogen ihn empor und umfuhren das Hindernis von allen Seiten, immer wieder mit dem Anker seine Lage prüfend. Kein Zweifel, hier lag ein gesunkenes Schiff. Einmal saß der Anker fest, und als wir ihn losrissen und emporwanden, hing Takelwerk zwischen seinen Klauen. So hatten wir also die 'Isabella' aufgefunden, schneller, als wir erwartet hatten. Das Taucherschiff wurde nun mit mehreren Ankern festgelegt, und jetzt begannen die Vorbereitungen, die Oll Cook, der erprobte Tauchermeister, mit gewissenhafter Sorgfalt leitete.

Wir Taucher da drunten auf dem Meeresgrund sind ja mit Leib und Leben abhängig von der Luft, die uns von oben her durch den Schlauch zugepumpt wird. Geht der Schlauch entzwei oder die Luftpumpe, dann ist es mit der Herrlichkeit vorbei, wenn man nicht selber schnell nach oben kommt, was nicht immer möglich ist. Aber gottlob passiert es selten, daß die Apparate versagen. Die Druckpumpe, die mir die Luft zuführen sollte, wurde genau untersucht, zuverlässige Leute zu ihrer Bedienung wurden ausgewählt, und dann zog ich mir in aller Ruhe meinen Taucheranzug an, von Oll Cook unterstützt. Der Anzug war fast neu und vollkommen wasserdicht. Gummimanschetten schlossen ihn an den Hand- und Fußgelenken ab. Dann zog man mir die schweren Taucherstiefel an, mit den dicken Bleisohlen, die dafür sorgen, daß man im Wasser einen festen Stand hat und nicht umkippt wie ein leichtes Holzmännchen. Endlich kam die runde Kupferkugel des Helmes an die Reihe, die den Kopf umschließt. Sie wurde am kupfernen Halsring des Taucheranzuges festgeschraubt. Ein Gummistreifen schützte auch hier gegen das Eindringen des Wassers. Nun den Gürtel um, mit dem Dolchmesser, das gegen Haifische und andere gefährliche Burschen schützen kann, und wir sind so weit.

Oll Cook schraubte bereits den Luftschlauch, der von der Luftpumpe kommt, an meinem Helm fest, und Nielsen hatte schon das Verschlußstück des Helmes, mit dem dicken Glasfenster, in der Hand, um mich ganz von der Außenwelt abzuschließen, aber ich nahm noch einmal schnell meine geliebte alte Tabakspfeife, um einige Züge zu 102 tun. ›Nils‹, sagte ich, ›alter Bursche, man kann nie wissen, was der Teufel mit einem vorhat und ob man noch einmal einen Gipskopf voll Kanaster in die Luft paffen kann, und darum soll man's beizeiten tun!‹

›Richtig‹, sagte der alte Cook. ›Das habe ich auch immer so gehalten, Maate. Und noch eins, mein Junge! Für die Schiffskasse und die Schiffspapiere bekommen wir einen ganz hübschen Batzen extra, der für jeden mindestens ein Stückfaß vom besten Rum und eine Klafterkiste voll Holländer Tabak ausmacht! Sieh zu, daß du den Krempel heraufbringst.‹

Da trat auch der Portugiese heran, der bisher neugierig zugeschaut hatte, wie ich in meinen Wasseranzug schlüpfte. Er hatte ein viereckiges Glasstück, mit einer seidenen Schnur daran, in das eine Auge geklemmt und trug einen hohen Zylinderhut, der uns Teerjacken ringsum sehr komisch vorkam. ›Seht noch einmal das Bild des Señor Cabrella an, Meister Dolland. Tausend Peseten in Gold zahlt meine Regierung für die Papiere, die er bei sich trug. Geht ans Werk, und die Heilige Jungfrau sei mit Euch!‹

Ich nickte und versprach, zu tun, was sich ermöglichen ließ. Tausend Peseten – hörte ich Oll Cook brummen. Und sicher berechnete er im Kopfe, wieviel Stückfässer Rum man dafür kaufen könne, denn sein roter Riechhaken schnupperte verdächtig in der Luft herum.

›Fertig!‹ rief ich.

Man schraubte das Helmfenster zu. Die Männer an der Luftpumpe traten in Tätigkeit, Cook befestigte die Signalleine, mit der der Taucher durch ein- oder mehrmaliges Ziehen von unten sein Zeichen gibt, an meinem Gürtel, und dann schlurfte ich mit meinen schweren Bleischuhen der Strickleiter zu, die über Bord hing.

Das letzte, was ich sah, war der Zylinderhut des Mannes mit dem Glasscherben im Auge, dann war ich unter Wasser, und Kühle drang zu mir. Am Ende der Strickleiter ergriff ich das Seil und zog kräftig daran. Da ließ man mich an ihm langsam und vorsichtig hinab, tiefer und tiefer. – Um mich war die grünliche, klare Flut. Über mir, der dunkle Schatten, war der Boden des Taucherschiffes.

Ganz langsam glitt ich tiefer und tiefer, hin und wieder hing ich mal eine Weile unbeweglich am gleichen Ort, denn es ist von großer Wichtigkeit, daß der Taucher seinem Herzen und seinen Lungen Zeit gibt, sich an den veränderten Wasserdruck zu gewöhnen, ehe er in 103 immer größere Tiefen hinuntertaucht. Das Wasser war von gläserner Durchsichtigkeit, und weithin konnte ich kleine, zierliche Fischchen blinken sehen. Unter mir gewahrte ich nach einiger Zeit auf gelblichem Grunde undeutlich eine verschwommene dunkle Masse; offenbar war es das gesunkene Schiff, doch war ich noch nicht tief genug, um Einzelheiten zu erkennen.

Ich glitt, immer wieder meine Fahrt unterbrechend, tiefer und tiefer hinab, und langsam wurde es dunkler um mich her. Selbst in sehr klarem Wasser ist es in dreißig Meter Tiefe am hellen Mittag schon schummrig, wie droben auf dem festen Lande zur Zeit der Abenddämmerung, und nun gar dreißig Faden oder fünfundfünfzig Meter tief kann man nicht mehr viel sehen, denn so weit dringt das Sonnenlicht nur in günstigsten Fällen. Hier aber lag heller Sand am Grunde, und er war bedeckt mit Millionen silbrig schimmernden Muscheln und Muschelsplittern, und so ging es einigermaßen. Außerdem sind wir Taucher an das Arbeiten bei dieser Beleuchtung gewöhnt und sehen, wie die Maulwürfe, fast noch im Dunkeln.

Nicht überall ist der Meeresgrund so günstig. Ich tauchte an Stellen, wo er mit einem zähen Schlamm bedeckt war, in dem man leicht versank. Das war freilich an der englischen Küste, in der Nähe der Einmündung eines großen Flusses, der viel Sand und Schlamm am Grunde ablagert. An anderen Orten wieder sah der Boden wie ein wilder Wald aus, bedeckt mit einem Gewirr von Schlingpflanzen, worin man sich fortwährend verhedderte und alle paar Minuten auf der Nase lag. Dann aber gibt es auch Stellen, da ist es bergig. Es geht auf und ab, Schluchten und Felswände stehen da, oder Korallenriffe steigen aus der finsteren Tiefe auf. Der alte Cook machte seine Sache wirklich vorsichtig! Nach acht Minuten berührte mein Fuß den Grund. Ich gab durch Ziehen an der Leine Nachricht, daß ich drunten angekommen.

Zwanzig Schritt von mir entfernt hob sich vom Grunde die dunkle Masse der 'Isabella' ab. Sie lag schräg gegen eine Sandwelle, ihre Masten ragten gespenstisch auswärts, und Segel und Tauwerk hingen in abenteuerlichen Formen hernieder. – Unten bist du nun, alter Knabe, sagte ich zu mir, jetzt nimm dich zusammen, daß du auch wieder gut nach oben kommst. Eile mit Weile. Abrackern darf man sich in solcher Tiefe nicht, sonst ist man in fünf Minuten so erschöpft, daß man schleunigst das Aufzugsignal geben muß, wenn man nicht 104 ein schlimmes Ende nehmen will. Langsam und bedächtig kletterte ich an über Bord hängendem Tauwerk hinauf an Deck. An zwei Stellen sah ich Seeleute liegen, aber ich hielt mich nicht auf, denn zu helfen war den armen Teufeln ja nicht mehr, und hier unten sind die Minuten kostbar. Eine Viertelstunde konnte ich es wohl aushalten, aber was sollte in dieser Zeit alles geschehen!

Hier oben war weder etwas vom Kapitän noch von dem Gesandten noch von der Mutter jener Waisen zu sehen. Sicher befanden sie sich unter Deck. Vorsichtig, immer meinen Luftschlauch und meine Signalleine vor Verwicklungen mit dem Segelwerk schützend, wandte ich mich zu der Treppe, die hinabführt zum Schiffsinnern, zu den Kajüten. Aber da war nicht durchzukommen. Die 'Isabella' war ein alter, unmoderner Kasten. Die Tür am Ende der Treppe war durch einige Fässer und Balken, die sich vor die Tür gelegt hatten, gesperrt. Bald entdeckte ich aber einen zweiten Eingang, eine einfache Öffnung, die mit einer 105 Falltür zu verschließen war. Eine steile Stiege führte hinunter, und ich kroch vorsichtig hinein.

Es war stockdunkel da unten. Ganz allmählich gewöhnte sich mein Auge an das schwache Licht, das durch die mit dicken Glasplatten bedeckten Bullaugen, die Oberlichtfenster und Seitenfenster hineindrang. Gleich am Ende des schmalen Ganges lag die Kajüte des Kapitäns. Er selbst war nirgends zu sehen. Aber der eiserne Kasten unter dem Kartentisch enthielt sicher Schiffspapiere und Schiffskasse. Ich beschloß, erst einmal dieses eiserne Ungetüm nach oben zu bringen. Droben auf dem festen Lande hätten zwei starke Männer ihre ganze Kraft nötig gehabt, das schwere Ding zu bewegen, aber unter Wasser sind alle Gegenstände viel leichter. Es ist, als ob das Wasser den eingedrungenen Fremdling wieder nach oben drücken will, und dieser Druck bewirkt, daß wir ihn weitaus leichter halten und emporheben können. – So schleifte ich denn den großen Kasten bis zur Luke und bugsierte ihn die steile Stiege hinauf. Endlich stand er oben, und ich gab das Signal, ein Seil herabzulassen. Nach einer Minute schwebte es, mit Eisenstücken beschwert, nahe bei mir. Die Kiste wurde befestigt, ein Zug am Tau, und langsam wurde die kostbare Last von den Kameraden droben emporgewunden. Sie entschwand meinen Augen im grünlichen Schimmer über mir. 106

Ich hatte mich inzwischen derart an das geringe Licht gewöhnt, daß ich deutlich das Leben des Meeres um mich her wahrnahm. In allerlei wunderlichen Formen schwammen seltsame Geschöpfe an mir vorüber. Manche standen wie lauschend still zwischen dem Takelwerk des gesunkenen Schiffes. Da zog lautlos ein Pelikan-Weitmaul heran, ein mißgestalteter Geselle, wohl einen halben Meter lang und nicht unähnlich einem großen Schöpflöffel, denn der ganze Bursche besteht fast nur aus einem Riesenmaul. Er war schwarz wie eine Katze und blickte blöde meinen kupfernen Helm an, bis er, sicherlich verwundert über das seltsame Wesen, das er hier traf, langsam in der Ferne verschwand. Liebliche, in allen Farben schillernde Seerosen und Medusen kamen angeschwommen, fast durchsichtig war ihr zarter Leib, und mit ihren zarten Armen flatterten sie hin und her, griffen nach unsichtbaren Dingen. Wie Spielzeuge aus Glas waren sie anzuschauen, bunt und zerbrechlich. Riesige Seesterne, mit fünf langen Armen, glitten lautlos vorüber, gräßliche Tiefseekrebse mit starren Stielaugen, mit einem Gewirr von Beinen, Hörnchen, Fühlern folgten ihnen. Eine Seespinne stelzte unbeholfen auf hohen Beinen neben mir vorüber, ein Schwarm kleiner, silbern blinkender Fischlein spielte um mich her, wie Mücken um die Weide am Bach. Und wieder ein gräulicher Bursche! Ein Melancetus, ein Schlammbewohner, wie ein unförmiger Beutel anzuschauen. Vorn am Kopf trug er einen langen, dünnen Fühler, wie der Zirkusclown eine Pfauenfeder balanciert. Das riesige Maul war angefüllt mit spitzen Zähnen. Er jagte einer Schar winziger Krebschen nach, die vor dem gefräßigen Beutel, der sie schlucken wollte, zu entkommen suchten. Auch leuchtende Tiefseebewohner, die in mattem, gelbgrünem Licht schimmerten wie alte Phosphorzündhölzer, sah man dann und wann. Es kribbelte und krabbelte um mich herum in seltsam abenteuerlichen Formen und Farben. Zerrbilder der Natur glitten vorüber und wundervolle Gebilde, die wie bunte Blumen anzuschauen waren.

Aber einen Augenblick nur wandte ich meine Aufmerksamkeit auf das Schauspiel, meine Zeit war knapp. Ich stieg wieder zur Luke hinein, glitt aber plötzlich auf der steilen Hühnerleiter aus und riß ein wenig an dem Seil. Da gab es plötzlich über mir einen dumpfen Ton, es wurde noch etwas dunkler, und erschreckt nach oben blickend sehe ich, wie die Falltür zugeschlagen ist. – Mein Herz pocht gewaltig, eine Hitzewelle und ein Kältestrom schießt durch meinen Körper, 107 jeden Augenblick glaube ich, daß die Luftzufuhr unterbrochen wird, denn offenbar hat die zugefallene Klappe den Schlauch zugeklemmt. Ich haste die Treppe wieder hinauf, stemme mich mit aller Kraft gegen die Klappe, immer und immer wieder, aber sie wankt nicht. Es ist, als säße der Teufel oben drauf. Indessen, nach wie vor funktioniert die Luftzufuhr. Wie ich näher hinschaue, sehe ich, daß ein eiserner Riegel das vollkommene Zuschlagen der Falltür verhindert hat. Es ist noch eine daumdicke Spalte offen, und so ist der Luftschlauch vor dem Zusammendrücken bewahrt geblieben. Wäre es anders, ich müßte elend ersticken, aber so lebe ich in meinem unterseeischen Gefängnis und kann auf Rettung hoffen. Freilich, die Signalleine sitzt fest. Sie muß bei meinem Ausgleiten die Tür niedergerissen haben. Zeichen nach oben kann ich nun nicht mehr geben und bin ganz abhängig von der Aufmerksamkeit der Kameraden droben. Eine verteufelte und sehr ungemütliche Geschichte, denn lange kann ich es nicht mehr aushalten unter Wasser. Ein Pochen in den Schläfen, ein Summen im Ohr zeigt bereits an, daß der Körper dem Wasserdruck nicht gewachsen ist.« – – –

»Kinder«, sagte der alte Ulebuhle, »in Erinnerung an diese gefahrvolle Lage fand es der Taucher für nötig, sich ein neues Glas Grog zu mischen. Er machte ihn sehr nördlich, will sagen mit wenig Zucker und Wasser und viel Rum. Ich aber war damals noch ein kleiner Tunichtgut wie jetzt ihr und saß dabei und sperrte vor Erwartung den Mund so weit auf wie der Hannes da drüben, der aussieht, als wollte er sich die Ohren abbeißen. Der Taucher stopfte umständlich eine frische Pfeife und hätte, in Gedanken versunken, beinahe in die Stube gespuckt, besann sich aber noch rechtzeitig, daß er nicht an Bord war, und erzählte weiter:

›Manches Gefährliche habe ich vorher erlebt und auch manches nachher, aber das war doch der bitterste Augenblick meines Lebens. Ich starrte lange den Eisenriegel an, meinen Lebensretter, und beschloß, ihn – wenn ich wieder herauskommen sollte aus der üblen Lage – abzuschlagen und mitzunehmen. Es konnte lange dauern, bis die Leute oben merkten, daß etwas nicht in Ordnung war, und schließlich war es fraglich, ob Nils Nielsen, der einzige, der es wagen durfte, so tief zu tauchen, mich befreien konnte. Allerlei traurige Bilder stiegen vor meiner Phantasie auf. Ich erinnerte mich verschiedener Kollegen, 108 die elend durch ähnliche Begebenheiten umgekommen waren. Da hatte sich der eine mit dem Kopf in eine Tauschlinge verwickelt, und als seine Kameraden ihn hochzogen, schnürten sie ihm die Luft ab, so daß er erstickte. Viel später erst merkte man oben, daß der Mann da drunten offenbar nicht mehr am Leben war, und ein zweiter Taucher brachte ihn tot nach oben.

Indessen, langsam fand ich mich in meine Lage. Wie Gott will, sagte ich mir. Und um die Zeit wenigstens nützlich auszufüllen, ging ich wieder an die Arbeit. Ich schnitt das Signalseil, das mich an der Falltür festband, durch und eilte in die Kajüten. In der dritten bereits fand ich die Mutter, die ihre Kinder zu sich holen wollte. Angekleidet lag sie, von den hereinbrechenden Wassern überrascht, an der Tür, eine Tasche, offenbar mit ihren wichtigsten Habseligkeiten, fest an sich drückend. Auch im Tode noch war ihr Gesicht freundlich, aber ein Zug von unendlicher Traurigkeit lag darauf, die Trauer um ihre Kinder. Auf dem Tisch fand ich ein Tagebuch. Reiseeindrücke und Betrachtungen über ihre Kinder hatte die Mutter da niedergeschrieben. Auf der letzten, aufgeschlagenen Seite aber stand, wenige Stunden vor ihrem Tode, angesichts des nahen Landes niedergeschrieben, ein kleines Gedicht:

Verglüht ist nun im Westen der Sonne letztes Gold,
Horch, wie an ferner Küste der Schlag der Wogen grollt!
Es schmiegt sich in die Segel ein warmer, sanfter Süd,
Und stiller Abendfrieden hin durch den Dämmer zieht.

Wenn nun der junge Morgen vergoldet unsren Kiel,
Vor uns im Schmuck der Wälder liegt unsrer Sehnsucht Ziel;
Laßt flattern dann im Winde der Segel blankes Weiß,
Der Anker falle nieder, dem Herrn sei Lob und Preis!

Es wurde mir beim Anblick der Zeilen weh ums Herz, und meine eigene trübe Lage kam mir doppelt zum Bewußtsein. Die Mutter hatte den so nahen Hafen nicht erreicht. Wer wußte, ob auch ich ihn wiedersehen würde!

Plötzlich wurde ich aufgeschreckt! Was war das?! Laute Glockenschläge tönten an mein Ohr, und dann schnarrte etwas, und dröhnende Musik erfüllte den Raum. Ich war so entsetzt, daß ich alles um mich her vergaß und wie besessen hinausstürzte in den Gang, der Treppe zu. Allmählich kam ich wieder zum Bewußtsein. Eine lustige Tanzweise schallte noch immer laut zu mir herüber. Plötzlich schnarrte es wieder, 109 und die Totenstille im versunkenen Schiff, die dem Lärm folgte, war nicht minder unheimlich. Ich lief zurück. Alter Junge, sagte ich mir, alles in der Welt geht natürlich zu. Es lebt hier außer dir niemand mehr, und ein Geisterkonzert kann es nicht gewesen sein. Ich blickte mich in der Damenkajüte um und entdeckte schnell über der Tür den Grund meines Schreckens. Da hing eine große Spieluhr, die noch ging und alle Stunden ein Stücklein zum besten gab. Nun muß man wissen, daß das Wasser den Schall vielmals kräftiger und besser weiterleitet als die Luft. Da das ganze Schiff mit Wasser angefüllt war, so war die Schallwirkung inmitten der lautlosen Stille derart gewaltig, um so mehr, als kein Mensch hier Musik erwarten konnte, daß mich vor Schreck fast der Schlag getroffen hätte. Heute lache ich über die verrückte Geschichte, aber damals dachte ich, die Hölle wäre hinter mir her! Als ich mich wieder etwas gesammelt hatte, ergriff ich das Tagebuch der Ertrunkenen, nahm ihre Reisetasche an mich und begab mich zur Treppe zurück, denn mir war fürchterlich elend zumute. Ich spürte es deutlich, meine Zeit hier unten war abgelaufen. Mein Schädel brummte wie eine Baßgeige, Blut sickerte mir aus der Nase, die Glieder wurden schwer. Ich ließ mich auf der Stiege nieder, nahe daran, ohnmächtig zu werden. Alles um mich herum erschien in verschwimmendem, grünlichem Licht, es wallte und wogte wie ein Meer von wogenden grünen Halmen und Büscheln, und dazu summte eine sonderbare, klagende Melodie eintönig an mein Ohr. Es war nichts weiter als die verbrauchte Luft, die in Bläschen zischend am Ablaßhahn meines Kupferhelmes austrat, aber mein Denken war so verwirrt, daß ich das alles nicht mehr richtig auseinanderzuhalten wußte.

Plötzlich war es mir, als erwache ich aus einem bleiernen Schlaf. Es pochte in dumpfen Schlägen über mir, und dann gab es einen ohrenbetäubenden Lärm, ein Krachen, als stürze ein Haus ein. Erst später begriff ich, was es war. Nils Nielsen war zu meiner Hilfe heruntergekommen. Er sah Luftschlauch und Signalleine in der Luke enden, sah die zugefallene schwere Klappe, über die sich beim Fallen noch ein schweres Eisenstück geschoben hatte, und begriff nun, weshalb ich gar keine Zeichen mehr nach oben gegeben hatte. Mit Mühe wälzte er die Hindernisse beiseite, warf im Wege liegendes Gerümpel fort, steckte eine Brechstange durch die Luke und vermochte sie so endlich zu öffnen. All diese Geräusche, durch die große Schallstärke unter 110 Wasser hundertfach gesteigert, waren mir in halber Ohnmacht wie wildes Krachen erschienen.

Der gute Kamerad zog mich empor, befestigte das Aufzugtau an meinem Gürtel und gab das Signal, mich emporzuwinden. Die Tasche mit dem Eigentum der Kinder hielt ich mit starren Händen fest, als wollte sie mir jemand entreißen. Ich tat es unbewußt, aber es war in meinem müden Hirn wohl noch dieser letzte Gedanke, daß ich sie auf alle Fälle den Kindern bewahren müßte. – So wurde ich langsam, ganz langsam höhergezogen, im Wasser auf dem Rücken treibend wie ein gefühlloser Sack.

Diese Langsamkeit des Emporwindens war wieder eine verständige Maßnahme des alten Meisters Cook, denn ebensowenig wie man zu schnell in die Tiefe gehen darf, immer stärkerem Wasserdruck entgegen, darf man das Gebiet des Druckes, auf den sich inzwischen die Organe des Körpers eingestellt haben, schnell verlassen. So mancher Tiefseetaucher hat solche Unbedachtheit schwer gebüßt! Es treten dann Lähmungen aller Organe ein, ja es dringen Luftbläschen in Herz und Adern ein und führen den Tod herbei.

Endlich aber war ich doch oben, man zog mich über Bord, schraubte den Helm ab, legte mich lang in der Sonne auf die Planken des Schiffes, und schnell wie die Schwäche über mich gekommen, verschwand sie wieder. Da schien die liebe Sonne wieder, ein warmer Wind strich daher, köstliche, reine Luft strömte in die Lungen, und Seevögel umschwirrten kreischend das Schiff. Neben mir hockte Oll Cook, und der Mann mit dem Zylinderhut und der Fensterscheibe vor dem Auge stand dabei und schien darüber nachzudenken, daß das Tauchen im Meer doch keine ganz einfache Sache sein müsse.

›Jung!‹ schrie Oll Cook und spuckte kunstvoll eine halbe Handvoll Kautabak über das Ankerspill hinweg. ›Wat in aller drei Deibel Namen machst du für verzwickte Geschichten? Dachten wir doch alle, der Haifisch habe John Dolland zum zweiten Frühstück auf der Speisekarte gehabt!‹

›Habt Ihr die Papiere, Meister?‹ fragte zögernd der Portugiese.

Ich schüttelte den Kopf und erzählte dann in kurzen Worten, was sich zugetragen. Die Schiffskasse war oben, die Habseligkeiten der Mutter waren gerettet, nur die vertrackten Papiere waren noch drunten. Da ließ der alte Tauchermeister schleunigst eine Schiefertafel 111 hinab zum Grund, auf der die Worte standen: ›Nielsen, sucht die Papiere des Portugiesen.‹

Ein Zug an der Signalleine von unten gab Kunde, daß der Kamerad, der jetzt in dem versunkenen Kasten umherstöberte, die Weisung richtig empfangen.

Ich hockte noch immer in meinem Taucherkleide am Boden und ließ mich von der Sonne bescheinen. Ja schon hatte ich wieder Appetit auf meine Tabakspfeife.

›Es war ein schweres Stück Arbeit, Jung‹, sagte der Alte, ›und Ihr habt es zum größten Teil geleistet. Wäre die verdammte Klappe nicht zugefallen, sicher wären die Papiere jetzt in unseren Händen, aber der Deibel hält seine Krallen drauf, wie es scheint, und wenn der Eisenriegel nicht gewesen wäre, so wäret Ihr ein toter Mann und rauchtet jetzt Eure Gipspfeife droben bei den Engeln, kalkulier ich. Der alte Cook aber könnte gar nicht genug Rum auftreiben, um auf Eure ewige Seligkeit zu trinken.‹ So schwatzte Oll Cook noch eine Weile in seiner lustigen Art, ich aber fing an, ein wenig einzunicken bei dem dumpfen, eintönigen Geräusch der Luftpumpe, die unserem Nils Nielsen den Lebensodem auf dem Meeresgrunde in Gang erhielt.

Ich mochte etwa ein Viertelstündchen geträumt haben, als ich durch hastiges Laufen und erregte Stimmen aufgeweckt wurde. Ich hörte die Stimme des Tauchermeisters. ›Der vermaledeite Dreideibel muß heut sein Spiel haben‹, schrie er, ›ich wundere mich schon lange, daß Nielsen es da unten so tapfer aushält, aber da er gar keine Signale gibt, zieh ich endlich selbst dreimal am Seil, und nichts antwortet. Ich zieh noch einmal und noch einmal, doch kein Antwortzeichen kommt. Es muß Nielsen nicht gut gehen in dem vertrackten Kasten da unten, Maate! Ist es zu glauben, die beiden besten Taucher zwischen den Wendekreisen holt der Geier bei dieser Geschichte. Aber der alte Cook läßt seine Jungens nicht stecken, er wird seine alten Knochen selbst noch einmal in den Wasserfrack stecken, und wenn er dabei das Atmen vergißt. Reicht mir schleunigst den dritten und letzten Taucheranzug, Maate, schnell, schnell, sonst hat es keinen Zweck mehr!‹

Aber schon sprang ich empor. ›Cook‹, sagte ich, ›laßt den Unfug sein. Ihr seid ein altes Uhrwerk, und Eure Räder stehen still, ehe Ihr noch halb unten seid. Muß noch einer hinunter, so bin ich der Mann, denn Nils Nielsen sprang mir bei, und so ist es Seemannspflicht, ihm 112 Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Nur gut, daß ich das Gelump noch am Leibe habe. Den Helm her, und in einer Minute bin ich im Wasser.‹

Die anderen stimmten mir bei. Oll Cook gefährde nur zwecklos sein Leben. Es sei sein sicherer Tod, und wenn John Dolland fühle, daß er wieder bei Kräften sei, so mag er's wohl ein zweites Mal, auf einige Minuten nur, wagen. – Schon brachte man mir den Helm, ich nahm all meine Energie zusammen. Zwei Minuten später war ich bereits im Wasser und glitt, noch langsamer als das erste Mal, in die Tiefe. Ich kam gut unten an, stieg an Bord, kletterte durch die Luke und fand Nils Nielsen zusammengesunken in einer Ecke des Ganges zu den Kabinen. Ich schüttelte ihn, er rührte sich nicht. Ob er ohnmächtig sei oder gar bereits ein toter Mann, konnte ich nicht erkennen. Mit großer Anstrengung schleppte ich ihn nach oben, ließ ihn emporziehen, wie er es mit mir vor kaum einer halben Stunde getan, denn nur droben in der frischen Luft konnte ihm Hilfe werden, wenn dem alten Kameraden solche noch nützen mochte. Sollte Nils Nielsen, der herabgestiegen war, um mir beizustehen, wirklich sein Leben verloren haben? Der Gedanke ließ mich nicht los und stimmte mich natürlich so traurig, daß ich kaum fähig war, noch das letzte Werk hier unten zu tun. Dennoch durchschritt ich eilig die Kajüten, denn ich gedachte nicht länger als zehn Minuten auf Grund zu verweilen, selbst wenn ich die Staatspapiere der Herren in Lissabon nicht nach oben bringen konnte. Und ich fand jenen Señor Cabrella in der Tat in der vornehmsten Kabine. Er lag zwischen Sessel und Stühlen, alles war umgestürzt in dem wilden Wirrwarr, da der Mann in der Dunkelheit von den hereinbrechenden Wassermassen aus dem Schlaf gerissen wurde. Ich erkannte ihn nach dem Bilde, das man mir gezeigt. Auch trug er einen Ordensstern auf der Brust. – Nach längerem Suchen fand ich endlich eine dicke, versiegelte, schweinslederne Tasche in seinen Kleidern, die wohl jene Papiere enthielt. In der Tat hat man sie dann darin gefunden.

Ich hielt mich keine Minute länger auf, denn schon brauste es wieder in meinen Ohren. Ich stieg zur Luke hinaus, ergriff ein schweres Eisenstück, schlug damit den Riegel an der Falltür, der mir das Leben gerettet, los und gab das Aufstiegsignal. – Langsam schwebte ich höher und höher, bis mein blanker Kupferhelm im Sonnenlicht der Meeresoberfläche glänzte.

Ich kletterte an Bord, man befreite mich von meiner Kleidung. Da 113 lag der arme Nielsen als ein toter Mann in der Morgensonne auf den nassen Planken, von den Kameraden umgeben, die sich vergeblich abgemüht hatten, ihn wieder zum Leben zu erwecken. Ein Herzschlag hatte ihn im dunklen Kajütengang des gesunkenen Seglers schnell und schmerzlos von allen Sorgen und Freuden der Zeitlichkeit befreit.

Was war zu tun! Der Seemann sieht den Tod oft an sich vorbeischreiten, und trifft seine Sense einen Kameraden, so zieht er seinen Ölhut, betet für das Seelenheil des Entschlafenen und gedenkt seiner noch lange, wenn er bei seiner Pfeife Tabak und seinem Grog von Wind und Wellen spricht und von alten Freunden, mit denen er so manches Mal gewirkt und fröhlich gezecht.

Das Meer ist grausam. Einmal fallen wir ihm alle zum Opfer, wenn wir nicht beizeiten unsere Gebeine auf dem Lande verstauen. Wir alle trauerten ehrlich um unseren Freund. Reiche Belohnung ward uns allen zuteil, und ich verwendete ein hübsches Sümmchen, um Nils Nielsen einen würdigen Grabstein zu setzen. Auf dem Friedhof zu Funchal, wo hohe Zypressen zum Wellenschlag des Meeres rauschen und die weißen Grabsteine weithin in der blendenden Sonne leuchten, schläft Nils Nielsen den langen Schlaf. Jene beiden Kinder, denen ich 114 damals ihr Erbe aus dem gesunkenen Schiff heraufholte und die noch einen guten Teil meiner Belohnung durch die portugiesische Regierung abbekamen, sind inzwischen große und verständige Menschen geworden. Noch heute schmücken sie am Jahrestage des Unterganges der 'Isabella' das Grab des Tauchers, und auch mir haben sie ein treues Andenken bewahrt. Dann und wann kommt von da unten, wo die Sonne heißer ist und der Wein feuriger, eine Kiste herüber in die kalte, neblige Seestadt da oben an der deutschen Küste, wo ich nun hause, und allemal ist sie gefüllt mit einem Wein, der des alten John Dolland Herz wieder erwärmt. Dann fülle ich zwei Gläser, rücke zwei Sessel an den Tisch in meiner kleinen Stube und trinke und plaudere mit dem alten Nielsen, als ob er mir gegenüber säße!‹

Damit schloß der Taucher seine Erzählung, und mein Vater stieß mit ihm an, und sie sprachen noch lange von Jugendtagen. Der eiserne Riegel aber blieb in unserem Hause. Nun habt ihr seine Geschichte gehört und wißt, warum ihn der alte Ulebuhle in seinem Raritätenkasten aufbewahrt. Menschenschicksale hängen daran. Ja, so ist es zuweilen mit den toten Dingen. Sie greifen ein in das Leben der Menschen, bringen Glück und Unglück, wie dieses rostige Eisenstück, für das der Lumpenmatz keinen Dreier zahlen würde!« 115



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