Laurids Bruun
Van Zantens glückliche Zeit
Laurids Bruun

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Achtzehntes Kapitel

Beim Wirbelsturm

Es war zu Beginn des Herbst-Monsumwechsels. Um dem treuen Toko eine Freude zu machen, hatte ich ihm versprochen, mit ihm zu fischen.

Eines morgens, noch vor Sonnenaufgang, klopfte er an meine Giebeltür.

»Es ist Windstille!« rief er. »Es ist ganz still drüben beim Riff. Ich hab' das Kanu in Stand gesetzt. Komm schnell. Es ist Schildkrötenwetter!«

Es war eine von Tokos Ideen, daß er der Luft anmerken konnte, ob es günstiges Wetter für Schildkrötenfang sei. Wenn das der Fall war, war er nicht zu bändigen.

Ali wollte mich zurückhalten. Sie war überhaupt keine Freundin vom Fischen, weil Frauen nicht daran teilnehmen dürfen.Siehe Anm. [20] S. 81. – Anmerkung des Herausgebers. Sie umschlang mich mit ihren Armen und sagte, daß sie einen bösen Traum gehabt habe. Ich aber wollte Toko nicht gern eine Enttäuschung bereiten; und schließlich ließ sie sich beruhigen. Ich mußte ihr versprechen, früh nach Hause zu kommen.

Wir ruderten langsam nach Westen, wo das Riff sich zur Ebbezeit wie eine kleine, flache, langgestreckte Insel aus dem Wasser erhebt.

Toko behauptete steif und fest, daß heute Schildkröten da seien, und kümmerte sich darum nicht weiter um Fische; wir senkten aber doch unsere Bambusreusen ins Wasser und ließen sie, während wir langsame Ruderschläge machten, an einer langen Rotangleine hinterherschleppen.

Das Wetter war herrlich, die Luft blendend klar und das Meer so durchsichtig, wie ich es noch nie gesehen hatte. Wir konnten ganz deutlich die prachtvollen Korallblumen tief unten auf dem Grunde erkennen und die Hunderte von seltsamen Weichtieren, die auf ihnen schmarotzten.

Toko saß vorn im Boot, den Blick unverwandt auf die flache Rifflinie geheftet.

Nachdem wir eine Stunde gerudert hatten, ohne auch nur einen Schildkrötenkopf oder die dunkle Blase eines Rückenschildes, der sich aus dem Meere hebt, zu Gesicht bekommen zu haben, hielt Toko, der der personifizierte Eigensinn war, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, so dicht an das Riff heran, wie der flache Grund es zuließ.

Wir warteten eine Stunde lang, spähten und wagten nicht uns zu rühren.

Da verlor ich die Geduld. Ich meinte, wir sollten die Schildkröten aufgeben und uns nur an die Reusenfischerei halten.

Wir lagen noch eine halbe Stunde und dösten. Das heißt: ich döste, soweit meine unbequeme Stellung es zuließ; Toko aber spähte unverdrossen mit zusammengezogenen Brauen umher. Es war ihm eine Ehrensache geworden, Schildkröten zu finden.

Als die Ebbe am niedrigsten war, sprang Toko auf den Grund. Das Wasser reichte ihm kaum bis an die Knie. Er schlich über die harten Korallenzweige, bis er das schmale Stück des Riffes erreichte, das aus dem Wasser ragte. Hier stand er eine Weile und spähte nach allen Seiten, ging dann noch ein Stück weiter und ließ seine Blicke über das stille, blanke Meer schweifen.

Plötzlich wandte er sich zu mir um und zeigte auf den östlichen Horizont.

Dort hinten lag eine schwere Wolkenwand niedrig und dicht auf dem Wasser. Seltsam scharf abgegrenzt, brütete sie wie ein ungeheuerer Schwimmvogel auf der Meeresfläche.

Ich erhob mich im Boot, um besser zu sehen.

Es war ein Unwetter, das sich näherte.

Ich beobachtete die Wolke scharf, während Toko sich immer mehr entfernte, eifriger noch als vorher, weil er einsah, daß wir bald aufbrechen mußten.

Die Wolke stieg langsam am Horizont herauf und breitete sich immer mehr. Es war offenbar, daß sie auf die Insel zukam.

Während ich stand und sie beobachtete, kam der erste schwache Windstoß aus Osten.

Ich weiß aus Erfahrung, wie schnell ein solches Wetter aufkommen kann. Deshalb rief ich Toko zu, daß er die Schildkröten aufgeben und zurückkommen solle.

Er patschte ärgerlich im Wasser herum und antwortete etwas. Als er aber sah, daß ich anfing die Reusen einzuziehen, machte er doch kehrt und kam langsam zurück.

Bevor er noch das Boot erreicht hatte, begann auch er wegen der Wolke bedenklich zu werden. Er starrte das schwarze Ungeheuer an und sandte darauf mir einen ängstlichen Blick; aber ich sagte nichts.

Wir zogen die Reusen ganz ins Boot. Als ich keine Miene machte, ihren Inhalt zu untersuchen, sondern mich nur beeilte sie fest zu machen, wurde Toko bange.

»Sturm?« fragte er.

Ich hütete mich wohl ihm zu sagen, was ich befürchtete. Hätte ich das Wort laut gesagt, das ich beständig im Stillen wiederholte, so würde Toko sein Gleichgewicht verloren haben; und wir würden sicherlich in nicht allzu langer Zeit unsere ganze Kaltblütigkeit gebrauchen.

Wir setzten uns an die Riemen und ruderten mit voller Kraft heimwärts.

Der Wind aus Osten nahm beständig zu, und die Wolke lag jetzt breit und schwer mit einem Schwanz in südlicher Richtung da.

Sie war fast schwarz; und jetzt, als sie näher kam, sah ich, daß Wolkenfetzen von ihr herabhingen. Sie rissen sich los und flatterten mit Windeseile voran.

Ich zweifelte nicht mehr: es war der Taifun. Ich hatte ihn einmal mit Tongu zusammen auf Yap erlebt. Damals tötete er einige fünfzig Menschen und machte ihre Hütten dem Erdboden gleich.

Seit dem ersten Windstoß war kaum eine Viertelstunde vergangen. Und jetzt wehte es bereits so stark, daß die Vögel draußen auf dem Riff mit großen Flügelschlägen kreuzen mußten, um gegen den Wind anzukommen.

Toko blickte mich verstohlen an; aber ich sagte nichts.

Das Wasser stieg über das Riff. Von der kleinen Insel, auf der Toko nach Schildkröten gesucht hatte, war jetzt nur noch eine Linie sichtbar. Die Dünung bekam weiße Ränder. Sie begann zu brausen und zu tosen; selbst hier, hinter den Schären, gingen die Wogen hoch mit weißen Köpfen.

Obgleich wir aus allen Kräften ruderten, kamen wir nur langsam vorwärts. Wir hatten den Wind und Strom gerade gegen uns.

Ein plötzlicher Windstoß kam ganz niedrig, fast wie ein Schuß auf uns zu. Die Wolke begann das Tageslicht zu verdunkeln, und plötzlich war es mir klar, daß wir den Orkan in weniger als zehn Minuten über unseren Köpfen haben würden, wenn das Unwetter mit gleicher Schnelligkeit zunähme.

Ich dachte an die Monsunwechsel, die ich bereits auf der Insel erlebt hatte, wie ruhig sie verlaufen waren. Es war ja nur merkwürdig, daß man hier – wie Tongu mir gesagt – seit fünfzehn Jahren keinen richtigen Orkan gehabt hatte.

Ich sah ein, daß es unmöglich war, in der Richtung von Nordost gegen Wind und Sturm vorwärts zu kommen. Es gab nur eines für uns: geradeswegs auf die Küste loszuhalten, solange es sich noch machen ließ, und so schnell wie möglich längs des Strandes nach Hause zu streben.

Ich sagte Toko nichts von meiner Furcht. Änderte nur den Kurs, so daß wir die Wellen jetzt von der Seite bekamen und schneller vorwärts kamen.

»Ist es der Taifun?« flüsterte Toko schließlich mit ängstlichen Augen.

»Nein!« sagte ich, »aber es ist Sturm.«

Es war unnötig, mehr zu sagen. Denn das Meer brach bereits mit Ungestüm über das Riff. Der Sturm kam uns in Stößen aus Osten und Nordosten entgegen. Hätten wir den Schwimmkiel nicht gehabt, wäre unser Boot schon längst umgeschlagen.

Als wir die Küste halbwegs erreicht hatten, ging der Wind plötzlich nach Norden um.

Es kam so plötzlich, daß wir fast gekentert wären. Es war ein Glück, daß Toko keinen Orkan seit seiner Kindheit erlebt hatte, sonst hätte er nicht im Zweifel sein können, daß die schwarze Wolke mit den Wolkenfetzen, die von ihrem unteren Ende losgepeitscht wurden, ein echter Taifun sei; und was das Schlimmste war: die plötzliche Drehung des Windes bewies, daß die äußerste Kante des Wirbels uns bereits gepackt hatte.

Jetzt wurde die Sache ernst. Der Tod saß uns im Nacken. Die Flut stieg, und der Sturm peitschte sie in die Höhe, erst aus Osten und jetzt aus Norden, über kurz oder lang würde sie über das Riff schäumen und uns gegen das Ufer werfen. Sie würde sich über die flache Insel wälzen, Bäume mit ihren Wurzeln ausreißen, Hütten umstürzen, alles Lebende, das ihr auf ihrem Wege begegnete, verschlingen.

Ich dachte an Ali und Oasu, und das Herz stand mir still. Keine Möglichkeit nach Hause zu gelangen.

Wer würde sie retten? Wer von den Leuten des Dorfes würde an ihre Hilflosigkeit denken, da es das eigene Leben zu retten galt? Meine Gedanken klammerten sich an Tongu. Ich hoffte auf seine treue Freundschaft.

Tongu wußte, daß wir auf dem Meere waren, daß sie mit ihrem Kinde und ihrer Angst allein war. Tongu war erfahren: er wußte, was dies bedeutete, und würde sie rechtzeitig aufsuchen.

Auf diese Weise versuchte ich mich zu trösten.

Jetzt aber begann Toko zu zittern; seine Augen wurden weiß vor Angst.

»Die Geister holen uns!« schrie er und sah mich hilflos an.

Es war keine Zeit, ihm einen Vortrag zu halten und zur Vernunft zu bringen. Es galt, an Land zu kommen und einen Ort zu finden, der so hoch lag, daß die Flutwelle, wenn sie kam, ihn nicht überschwemmen konnte.

Da fand ich plötzlich die Lösung.

»Die Steine unserer Väter.«

So alt die Ruine war, mußte sie vielen Orkanen standgehalten haben, und der Ort lag hoch.

»Kannst du den Wasserarm in dem Mangrovegehölz finden, der zu den ›Steinen unserer Väter‹ führt?«

Toko verstand sofort, was ich meinte. Er erhob sich und sah spähend umher.

Dann begann er aus Leibeskräften nach Westen zu rudern.

Mit dem zunehmenden Sturm und dem Tod im Rücken kämpften wir um unser Leben.

Wir sahen die Dschungeln, die schwankten und pfiffen und sausten.

Wir kamen in die Bucht hinein, wo die Wogen etwas weniger hoch gingen.

Wir sahen die Mauer der Mangrovewurzeln und hörten die alten Kronen bei den Windstößen jammern und heulen.

Da entdeckten Tokos scharfe Augen die Mündung des Wasserarmes. Kurz darauf waren wir drinnen.

Hier war es fast dunkel. Die Wolke, die jetzt hoch am Himmel stand, lastete mit einem solchen Luftdruck auf uns, daß der Schweiß trotz des Sturmes an uns hinabrann.

Die Mangroven klapperten und knarrten. Die Lianen bäumten sich. Die Leuchterwurzeln bebten wie Saiten, in die der Wind hineingriff und worauf er spielte; in dem engen Wasserarm aber war das Wasser noch ruhig. Toko fühlte sich dadurch beruhigt; ich aber, der ich wußte, was unerbittlich kommen würde, fuhr fort aus allen Kräften zu rudern.

Im nächsten Augenblick war die Wolke gerade über uns und lastete so schwer, daß sie uns den Atem benahm. Es wurde dunkel und die Luft war so dick, daß man sie fast hätte schneiden können.

Dann brach es los.

Die ersten Blitze zuckten durch die Dunkelheit. Die Donnerschläge krachten; es ging Schlag um Schlag.

Der Sturm kam in furchtbaren Stößen, die uns zum Kentern gebracht haben würden, wenn das dichte Mangrovegehölz nicht das Schlimmste abgehalten hätte.

Toko kauerte wie ein krankes Tier bei dem Lärm zusammen. Ich fürchtete, daß das Ruder ihm jeden Augenblick entfallen würde.

Ich fuhr ihn heftig an, nannte ihn ein Weib, und was ich sonst an hohnvollen Bezeichnungen finden konnte. Das half etwas.

Jetzt begann der Regen in breiten, schrägen Strahlen herabzuströmen.

Es war kein Regen. Es war ein Wolkenbruch; aber weder der Sturm noch die Blitze hörten auf; die Wärme und der Luftdruck nahmen eher zu als ab.

Die strömenden Wassermassen standen wie eine dichte, graue Mauer vor unseren Augen, so daß wir keine zwei Meter weit sehen konnten.

Wenn Toko nun den betreffenden Baum nicht finden konnte, was dann? – Lange konnte es nicht dauern, bis das Boot mit Wasser gefüllt sein würde.

Ich stellte ihm vor, was auf dem Spiel stand. Wir würden hier in dem Mangrovesumpf umkommen, zwischen den Geistern der Verstorbenen, die hier hausten, vermodern, wenn er sich nicht zusammennähme und die Stelle fand, wo wir an Land mußten.

Das half. Er heulte und jammerte nicht mehr, sondern spähte zwischen den Stämmen umher, während ich allein weiterruderte.

Er fand ihn. Auch ich erkannte den Stamm wieder, der im Sumpf gefällt war. Er war glatt und blank von dem strömenden Wasser.

Ich dachte erst daran, das Boot anzubinden, gab es dann aber auf. Wenn die Flutwoge kam, würde es doch fortgeschwemmt werden. Wir hätten es doch nicht mehr zu Gesicht bekommen.

Wir faßten Fuß. Mit unendlicher Mühe glückte es uns, an dem glatten Stamm hinaufzuklettern.

Toko war voran. Ich glitt mehrere Male aus und wäre unweigerlich in dem Sumpf versunken, wenn Toko nicht jedesmal blitzschnell bei der Hand gewesen wäre.

Das morsche Holz gab unter uns nach. Wir plumpsten mit den Beinen in den Sumpf und hielten uns mit den Armen fest, bis wir wieder festen Fuß faßten. Aber wir kämpften um unser Leben und das gab uns ungeahnte Kräfte.

Und währenddessen zuckten die Blitze aus der furchtbaren Wolke auf uns herab. Der Donner krachte und der Regen prasselte auf unsere Köpfe und unsere nackten Rücken wie Peitschenschläge.

Ich vergesse nie das fürchterliche Konzert von all den vielen verschiedenen Lauten. Es klingt mir noch jedesmal in den Ohren, wenn ich zurückdenke: das Knarren und Jammern der Mangroven, das Pfeifen und Sausen der Lianen, das zitternde Summen der Wurzelstangen, das endlose Plätschern des Wassers auf den Sumpf. Und das Gebrüll des Sturmes von draußen.

Endlich – endlich sprang Toko herab. Aber die Erde war schon so durchweicht, daß er bis an die Knie darin versank. Wir mußten vorwärts waten, bis wir fast keine Kraft mehr hatten, die Füße aus dem Morast zu ziehen.

Aber aufwärts ging es. Mit jedem Meter, den wir vorwärtskamen, wurde der Boden besser, bis wir so hoch waren, daß das Wasser in Strömen herabfloß, ohne die Erde in der Eile aufweichen zu können.

Dort schwankten die Brotfruchtbäume der fliegenden Hunde vor uns. Da wußten wir, daß wir es nicht mehr weit hatten.

Wir sahen, wie ein mächtiger alter Baum vom Sturm gebrochen wurde. Es klang wie ein Klageschrei. Dann fiel er mit einem langen, verzweifelten Herzensseufzer und zerschmetterte alles, was in seinem Schatten gelebt und Schutz gesucht hatte.

Toko packte mich krampfhaft am Arm. Er war auf dem Punkt, wo er in allem die furchtbaren Schreie der Geister selbst zu vernehmen meinte. Ich bin überzeugt, daß seine Augen gesehen haben, wie Geister den Baum umrissen und fällten. Der Seufzer des Baumes hat seinen Ohren wie der Todesschrei eines guten Geistes geklungen.

Ich ließ ihm keine Ruhe. Ich fuhr ihn wieder hart an – ich mußte schreien, damit er mich verstehen konnte, obgleich wir einander ganz nah waren – ich drohte ihm, als er sich vor Entsetzen zu den Füßen der Geister auf die Erde werfen wollte, daß ich auch noch die Geister meines Stammes auf ihn hetzen würde, wenn er nicht sofort weiterginge, um den Weg zu den »Steinen unserer Väter« zu finden.

Wir fanden ihn. Die mächtigen Basaltblöcke schimmerten vor Nässe durch die Finsternis.

Hier, wo wir höher waren, griff uns der Sturm wieder stärker an. Trotz des Schutzes der Mangroven war er so heftig, daß wir uns niederwerfen und das letzte Stück auf der nassen Erde kriechen mußten, bis wir die Ruine erreichten, und uns mit Händen und Füßen festklammernd gelangten wir in den Schutz der Basaltblöcke.

Jetzt begann der Sturm abzunehmen. Er ging gleichsam entzwei, wurde zu Windstößen, die an Heftigkeit und Häufigkeit abnahmen, bis sie ganz aufhörten. Auch der Regen ließ nach.

Es wurde ganz still. Die Wolkendecke spaltete sich und zeigte einen kleinen blauen Himmelsfleck.

Toko, der der Länge nach auf der Erde gelegen hatte, um nichts zu sehen, stand auf und sah mich an, mit Freudentränen ln den Augen.

Ich aber, der ich Bescheid wußte, konnte mich nicht freuen. Ich wußte, daß jetzt der vordere Teil des Wirbels über uns hingegangen war. Jetzt passierte der stille Gürtel – der in einem Abstand von einer Meile oder mehr um das Zentrum des Taifun liegt – unsere Köpfe, unsere Insel. Wenn er aber passiert war, dann würden wir wieder von dem Wirbel ergriffen werden, würden in den hinteren Teil der Wolke geraten und denselben Sturm wie vorher bekommen, nur von der entgegengesetzten Seite.

Und dann – dann kommt das Schreckliche, dann kommt der Tod.

Nicht für uns, die wir so hoch waren, daß keine Flutwoge uns erreichen konnte. Aber für all die Hütten, die nicht hoch lagen, und für all die lebenden Wesen, die in der Tiefe weilten.

Wenn die Flut am höchsten ist und der Wirbel das Meer aus allen Himmelsrichtungen zusammengetrieben hat, dann erhebt es sich bis zu zwanzig Meter über Flußwasserhöhe, dann ergießt es sich über die flache Insel, hebt alles auf seinen Armen empor, zerschmettert es gegen Steine und Bäume und saugt es mit sich in die Tiefe, wo der Tod wohnt.

Ali – Ali –

Ich starrte von Entsetzen geschüttelt in die Richtung, wo meine Hütte liegen mußte. Meine Gedanken arbeiteten und arbeiteten, aber es gab keinen Trost.

Ich klammerte mich in meiner Not an Tongu und versuchte ihn zur Hilfe zu zwingen, indem ich in meinem Gedächtnis jede noch so kleine Erinnerung an die Fähigkeit der Menschenseele, eine andere durch meilenweite Abstände zu beeinflussen, hervorsuchte.

Ich legte meine Seele fest an ihre Seele und versuchte sie zu trösten. Ich meinte ihre Schreie zu hören. Ich sah sie am Strande mit Oasu hin und her laufen und über das zornige Wasser rufen. Ich wußte, daß sie von dem Augenblick verzweifeln würde, wo sie einsah, daß kein Kanu mehr von dort zurückkehren könne.

Hilf ihr, Tongu! Hinauf zum Kokoshain des Königs, der hoch liegt! – Hilf ihr und dem Kinde, Tongu! – Denke daran, daß ich einst dein Leben auf Yap rettete. Nimm meine ganze Schiffskiste. Ich will monatelang für dich arbeiten, wenn du sie rettest.

Ich weiß nicht, wie lange wir so saßen, schweigend und angstvoll. Es kam mir wie eine ganze Nacht vor, war aber wohl kaum mehr als anderthalb Stunden; denn der Mittelpunkt des Taifuns bewegt sich schnell vorwärts, und der stille Gürtel ist selten mehr als drei Meilen breit.

Wir hörten durch die Stille ein fernes Brausen, das schwoll und schwoll.

Ich kletterte auf die höchste Spitze der Ruine, um Umschau zu halten. Es war nichts zu sehen; aber es klang, als sei die Brandung vom Riff uns ganz nahe gerückt.

Da kam ein plötzlicher Windstoß, der mich fast umgerissen hätte. Er kam von Süden und nun wußte ich, daß der stille Gürtel passiert war und die hintere Seite des Wirbels mit derselben Macht wie vorher über uns hinjagen würde.

Ich kam eiligst herab. Aber bevor wir noch eine geschützte Stelle auf der andern Seite der Ruine gefunden hatten, war der Himmel wieder so schwer wie vorher; und die Wolkenfetzen jagten mit Sturmeseile über unseren Köpfen dahin.

Die Windstöße wurden zu Sturm aus Süden. Die Wärme nahm plötzlich wieder zu, während der Regen von neuem über uns herabströmte.

Der Sturm übertäubte das Geräusch des Brausens, das ich von der Spitze aus gehört hatte. Jetzt aber brach ein Laut hindurch, der mein Herz vor Entsetzen stillstehen ließ.

Die Flutwoge – die Sturmflut – das Meer.

Wie ein Heer von Elefanten raste es durch das Mangrovegehölz, siedend und brausend erbittert gegen die Millionen von Leuchterwurzeln, die wie Zweige geknickt wurden; es stürzte alte, gebrechliche Bäume – Stämme so morsch, daß sie beim Fall nicht mehr seufzen konnten; es hob vom Wind gefällte Bäume aus ihrem Morastbett, so daß sie trieften, und drängte sie gegen ihre noch lebenden Brüder, wobei sie Wurzeln zerquetschten und Lianen zerrissen.

Das alles aber sah ich nicht. Ich hörte es nur, ahnte es durch die Laute und fühlte es gleichsam mit einem siebenten Sinn.

Denn das war das Entsetzlichste von allem: Obgleich wir uns vor Schrecken blind starrten, konnten wir nichts sehen. Die Mauer des Wolkenbruches verbarg alles vor unseren Blicken.

Ganz nah an unserem Ohr, gerade unter unseren Füßen, wälzte der Tod sich über unsere Insel. Wir saßen hier auf einem einsamen Gipfel und konnten nichts sehen. Aber wir hörten, wie die Brotfruchtbäume krachten und brachen; und es bebte durch die Steine, gegen die wir unsere Rücken lehnten, als würde die Erde gepeitscht und krümme sich bei den Schlägen.

Dann hörte ich nichts mehr. Wie Toko sich half, weiß ich nicht. Er ahnt es selber nicht. Ich weiß nur, daß ich stöhnend vor Verzweiflung immer wiederholte: »Jetzt geht die Sturmflut über die Hütten und nimmt Ali und Oasu!«

Mehr weiß ich nicht. Das Bewußtsein muß mich schließlich verlassen haben.

Als ich wieder zu mir kam, klapperten meine Zähne, und ich zitterte am ganzen Körper vor Kälte, Nässe und Todesangst. Toko lag platt vor mir auf der Erde und stöhnte im Schlaf.

Der Sturm hatte aufgehört zu rasen. Es regnete nicht mehr. Die schwarze Wolke war verschwunden. Zerstreute Wolkenfetzen jagten noch hoch oben; der Himmel aber war klar. Die Sonne war im Begriff unterzugehen; und es war Ebbe.

Als wir uns zu den Mangroven hinabwagten, war es unmöglich, dort weiterzukommen. Das Ganze war ein Sumpf. Es war ganz ausgeschlossen zum Wasserarm zu gelangen. Gott mochte wissen, ob er überhaupt noch existierte.

Bevor wir wieder zur Ruine hinaufkamen, war die Sonne untergegangen und Dunkelheit eingetreten. Wir mußten die Nacht über bei den »Steinen unserer Väter« bleiben.

Beim ersten Morgengrauen begaben wir uns auf den langen Weg, den nur Toko kannte – der, der um die Insel führt, an der fremden Stadt, Wattiwua, vorbei, die wir einst besuchten.

Eine schwerere Nacht hab' ich nie erlebt; einen schwereren Weg bin ich nie gegangen.

Wir waren zum Umfallen müde. Jeden Augenblick mußten wir Rast machen, weil die Knie mir den Dienst versagten. Schlimmer als das aber war die tote Ruhe in meinem Herzen, die verzweifelte Gewißheit, daß Ali und ihr Kind nicht mehr am Leben seien.

Ich weiß nicht, wie es sein konnte, daß auch nicht ein Funken von Hoffnung in meinem Herzen lebte, obgleich die Hoffnung doch nicht zu verlöschen pflegt, bevor die Gewißheit sie tötet.

Ich zweifelte keinen Augenblick daran, daß Ali tot sei.

Als wir schließlich gegen Mittag von der Nordseite den Kokoshain des Königs erreichten, und dort die Leute aus der Stadt versammelt fanden, deren Hütten dem Erdboden gleichgemacht waren, da kam Tongu mir weinend entgegen und warf sich zu meinen Füßen nieder, weil er wußte, daß ich meine ganze Hoffnung auf ihn gesetzt hatte.

Es bedurfte keiner Worte.

Ich setzte mich still nieder und weinte mit den anderen. Als Toko mich weinen sah, warf er sich platt auf die Erde und heulte wie ein kranker Hund.

Tongu erzählte mir später, daß er, als das Unwetter begann, zu Ali gegangen sei, die auf dem Strande hin und her lief, mit dem Kinde im Arm, und nach mir rief. Aber sie wollte auf nichts hören.

Erst als sie dem Sturm nicht mehr standhalten konnte und das Kind vor Angst weinte, folgte sie ihm zu unserer Hütte.

Sie legte sich gleich auf die Matte nieder, mit dem Knaben im Arm.

Tongu versuchte sie zu überreden, mit in den Kokoshain des Königs zu kommen; aber sie sagte, sie wolle warten, bis ich käme. Ich sollte die Hütte nicht leer finden, wenn ich zurückkehrte.

Vergeblich sprach er ihr von der Flut, die kommen würde. Sie hörte ihn nicht mehr.

Als er schließlich aus seiner eigenen Hütte flüchtend, die tiefer als unsere lag, zu Ali kam, um einen letzten Versuch zu machen und sie zum Mitkommen zu bewegen, lag sie noch auf der Matte mit dem Kind im Arm und jammerte.

Zuletzt wollte er sie mit Gewalt forttragen. Aber da gebärdete sie sich wie eine Rasende, biß und schlug um sich, als fürchte sie, daß er ihr das Kind nehmen wolle.

Ihre letzten Worte waren, daß »der Gute« die Hütte nicht verlassen und leer finden solle, wenn er heimkehre.

Tongu führte mich zu dem Ort, wo meine Hütte gestanden hatte.

Nur der Balkenfuß und die schwere Schiffskiste waren noch da.

Da – in dem engen Raum, zwischen der Kiste und dem Pfahl eingeklemmt, so fest, daß nicht einmal die Flutwoge sie hatte lösen können, – lag Ali, den Knaben an ihre kalte Brust gepreßt.

Sein kleiner Kopf war fest gegen ihren Hals gedrückt, so daß ihr Kinn auf seinem Haar ruhte. Es war unmöglich, ihn aus ihren Armen zu lösen.

Es lag Frieden auf ihrem und des Kindes Antlitz.

Ihre Augen waren geschlossen. Es sah aus, als hätte der Tod sie im Schlaf zu sich genommen.

Ende


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