Laurids Bruun
Van Zantens glückliche Zeit
Laurids Bruun

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Siebentes Kapitel

Freie Liebe

Ich bin Bürger der Stadt des Mahurastammes geworden, bezahle die Königsabgabe, nehme teil an der Arbeit der Unverheirateten und schlafe im Gemeinschaftshause. Winawa braucht mir nichts mehr zu verweigern, seitdem ich kaneelbraun bin und ein hübsches rotes Lendentuch trage, das Tongu mir mit viel Sorgfalt gewebt hat.

Tongu hält streng darauf, daß mir keine der Vorteile und Rechte, die jedem jungen Mahuramann aus guter Familie zukommen, verweigert werden.

Manch einer der jungen Leute betrachtet den Fremden mit Mißgunst, versucht meine Haut, die bei starkem Regen nicht standhält und ab und zu erneuert werden muß, ins Lächerliche zu ziehen. Sie wollen gern Cliquen gegen mich bilden; die Frauen aber halten zu mir und beschützen mich eifrig. Und Toko ist wie immer mein geschworener Freund, der mir überall bei der Arbeit auf den Hacken folgt und seine Schlafmatte immer möglichst in meiner Nähe anbringt, was nicht gerade sehr angenehm ist, weil er eine sehr leidenschaftliche Natur ist.

Im Gemeinschaftshaus gibt es keine festen Plätze. Jeder hat seine Matte; und wenn es dunkel wird, sucht man sich einen Schlafplatz auf dem großen, finsteren Bambusboden.

An den beiden Längsseiten des Hauses reicht die Wand nicht ganz bis zum Dach hinauf. Es befindet sich dort eine Öffnung von ungefähr einem Meter Höhe. Der Rand des steilen Daches aber tritt so weit über die Öffnung, daß er einen sicheren Schutz gegen Regen und Sturm gewährt. Wenn diese Spalten an beiden Seiten nicht wären, würden wir vor Hitze erstickt werden. Es ist auch so schon schlimm genug.

Es gibt immer ein Drängen und Lärmen an der Tür, bevor wir zur Ruhe kommen. Es gilt nämlich, sich den besten Schlafplatz zu erobern, wo man nicht Gefahr läuft, im Dunkeln getreten zu werden, wenn einer bei Nacht zur Wandöffnung tappt, um ein kleines Geschäft zu verrichten, oder zur Tür hinaus, im großen Namen der Natur.

Ich halte mich am liebsten in der Nähe der Tür auf, dicht an der Wand; die anderen aber machen sich gegenseitig die Eckplätze bei den Giebeln streitig, wo es am wärmsten ist.

Es ist erstaunlich, wie leicht sich alles mit den Mädchen ordnet. Noch habe ich keine Schlägerei oder lautes Gezänk ihretwegen erlebt, Frauen und Männer finden sich still und ohne Anstoß zusammen, ganz von selbst.

Es wird nicht so häufig gewechselt, wie man glauben sollte. In der Regel entscheidet sich die Sache gleich nach dem Eintritt der Frau ins Gemeinschaftshaus, nachdem ihre Jungfrautaufe stattgefunden hat. Einige von den jungen Leuten, die ihrem Jahrgang am nächsten stehen und die zurzeit ledig sind und sie begehrenswert finden, umschwirren sie bereits vor der Abendmahlzeit am Feuer wie Bienen. Sie sieht sich die Schar an, von der Aufmerksamkeit, die ihr erwiesen wird, befriedigt und geschmeichelt, und wählt sich schnell einen, an dessen Seite sie am Feuer Platz nimmt. Damit ist die Sache entschieden; die anderen ziehen sich loyal zurück und versehen sich anderweitig.

Dann schläft sie bis auf weiteres auf der erwählten Matte. Führt das Zusammenleben zu starker Verliebtheit und fürchtet er sie zu verlieren, – wenn z. B. Gefahr ist, daß einer, der eine bessere Partie ist, ihn aus dem Felde zu schlagen versucht, dann beeilt er sich, sie vom Vater zu kaufen, das heißt, er heiratet sie. Und dann lebewohl Gemeinschaftshaus, wo gleiches Recht für alle gilt.

Es kommt aber auch vor, daß der eine oder der andere Teil die Erwartungen nicht erfüllt, die man sich gemacht hat. Oder das Mädchen entdeckt, daß er den Preis nicht bezahlen kann oder will, auf den sie der Ehre der Familie und ihres TotemsDie Eingeborenen teilen sich nach gewissen, noch unbekannten Regeln in Geschlechtsgruppen, die alle ihr Abzeichen (Totem), z. B. einen Vogel, haben. Personen aus demselben Totem dürfen keine Ehe miteinander eingehen. wegen bestehen muß. Dann sucht sich ein anständiges Mädchen, das weiß, was sie sich schuldig ist, einen anderen. Das geschieht geschwind und friedlich auf die Weise, daß sie eines Abends bei der gemeinsamen Mahlzeit ihrem Liebsten den Rücken kehrt und neben demjenigen Platz nimmt, den sie als seinen Nachfolger ausersehen hat, entweder aus Augenlust oder mit Hinblick auf seinen Totem und seine Vermögensverhältnisse.

Wenn nun dieser Neue will wie sie, so bleibt er sitzen und findet schnell Gelegenheit, ihre Brust zu berühren. Wenn er nicht will, steht er auf und sucht sich einen anderen Platz. Sie bekommt vielleicht ein etwas langes Gesicht, murrt und rupft ärgerlich das Gras. Das ist alles. Sie findet bald einen anderen, wenn der Verschmähte ihr nicht auf die eine oder andere Weise Schwierigkeiten in den Weg legt, was als unfein angesehen wird und einen boshaften Charakter verrät.

So geht es zu zwischen besseren und anständigen jungen Leuten, die etwas auf sich halten. Es kommt aber natürlich auch vor, daß ein Mädchen an ihrer ersten Wahl festhält, ohne Rücksicht darauf, ob er imstande ist, sie zu kaufen. Wenn er dann nicht klüger ist als sie und wechselt, um sich eine Frau zu verschaffen, die er mit den ihm zu Gebote stehenden Mitteln kaufen kann, dann ist damit unzweifelhaft ein illegitimes Verhältnis geschaffen, das schlimme Folgen haben kann.

Eine Zeitlang geht es; eines Tages aber wird ihr Vater ungeduldig und gibt ihr zu verstehen, daß er nicht länger auf das Kapital warten will, das sie repräsentiert; sie muß ihre Wahl treffen.

Der arme Freier meldet sich, um wenigstens den Versuch zu machen, wird aber natürlich mit seinem Schandgebot vor die Tür geworfen, indem er ausdrücklich den Preis zu wissen bekommt.

Eine jede anständige Mahurafrau fügt sich nun und tut ihre Pflicht. Sie entläßt den armen Burschen mit dem, was er bekommen hat und was niemand ihm nehmen kann, und wählt das nächste Mal nur mit dem Verstand, wobei Vater und Mutter ihr vielleicht ein wenig behilflich sind.

Bisweilen aber geht es nicht so glatt. Ich weiß einen Fall – Toko hat ihn mir anvertraut – wo die Tochter die Komödie spielte, ihrem Liebhaber den Laufpaß zu geben und einen anderen zu wählen, um ihrem Vater zu Gefallen zu sein. Dieser andere aber war ein Strohmann, den das Paar dazu vermocht hatte, beim Abendmahl »vor der Welt« als der Auserwählte aufzutreten. Des Nachts schlief sie unverändert auf der alten Matte. Denn was innerhalb der vier Wände des Gemeinschaftshauses geschieht, geht keinen etwas an; die Jungen halten wie ein Mann zusammen, um dieses Recht zu wahren, indem sie nie etwas von dem intimen Zusammenleben dort drinnen verraten.

Auf diese Weise ging es eine Weile. Als aber der neue offizielle Liebhaber, der in jeder Beziehung eine gute Partie von hervorragendem Totem war, keine Miene machte, sich an den Alten zu wenden, wurde die Tochter abermals ins Gebet genommen.

Wieder war sie eine gehorsame Tochter, die scheinbar auch diesem Liebhaber den Laufpaß gab – sie könnte ihre Jugend doch nicht im Gemeinschaftshaus vergeuden, wo sie bald eine der ältesten sein würde! – und sie wählte einen dritten, der ebenfalls eine gute Partie war; es war aber wieder ein Strohmann – ein Freundschaftsdienst, der dem armen Freier erwiesen wurde. Im Gemeinschaftshause schlief sie noch immer auf der alten Matte.

So ging es weiter, bis der Vater schließlich einsah, daß seine Tochter nicht so begehrenswert sei, wie er gedacht hatte. Da mit dem Totem der Familie nichts im Wege war, mußte sie also verborgene Fehler haben.

Nach einem peinlichen und ganz erfolglosen Kreuzverhör, das mit einer Tracht Prügel zur Strafe für die Enttäuschung endete, setzte der Alte resolut den Preis herab und gab allen, die es hören wollten, zu verstehen, daß er sie jetzt sozusagen zum Einkaufspreis abgeben wolle.

Es verging wieder einige Zeit. Nachdem der Alte schließlich genug gedemütigt war, begann er sich von selbst dem armen Freier zu nähern, der der einzige war, der ernste Absichten gezeigt hatte.

Dieser war ehrlich und redlich bei seinem ersten Angebot geblieben, schließlich wurden sie Mann und Frau; und Toko sagt, daß sie sehr glücklich sind.

Diese Geschichte von treuer Liebe, die wohl verdiente, mit all ihren komischen und rührenden Einzelheiten niedergeschrieben zu werden (vielleicht tue ich es mal in einem anderen Zusammenhang), hatte dennoch einen Haken.

Ich glaube gern, daß sie sehr glücklich wurden – ich habe die Erfahrung gemacht, daß stetige Leute glücklicher zu sein pflegen als andere – aber Tatsache ist, daß sie keine Kinder bekamen. Denn als sie es durfte, konnte sie keine gebären. Das hängt mit einer Handlung zusammen, die bei einem eingeborenen jungen Mädchen vollkommen zulässig, während sie bei uns ein Verbrechen ist.

Ein Ereignis aber wie das hier geschilderte ist eine reine Ausnahme. In der Regel wickelt sich alles glatt ab.

Wenn die Tür geschlossen ist und ein undurchdringliches Dunkel in dem Gemeinschaftshaus brütet, wird die Luft trotz der offenen Wände schwer und drückend.

Kein lautes Geräusch ist zu hören. Aber es geht wie ein gedämpftes Summen von all den heißen Atem und den warmen, vollblütigen Körpern aus, die den Boden füllen.

Dort schrabt ein Fuß; dort raschelt eine Matte; und als Unterton erklingen die tiefen, knurrenden Kehllaute, durch die die unmittelbare Lebensfreude der Eingeborenen sich Ausdruck verschafft.

Es ist wie in einem riesigen Taubenschlag in der Dämmerstunde, wenn die Vögel noch nicht auf ihren Stäben zur Ruh gekommen sind, oder wie in einem Hühnerhaus vorm Morgengrauen, bevor die jüngsten Hähne mit den Flügeln schlagen und zu krähen beginnen.

Ganz ausnahmsweise erklingt zornige Rede, wenn einer einen anderen zufällig tritt oder dergleichen; sie wird aber sofort niedergezischt. Und wenn einer so schnarcht, daß er die anderen weckt, wird er ohne Erbarmen vor die Tür gesetzt und muß im Freien schlafen. Der, den sie den »großen Jäger« nennen, übt eine selbständige, von allen anerkannte Justiz. Er ist von Wahujas Totem, dem vornehmsten der Stadt.

Ihre Liebe ist weder wild noch tierisch zügellos, wie so viele annehmen und wie ich selbst glaubte, bevor ich die Eingeborenen, die wir so kurzerhand »die Wilden« nennen, kennen lernte. Sie ist stark, aber schnell gesättigt wie bei gesunden, freien Menschen, die durch keine Verhüllung von der nackten Brust der Natur getrennt sind. Man kann in dem einen Augenblick von einer Matte Liebesgegirr hören, von der im nächsten die Atemzüge eines tiefen Schlafes ertönen.

Als wir eines Tages, von der Feldarbeit heimkehrend, zwischen den äußersten Hütten der Stadt gingen, blieb Winawa plötzlich stehen und lauschte nach oben.

Ich konnte nichts hören, sie aber faßte mich am Arm und fing an zu dem Gipfel eines Brotfruchtbaumes hin aufzurufen, der dicht neben der Hütte ihres Vaters stand, wo sie als Kind gewohnt hatte.

Während die anderen weitergingen und uns stehen ließen, rief sie in einem klagenden Ton: »Mein Bewa, mein Bewa!«

Als sich nichts zeigte, ging sie auf die Hütte zu, wobei sie mich immer am Arm hielt, als wolle sie mir etwas zeigen, während sie zum Baum hinaufsah und das tiefe Jodeln ausstieß, das alle Eingeborenen können.

Da schwirrte plötzlich etwas durch die Luft, und von einem hohen Ast senkte sich ein fliegender Hund mit eingezogenen Schwingen herab. Als er halbwegs auf sie herabgeschwebt war, entfaltete er seine Flügel und hielt sich in der gleichen Höhe, während sie ihm ihre Arme entgegenbreitete, den Kopf in den Nacken legte und ihm zulachte und zärtliche Kosenamen zurief, als spräche sie mit einem Kinde.

Er fuhr fort mit ausgebreiteten Flügeln über ihren Kopf zu schweben, während er den Kopf drehte und seine klugen, dunklen Augen auf mich heftete. Er bewegte seine Schnauze und öffnete die Lippen, daß die weißen Zähne auf mich herableuchteten.

Sie bedeutete mir, etwas zurückzutreten. Und kaum war ich zur Seite gegangen, als das Tier herabflog und sich in ihr Haar setzte, während es ihr liebkosend mit den Flügeln um die Ohren schlug.

Sie lachte über das ganze Gesicht, hob es mit den Armen vorsichtig herab und drückte es leidenschaftlich gegen ihre Brust.

Dann nahm sie eine Banane aus dem Korb, den sie beiseite gesetzt hatte, warf sich ausgelassen ins Gras, setzte das Tier auf ihren Rock und ließ es flügelschlagend und mit offener, beweglicher Schnauze, die aussah, als ob es lache, auf ihre Brust hinaufklettern.

Sie streckte die Hand, die die Banane hielt, hoch in die Luft und ließ jetzt das Tier längs ihres glatten Armes balancieren, bis es die Frucht erreichte.

Es riß die Banane mit einem raschen Biß an sich und zerrte die Schale mit seinen spitzen, weißen Zähnen ab, während es die Frucht mit den Flügeln festhielt. Und als es auf ihre Brust zurückbalanciert war, reckte es sich ihr mit der Banane im Maul entgegen, damit sie auch von der Frucht abbeißen konnte.

So aßen sie jedes von einem Ende, bis ihre Zähne sich trafen. Sie nahm das Tier in ihre Hände, warf es hoch in die Luft wie einen Ball und sprang dann auf. Während das Tier sie umflatterte, spielte sie Haschen mit seinen Flügeln.

Es riß sich los; es schnupperte nach ihr; als ich aber herankam, flog es in die Höhe und wollte nicht wieder nach unten.

»Es ist böse auf dich!« sagte sie traurig und sah mich mißmutig an.

Schließlich ging sie weiter, aber sie blickte sich noch mehrere Male um und rief ihm zu, solange sie seiner ansichtig werden konnte.

»Es ist böse auf dich, weil ich es vergessen habe!« sagte sie traurig, während wir aßen, und sie war den ganzen Abend schweigsam.

Seit der Zeit ist sie mir nicht wohlgesonnen, vielleicht hat sie mir anmerken können, daß ich den fliegenden Hund nicht mag, der von vielen Eingeborenen als ein heiliges Tier betrachtet wird. Für uns ist und bleibt er eine ungeheure Fledermaus; und den Widerwillen, den ich empfand, als seine Schnauze ihren Mund berührte, habe ich wohl kaum verbergen können.

Als ich Tongu die Geschichte erzählte, sagte er, es sei etwas ganz allgemeines, daß junge Mädchen, die ein Junges fänden, das die Mutter verloren hat, es zähmen, aus ihrer Hand fressen lassen und bei sich behalten, bis es ausgewachsen ist, und daß das Tier später noch immer auf ihren Ruf hört.


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