Laurids Bruun
Van Zantens glückliche Zeit
Laurids Bruun

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Drittes Kapitel

Die fliegenden Hunde

Das Gehölz hört auf. Der Boden scheint sumpfig zu sein. Dichtes Schilf steht am Ufer. Je weiter wir kommen, desto höher wird es. Jetzt ist es gewiß schon über Mannshöhe. Es macht den Eindruck von Dschungeln.

»Dort müssen wir hinein!« sagte Tongu.

Ein kleiner Fjord schneidet in das Schilf hinein, von langen, lotrechten Leuchterwurzeln mit dunklen Kronen begrenzt.

Das sind die Mangroven.

Wir rudern mit langen Schlägen hinein. Das Wasser ist hier still und blank, aber auch dunkel. Eine feierliche Einsamkeit lauscht uns entgegen.

Ich begreife nicht, was er hier will. Man kann ja nirgends landen. Das Ufer unter den Mangroven ist wie ein einziges schwarzblaues Schlammloch.

Noch ein Stück. Da sehe ich, wie die Mangroven sich links teilen und einem schmalen Wasserarm Platz machen, der kaum zehn Fuß breit ist. Die Bäume schließen sich über unseren Köpfen zusammen, nur hin und wieder ist ein blauer Himmelsfetzen zu erspähen.

Uralte Bäume, deren Kronen ganz oben grün und dicht sind, schließen Licht und Luft aus; die unteren, dicken, recht hervorstehenden Äste, die an den Stamm festgezimmert zu sein scheinen, sind halbtot und von einer dicken Morastschicht bedeckt. Im Moose wachsen Blattpflanzen, die große rote Blumen haben; Schlinggewächse spinnen sich dazwischen hin und her und verfilzen sich zu einem undurchdringlichen Netz, das sogar den Laut aufhält. Und unterhalb der halbtoten, mächtigen Zweige – lotrecht in den Morast hinein – stehen die Leuchterwurzeln, die das Leben in dem alten Stamm aufrechterhalten, indem sie ihn stützen und Nahrung für ihn aufsaugen. Zwischen den Leuchtern schlingen sich Lianen hin und her, als ob kunstfertige Strickleitern zu den Kronen hinaufführten.

Hier drinnen ist es kühl und dunkel. Ein durchsichtiges, tiefgrünes Kristalldunkel, still und gedämpft. Das Vogelgeschrei und das Plätschern der Ruder ruft keinen Widerhall hervor, es ist, als hingen von allen Seiten dicke Portieren von der Decke herab.

Hin und wieder ertönt ein Vogelschrei, aber Vögel kann ich nicht erspähen. Nur ein hastiges Aufblitzen von Grün oder Rot, das sofort wieder verschwindet.

Ich spanne den Hahn; mein Auge aber verliert wieder und wieder die Spur.

Ich kann fortwährend Tauben girren hören. Die grauen Fruchttauben mit dem roten Knoten auf dem Schnabel. Solange sie stillsitzen, ist es aber unmöglich sie zu entdecken. Selbst Toko kann es nicht.

Schließlich ist da ein Paar, das auf einer der äußersten Luftröhren sitzt und trinkt; sie erheben sich und fliegen flügelschlagend quer über den Wasserarm.

Ich schoß die eine von ihnen. Wir mußten in die Wurzeln hineinrudern, damit Toko sie mit seinem Ruder erreichen konnte.

Späterhin schoß ich noch ein paar. Sie schmecken ausgezeichnet und sind so groß wie ein gutes Küken.

Auch einige grüne Papageien, die die Neugierde auf die äußersten Zweige gelockt hatte, knallte ich herunter.

Jeden Augenblick blitzte etwas pfeilschnell und dunkelrot zwischen den Zweigen auf; bevor ich aber die Büchse an die Backe gelegt hatte, war es weg. Es war der Honigvogel. Er ist klein und behende und lebt von Blumenhonig. Selbst wenn ich ihn vor den Schuß bekommen hätte, so würden wir ihn doch nicht erreichen können. Er hält sich zu tief drinnen zwischen den Bäumen auf. Da wo er hinfiele, hätten wir doch nicht hingelangen können; und wahrscheinlich wäre er im Lianennetz hängen geblieben.

Der Wasserarm wird schmäler, die Stille tiefer. Jetzt hört auch das Vogelgeschrei auf. Der wilde Wirrwarr von Zweigen, Blättern und Schlingfäden hängt still und starr wie Theaterdekorationen in der Luft. Es wirkt unheimlich auf den, der es zum erstenmal sieht. Man kann sich des Gedankens nicht erwehren, daß der Tod oder anderer Unrat hinter der unnatürlichen, tückischen Stille lauert. Es ist, als starre ein ungeheurer Schlangenblick aus unbeweglichen Pupillen einen an. Ich erinnere mich dieses ersten Eindruckes noch deutlich aus meinen ersten Javajahren.

Die Eingeborenen überwinden diese Furcht niemals ganz. Sie wagen sich nicht allein hinein. Sie glauben, daß die Seelen böser Menschen vorübergehend Aufenthalt in dem tiefen Schlamm unter den Mangroven nehmen. Ihre Seufzer und ihr Atem sind es, die alle anderen Laute töten.Siehe Seite 108. – Anmerkung bei Herausgebers.

Sowohl Tongu wie Toko kennen das Fahrwasser. Dort, wo der Wasserarm plötzlich nach rechts abbog, ruderten sie ans linke Ufer und geradeswegs ins Schilf hinein.

Ein ungeheurer Mangrovebaum lag dort vom Alter gefällt. Er hatte seine Luftwurzeln gesprengt, die wie die Rippenstummel eines zerquetschten Brustkastens um ihn herumragten. Die Lianen hingen schlaff von den Nachbarbäumen herab und drehten sich frei in der Luft wie mächtige, zerrissene Spinnenfäden; andere hatten gehalten, aber waren bis zum Zerreißen gestrammt, als wären sie von Menschenhand zur Vertäuung des Riesen ausgespannt, bei dessen Fall ein Lichtloch in die blaue Luft gerissen worden war – ein Loch, das die Nachbarbäume erst nach langer Zeit wieder ausfüllen konnten.

Während Tongu das Kanu festhielt, kletterten Toko und ich auf den Stamm hinauf, der bereits an mehreren Stellen morsch war und unter uns zusammenbrach. Jeden Augenblick dachte ich: jetzt kracht die ganze Geschichte zusammen und versinkt mit dir in die schwarze Lauge, die sauer und verfault zu uns hinaufstinkt.

Als wir das grüne Ende des Stammes erreicht hatten, das zerschmettert zwischen zwei anderen Mangroven lag, ruderte Tongu weiter. Toko beruhigte mich. Wir würden ihn schon wiederfinden.

Der gestürzte Stamm hatte uns über das Schlimmste hinweggeholfen; aber wir mußten uns doch noch ein gutes Stück von Ast zu Ast schwingen, bevor wir auf einem Boden Fuß fassen konnten, der wenigstens nur sumpfig war.

Hier war besser Platz. Wir befanden uns am Eingang zu einer Lichtung, der wir folgten. Und plötzlich standen wir auf einem offenen Stück mit Farnen, die uns bis an die Brust reichten; und als wir sie durchschritten hatten, kamen wir in hohes Alang-Alanggras und hatten den Himmel frei und blau über unseren Köpfen.

Drüben, auf der anderen Seite der Lichtung, lag der Brotfruchtbaumwald, von dem Toko gesprochen hatte. Strahlende, dunkelgrüne Kronen, die sich ihre Zweigarme entgegenbreiteten, mit großen, breiten Blättern, die fast die Brust eines Mannes decken konnten.

Zwei Vögel mit Schwingen wie große Eulen schwebten über den Baumkronen.

Ich wollte schießen, Toko aber packte mich am Arm.

»Das sind fliegende Hunde!« flüsterte er. »Warte, bis sie sich setzen. Sie haben jetzt Schlafenszeit. Der Schwarm sitzt bereits in den Bäumen.«

Sie kreisten ein paarmal herum, als suchten sie sich einen bequemen Baum aus. Dann sanken sie herab, fielen durch ihre eigene Schwere, indem sie plötzlich ihre Flughaut an den Körper legten. Als sie die Baumkrone erreicht hatten, breiteten sie die Flügel wieder einen Augenblick aus, bis sie Fuß gefaßt hatten. Mit einem leisen Aufklatschen schlugen sie einen Purzelbaum auf den Blättern. Ein gedämpftes Pfeifen und Knurren erklang von dem Schwarm, der bereits zur Ruhe gekommen war und jetzt in seinem Schlaf gestört wurde. An dem Zittern der Blätter konnten wir sehen, wie die Zweige von ihrer Last niedergedrückt wurden.

Wir blieben stehen, bis alles ruhig geworden war. Dann schlichen wir hinüber.

Hoch oben unter den Kronen, in dem kühlen, dunklen, kristallklaren Blätterschatten hingen sie Reihe neben Reihe und in Etagen längs der Zweige. Sie hingen dort zu Hunderten, wie Schinken auf einem Rauchboden, die Köpfe nach unten, in ihre Flughaut eingehüllt, ohne Bewegung. Nicht das geringste Zittern war zu spüren. Wer nicht wußte, was es war, hätte diese Dinger nie für Tiere gehalten. Vielleicht für die Nester der Töpfervögel oder für eine andere kunstfertige Tierindustrie, aber nicht für lebende Wesen.

Ich zielte mit Behutsamkeit, schoß, aber das Tier blieb unberührt hängen. Nicht einmal angeschossen schien es mir zu sein. Ich schoß wieder. Dasselbe Resultat.

So fehlgeschossen hatte ich nicht, seit ich als grüner Junge in Amsterdam Dachratten herunterzuknallen versuchte.

Ich wollte noch einmal schießen. Aber da kam Bewegung in den Schwarm. Die Köpfe mit den spitzen Ohren wurden von der Flughaut befreit. Eins, zwei, drei, waren sie oberhalb der Äste, wobei sie wie kleine Affen schrien, durch die Blätter, und fort. Nur einer blieb hängen. Plötzlich aber ließ er den Zweig los und fiel, ohne seine Flügel auszuspannen, zur Erde, als hätte er an einer Schnur gehangen, die plötzlich gerissen war.

Toko, der seine Pfeile aufsparte, bis er Tiere fand, die weniger hoch hingen, lachte über mein Erstaunen, als ich das Tier mausetot auf der Erde liegen sah. Er wußte, daß es noch ganze fünf Minuten nach dem Tode an seiner großen Zehe hängen bleiben kann. Erst wenn die Sehne ganz schlaff geworden ist, wird das Glied durch die eigene Schwere des Tieres geöffnet.

Das war die Erklärung für die Fehlschüsse.

Jetzt gingen wir suchend von Baum zu Baum. Die Tiere waren aus ihrem Mittagsschlaf aufgescheucht worden. Schließlich, ein Stück weiter fort, fanden wir wieder einen Schwarm. Ich schoß einige. Aus Neugierde, denn es ist ja das reine Scheibenschießen. Ich muß außerdem sparsam mit meiner Munition umgehen, denn die Zeit ist nicht mehr fern, wo ich mich mit Pfeil und Bogen begnügen muß.

Die Eingeborenen töten auch nicht viele. Die Männer dürfen sie nicht essen. Und in der Regel hängen sie zu hoch für die Pfeile der Eingeborenen. Nur diejenigen, die sich in die angepflanzten Brotfruchtbäume setzen, werden ohne Gnade getötet, weil sie die Frucht fressen. Das wissen die klugen Tiere und kommen darum erst in der Nacht.

Der letzte, den ich traf, breitete zitternd im Fallen seine behaarte Flughaut aus und schlug schlaff gegen Zweige und Blätter. Als ich ihn fand, waren seine Augen gebrochen. Unter der Flughaut aber, die sich im Tode wieder zusammengezogen hatte, spürte ich eine Bewegung, und als ich die Flügel mit Gewalt zurückgebogen hatte, sah ich ein Junges, das sich mit gespreizten Armen und Beinen an den Bauch geklammert hielt. Die dünnen Flughäute des Jungen klebten so fest an dem noch warmen Körper der Mutter, den sie fast verdeckten, daß ich es nicht loslösen konnte. Es war fast neugeboren und nicht viel mehr als ein Skelett mit einem seltsamen Greisenkopf. Es kümmerte sich gar nicht um mich; sein ganzes Leben saß in seiner Schnauze, die fortfuhr, aus dem Euter der toten Mutter zu saugen. Das Junge selbst war nicht getroffen.

Wir wanderten weiter durch Gras und mannshohe Farne, bis wieder eine Lichtung kam.

»Die Steine unserer Väter!« rief Toko und zeigte geradeaus.

Und dann waren wir da.

Die Steine unserer Väter sind eine Ruine. Große, längliche Basaltblöcke liegen in einem länglichen Viereck lose übereinander und bilden einen Hof. Es war auch etwas da, das wie ein Tor aussah.

In einem kleinen Steinbassin, das tief im Schatten von Farnen fast ganz überwachsen dalag, war Wasser, das irgendwo aus dem Erdboden hervorsprudelte. Das Wasser war ganz frisch und in gleicher Höhe mit dem Steinrand. Es muß also eine Quelle sein.

Toto wußte nichts weiter, als daß diese Steine einst zur Verteidigung von »unseren Vätern« errichtet worden waren, einem großen und mächtigen Volk, das mit den anderen Inseln Krieg geführt und mit Kanus, die viel größer waren als unsere, zu fernen Inseln gefahren war, die niemand mehr kannte.


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