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An der Dämmerung kam Svend von selbst.
Kamma war mit ihm und v. Falk zusammengetroffen und hatte von Ellen berichtet. Svend war dann umgekehrt, um sie beim Konditor abzuholen, aber sie war schon fort gewesen.
Er hatte die sichere Empfindung, daß Ellen böse auf ihn sei; er selbst hatte auch kein gutes Gewissen, weil er sich so schnell von ihren Besuchen hatte vertreiben lassen.
Um sie zu erfreuen und zu versöhnen, verschaffte er sich Billette für das Königliche Theater für den Abend. Die Oper Faust wurde gegeben, mit dem Kammersänger in der Titelrolle.
Ellen wurde froh, als sie seine Stimme im Entree hörte; aber sie verbarg es, weil sie sich vorgenommen hatte, ihn zu strafen.
Sie ging ihm feierlich entgegen und sah streng aus.
»Nun, Herr Byge,« sagte sie spitz, »beehren Sie uns endlich einmal mit Ihrem Besuch?«
»Nun, gnädiges Fräulein,« antwortete Svend ebenso, »tun Sie uns endlich mal die Ehre an, uns allein zu empfangen?«
Sie sahen sich eine Weile an. Dann konnte Ellen ein Lächeln nicht unterdrücken. Ärgerlich auf sich selbst, versuchte sie das Lächeln zu verleugnen, Svend aber hatte es gesehen und legte sanft den Arm um ihre Taille.
Sie entwand sich ihm, so daß Svends Kuß nur eben ihre Wange streifte.
Dann stellte sie sich ihm gegenüber.
»Darf ich fragen, was es bedeuten soll, daß du dich nie mehr blicken läßt?« fragte sie, aber ihr Ton war bereits milder.
»Ich wollte dich fragen, ob du heute abend mit in das Königliche Theater gehen willst. Es wird Faust gegeben. Aber du hast vielleicht keine Lust?«
»Ich weiß nicht recht, ob ich Lust habe.«
Svend steckte die Billette in die Tasche und sagte nichts.
Ellen trat von einem Fuß auf den anderen. Dann schlang sie die Arme um seinen Hals, legte den Oberkörper zurück und sagte gereizt: »Küß mich doch, du dummer Junge!«
Es wurde ein langer Kuß. Erst als sie ein Geräusch im Nebenzimmer hörten, ließen sie sich los.
Jetzt bekam Ellen es eilig. Sie hatte kaum eine halbe Stunde, um sich fertig zu machen. Svend ging solange zu Kruse hinein.
Während sie ihr Haar vor dein Toilettenspiegel ordnete, dachte sie an das, was Emmy ihr gesagt hatte; aber sie hatte kein Herzklopfen mehr.
Sie lachte triumphierend beim Gedanken an die Bestellung des Prinzen. Obgleich sie nach einem Erlebnis wie Emmys brannte, fiel es ihr natürlich nicht einen Augenblick ein, der Aufforderung des Prinzen nachzukommen.
Sie dachte einen Augenblick daran, Svend ein heimliches Souper vorzuschlagen; aber sie war sich gleich klar darüber, daß das gar nicht amüsant sein würde. Das Spannende, das Reizvolle lag ja gerade in dem Verbotenen, dem Geheimnisvollen, daß man ganz allein mit einem fremden Mann war – gleichsam außerhalb der Gesellschaft – ohne daß man das geringste dabei riskierte. Dieses Kitzelnde, daß man die fürchterlichsten Dummheiten begehen konnte, wenn man wollte, ohne daß ein Mensch etwas davon ahnte. Und ihn dann nachher in Gesellschaften und auf der Straße zu treffen und ganz harmlos zu tun.
Wenn sie wenigstens heimlich mit Svend verlobt wäre, so hätte es angehen können.
Sie hielt einen Augenblick inne und überlegte.
Nein. Er würde sich doch nicht dazu eignen. Sie wußte nicht recht, woran es lag. Aber es war dasselbe wie damals in Paris, als sie ihm vorgeschlagen hatte, mit ihr in ein Nachtcafé im Quartier latin zu gehen, als er gleich von ihrem Papa gesprochen hatte.
Svend hatte nichts Aufreizendes. Er war zu rechtschaffen.
Sie stellte sich die verschleierten Augen des Prinzen vor. Allein die Art, wie er die Brauen hob, wenn er von etwas gefesselt wurde. Das verborgene Lächeln unterm Bart.
Ja, er paßte für ein heimliches Souper en deux.
Sie war stolz auf die Eroberung, die sie gemacht hatte. Sie fühlte sich geschmeichelt über diese Aufforderung von einem so verwöhnten Frauenkenner, und war übermütig, weil sie selbst kein bißchen angegriffen, nur ein wenig interessiert war.
Wie war es himmlisch, Macht über jemanden zu haben, ohne selbst gefesselt zu sein!
Als sie in der Droschke saßen, drückte sie sich in ihrem neuen Siegesgefühl an Svend und reichte ihm glückstrahlend ihren Mund.
Es wurde wieder ein langer Kuß – so lang, daß Ellen sich plötzlich losriß und sich ängstlich zitternd in eine Ecke drückte, während Svend mit glühendem Kopf und klopfendem Herzen flehend wieder und wieder ihren Namen flüsterte.
Aus ihrer dunklen Ecke heraus lugte sie nach seinem funkelnden Blick und dachte bei sich, ob sie ihn nicht doch vielleicht zu einem heimlichen Souper auffordern sollte.
Sie kamen spät. Es hatte schon geläutet. Ellen hatte kaum Zeit, ihr Haar vor dem Spiegel zu ordnen.
»Sehen Sie die da!« flüsterte ein befrackter Herr einem anderen zu, indem sie hinter ihr vorbeigingen. Sie wußten nicht, daß Svend zu ihr gehörte.
Ellen sah am besten in Gesellschaftstoilette aus. Das seidenfeine Haar wie eine lichte Wolke über der klaren Stirn; die sanften, blauen Augen und die zart rosigen, diskret gepuderten Wangen, der gespitzte, lächelnde Mund; der Nacken mit seinem reinen Bogen; der blendende Hals und der Puls, der unter dem engen Rubinband mit seinem einschmeichelnden Ein und Aus lockte.
Svend war stolz auf sie.
Im Parkett leuchtete es munter von weißen Handschuhen, entblößten Schultern und hellen Seidenblusen, von Glatzen und feierlichen, weißen Vorhemden.
Die Damen waren damit beschäftigt, ihre Handschuhe zu knöpfen, während die Herren ihre Operngläser auf den Balkon richteten.
Die Instrumente schwatzten und plauderten in allen Tonarten wie Kinder vor der Schulstunde. Ein Cello klagte mit einer dünnen Kinderstimme zwischen den gebieterischen Violinen.
Der Kapellmeister ging an seinen Platz und grüßte die Musiker, die in seiner nächsten Nähe saßen.
Dann erklang das Signal von der Bühne. Der Dirigent schlug mit dem Taktstock auf. Die Ouvertüre begann.
Ellen, die nicht sonderlich musikalisch war – sie hörte erst zu, wenn gesungen wurde –, sah sich im Halbdunkel des Raumes nach Bekannten um.
Plötzlich fiel ein Lichtschein aus der Königlichen Loge über das Parkett.
Der König und der Kronprinz kamen herein und nahmen in der ersten Reihe Platz. Hinter ihnen wurde Prinz Adolphs hohe Gestalt sichtbar.
Er blieb eine Weile stehen und blickte über das Parkett, bevor er sich setzte.
Ellens Herz klopfte. Sie dachte an Emmys Bestellung und blickte verstohlen hinauf.
Im selben Augenblick setzte er das Opernglas an die Augen, die runden Gläser waren gerade auf sie gerichtet. Sie merkte sie trotz der Entfernung auf ihrem Hals und schlug die Augen nieder.
Kein Zweifel, er hatte sie erkannt.
Svend flüsterte: »Der Prinz!«
Ellen richtete sich auf und heftete den Blick geradeaus, so daß er sie im Profil zu sehen bekam; das war ihre starke Seite, wie sie wohl wußte. Nicht ein einziges Mal wandte sie den Kopf, bevor der Vorhang aufging.
Erst als Mephisto in der Zelle auftauchte und das Interesse des Publikums sich erwärmte, erst da versuchte sie einen vorsichtigen Blick nach oben.
Sein Auge fand sie sofort. Bevor sie noch Zeit hatte, fortzusehen, grüßte er langsam und diskret.
Ellen fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. Sie hatte die deutliche Empfindung, als läge eine Frage in seinem Blick.
Sie beugte den Kopf zum Gegengruß; im selben Augenblick aber fürchtete sie, daß er es für eine Antwort und für ein Ja halten könnte. Deshalb tat sie, als ob sie das Programm verloren habe, und bückte sich, um es aufzuheben.
»Hat er gegrüßt?« fragte Svend.
»Ich glaube kaum!« sagte Ellen und blickte gespannt auf die Bühne, wo Faust gerade im Begriff war, den Becher zu leeren.
Als der Kammersänger einen Augenblick danach in strahlendem Jugendglanz auftauchte, wobei er seine schöne Gestalt in dunkelblauem Sammet, mit wehendem Federbarett und strammen, weißen Trikots zeigte, richteten alle Damen ihre Operngläser auf ihn.
Ja, so sah er in ihren Träumen aus – der Glücksritter, der durch das lächelnde Leben vorwärtsstürmt und alle Frauen zu seinen Füßen zwingt.
Als er in der Marktplatz-Szene Margarete auf ihrem Kirchgang entgegentritt und sich vor ihr verneigt, während die erwachende Liebe ihm durch alle Glieder zittert, gab es nicht viele Mädchenherzen, die nicht Zeit und Stunde vergaßen und sich einen Augenblick an Margaretens Stelle träumten.
Es war nicht nur der zitternde Wohlklang der Stimme, der über die kleine und graue Wirklichkeit Kopenhagens hinaus in das lichte Himmelreich der Liebe hineintrug, es war die starke Jugend der Gestalt, die edle Haltung des Kopfes, die schönen Hände, die Gefühle wie aus unsichtbarem Leben zu formen verstanden.
Ellen stand wie alle anderen unter der Verzauberung. Wenn der Kammersänger seine Liebe heraussang, schwangen auch in ihr die Saiten mit. Sie vergaß den Prinzen und Svend, der mit blitzenden Augen neben ihr saß und den Traum in seinem Herzen aufnahm.
Als die Mondscheinszene vorbei war und Faust unterm Fenster Margarete in seinen Armen herzte, während Mephisto in der Gartenpforte stand und grinste und der Vorhang gefallen war – als Ellen sich ihre Hände müde geklatscht und mit den anderen zur Wirklichkeit erwacht war, da war es leer auf dem Platz des Prinzen. Er und der Kronprinz waren gegangen.
Das Stück war vorbei.
Ellen und Svend gingen über den Königsneumarkt, um in einem Restaurant zu Abend zu essen.
Es war herrliches Oktoberwetter mit einem hohen, funkelnden Sternenhimmel und einem scharf gezeichneten Halbmond.
Die Luft war so leicht und erhebend, daß Ellen in einer plötzlichen Freudeaufwallung Svends Arm ergriff und sagte:
»Du, ich hab keine Lust, in ein langweiliges Restaurant zu gehen. Wir wollen irgendwohin, wo es amüsant ist.«
»Wohin?
Im selben Augenblick fuhr eine Droschke voll vergnügter junger Leute vorbei, deren Zigarrenglut auf warme, satte Gesichter fiel. Sie lachten laut über eine lustige Geschichte, und einer von ihnen nannte den Namen der Varieteésängerin Rigmor Jensen.
»Ach, Rigmor Jensen!« Ellen griff es mit Begeisterung auf und drängte sich an Svends Arm. »Laß uns dorthin gehen!«
»Das geht nicht an!« sagte Svend und dachte an die gewagten Lieder der berühmten Dame.
»Emmy und Kamma sind auch dagewesen. Warum soll ich immer die Tugendhafte sein. Ich will sie sehen.«
Ihre Lust steckte ihn an. Er schlug ein und im nächsten Augenblick saßen sie in einer Droschke.
Ellen war selig. Bald funkelten ihre lebenslustigen Augen in dem vorbeihuschenden Licht einer Straßenlaterne, bald verloren sie sich in der Dunkelheit. Es war etwas festlich Aufreizendes in diesem Aufleuchten und Verlöschen.
Svend ergriff ihre Hände und drückte sie leidenschaftlich gegen seine Brust. Sie erwiderte seinen Druck und betrachtete ihn mit warmen Blicken. Svend legte seinen Arm um sie und zog sie in die Dunkelheit des Sitzes zurück. Sie drückte sich hastig an ihn und reichte ihm ihren Mund. Zum drittenmal trafen ihre Lippen sich in einem langen Kuß. Sie machte sich atemlos frei: »Du erstickst mich ja, Svend!« flüsterte sie.
Ihre weißen Zähne lachten ihm hinter den geöffneten roten Lippen entgegen. Sein Arm ließ sie nicht los. Kaum war sie wieder zu Atem gekommen, als er von neuem ihren Mund suchte. Sie ließ es geschehen; einen Augenblick danach riß sie sich plötzlich los, zog sich scheu in die dunkle Ecke zurück und sah ihn neugierig an.
»Ellen!« flüsterte er und versuchte sie wieder an sich zu ziehen.
»Aber Svend!« sagte sie und stieß ihn zurück.
Er saß erhitzt und enttäuscht da und blickte aus dem Fenster.
»Ellen!« platzte er heraus. »Es ist nicht mehr zum aushalten.«
Sie verstand sehr gut, was er meinte. Aber sie wollte es nicht eingestehen.
»Was?« fragte sie fromm und befreite ihr Kleid von seinem Knie.
Er wandte sich ihr hastig zu, nahm ihre Hand und küßte sie.
»Verstehst du mich wirklich nicht?« fragte er so zärtlich, daß sie Mitleid mit ihm bekam.
Statt einer Antwort beugte sie sich vor und küßte ihn auf die Wange.
Im selben Augenblick tauchte die erste Laterne des Varieteés auf. Sie richtete sich auf, glättete ihren Anzug und sagte:
»Wir machen nun ja bald Hochzeit.«
Dann hielt der Wagen vor dem hellerleuchteten Portal.