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Amalie, eine ältere Kusine seiner Mutter, war eine sehr wohltätige Dame, die mit ihren beiden unverheirateten Töchtern von dem hinterlassenen Vermögen ihres verstorbenen Mannes lebte.
Als Gerda während der Weihnachtsferien bei ihr gewesen war, hatte Svend sie näher kennen gelernt und sich das Versprechen abnehmen lassen, sie an einem Mittwochabend, wenn sie ihren Nähverein hatte, an dem sie die Töchter von Verwandten und Bekannten um sich versammelte, zu besuchen.
Es wurden für Waisenhauskinder Unterröcke genäht und Strümpfe gestrickt; und um die Weihnachtszeit machte man Geschenke für die private Bescherung des Wohltätigkeitsvereins.
Tante Amalie mit den Hängelöckchen war eine sanfte, aber unsagbar energische Dame, die großes Ansehen in den religiösen Wohltätigkeitskreisen der Hauptstadt genoß.
Ihre Töchter, die nicht mehr in der ersten Jugendblüte standen und auf die das stille, entsagende Leben nicht gerade verjüngend gewirkt hatte, wurden besonders von solchen Damen aufgesucht, die sich aus irgendeinem Grunde ein gutes Zeugnis zu verschaffen wünschten.
So kam man denn hin und wieder dahinter, daß sich ein schwarzes Schaf in die weiße Herde eingeschmuggelt hatte. Dann entfaltete Tante Amalie unter vier Augen ihre sanfte, aber energische Autorität. Das schwarze Schaf verschwand aus dem Mittwochabend-Kreise; und wie in stillschweigender Übereinkunft fragte niemand nach der Fehlenden.
Svends Mutter hatte ihn gebeten, Tante Amalie eine Bestellung zu machen; und da er ihr immer noch einen Besuch schuldete, so faßte er einen kurzen Entschluß und ging hin.
Das Schicksal und seine Vergeßlichkeit wollten, daß er gerade in einen Mittwochabend hineinplatzte.
Das Mädchen, das ihm im Entree beim Ablegen behilflich war, konnte an der überfüllten Garderobe kaum einen Platz für seinen Überzieher finden. Svend sah mit einem hastigen Überblick, daß außer der seinen keine einzige männliche Kopfbedeckung vorhanden war.
Verflucht und zugeknöpft! Jetzt aber saß er in der Falle und mußte schleunigst ein freundliches Gesicht aufsetzen.
Svend trat in das geräumige, altmodisch möblierte Zimmer, wo Tante Amalie mit der Brille auf der Nase am Tisch saß und vorlas, von einem Schwarm junger handarbeitender Damen umgeben.
Tante Amalie war gerührt, da Svend sich ihres Abends erinnert hatte. Und nachdem er die Bestellung seiner Mutter überbracht und einige Fragen nach dem Wohlergehen der Seinen beantwortet hatte, wurde er aufgefordert, das Amt des Vorlesens zu übernehmen.
Es wurde auf dem Sofa, an der rechten Seite der Tante Platz gemacht, wo eine junge, schlanke, rotblonde Dame bereitwillig zur Seite rückte, was ein allgemeines Zusammenrücken des ganzen Kreises unter befreiendem Gelächter und Scherzen zur Folge hatte.
Als er am Titelblatt sah, was es war, das er vorlesen sollte, eine Übersetzung aus dem Englischen von dem »Leben in der Welt mit besonderem Hinblick auf die schwierige Lage der alleinstehenden Frau«, da konnte er eine plötzliche Lachlust kaum unterdrücken.
Da, im selben Augenblick wurde er unterm Tisch angestoßen, ganz wenig, aber deutlich – wie in der Schule.
Svend blickte vorsichtig zur Seite, die Rotblonde aber saß mit einem ganz ernsten Gesicht da und nähte an einem Kinderhemdchen.
»Nichts ist wohltuender und gleichzeitig vergnüglicher für die weibliche Jugend als sich an langen Winterabenden in gemeinsamer Beschäftigung um den Wohnstubentisch zu versammeln.«
Hier konnte Svend es nicht unterlassen, seiner Nachbarin einen kleinen Seitenblick zuzuwerfen. Und richtig. Sie hob den Kopf, um einen Faden durchzubeißen, und dabei begegnete er einem dunklen Blick, der von verborgener Lustigkeit blitzte, während die weißen Zähne ihn anlachten, indem sie zubissen.
»Sie amüsieren sich wohl ordentlich heute abend,« sagte der Blick.
Von jetzt ab bereute er es nicht mehr, daß er zu Tante Amalie gekommen war, und jedesmal wenn er glücklich eine besonders schwülstige Stelle hinter sich hatte, blickten sie sich verstohlen an und amüsierten sich köstlich.
Bevor er mit dem Pensum zu Ende war, das Tante Amalie für den Abend bestimmt hatte, hatte Svend sich einen neuen und noch dazu einen weiblichen Kameraden gewonnen.
Beim Abendbrot saßen sie sich gegenüber, und den Rest des Abends, während von mehreren verlegenen jungen Mädchen gesungen und gespielt wurde, lächelten sie sich jedesmal, wenn ihre Augen sich trafen, verstohlen zu.
Es war, als hätten sie sich schon lange gekannt; und Svend überlegte, wie er es einrichten könne, sie nach Hause zu begleiten, damit sie sich ordentlich aussprechen und ihrer Heiterkeit die Zügel schießen lassen könnten. Sie war sicherlich voller Humor.
Als man schließlich aufbrach und die Damen im Entree ihre Mäntel anzogen, sagte die Rotblonde zu Tante Amalie, die mit übereinandergelegten Händen mütterlich in der Tür stand und sich angelegentlich erkundigte, wie jede einzelne nach Hause käme:
»Ich kann nicht begreifen, wo mein Mädchen bleibt. Ich habe ihr gesagt, daß sie mich um elf Uhr abholen soll, und jetzt ist es schon halb zwölf.«
Svend erbot sich eilfertig, sie nach Hause zu begleiten.
Die junge Dame dankte, ohne ihn anzusehen; und Tante Amalie freute sich über ihren artigen Neffen, der ihnen allen solch vergnügten Abend bereitet hatte.
Kaum hatten sie sich von dem übrigen Schwarm getrennt, der sich nach den verschiedenen Straßenbahnen hin verteilte, als sie rasch ausschreitend und den Kopf vor dem Wind neigend, in ein klingendes Gelächter ausbrach:
»Wie ist es nur möglich, daß ein Mensch so viel Vergnügen auf einmal vertragen kann?«
Er kam so ins Lachen, daß er stehen bleiben mußte, um Luft zu bekommen. Sie stand dicht vor ihm und genoß sein Lachen, während sie ihn mit ihren strahlenden, klugen und munteren Augen betrachtete.
»Wie können Sie das so Mittwoch für Mittwoch aushalten, gnädiges Fräulein?« fragte er schließlich. »Oder sind Sie nur hin und wieder da?«
»Ich bin jeden Mittwoch da, den Gott geschaffen hat. Im übrigen bin ich nicht Fräulein, sondern Frau.«
Svend war ganz verblüfft.
»Entschuldigen Sie, ich konnte unmöglich alle Namen behalten. Wie hießen Sie doch noch?«
»Agnete Grönvold!«
»Ich dachte übrigens, daß Tante Amaliens Versammlungen nur für unverheiratete Frauen da seien, für solche, die für das Leben in der Welt ausgebildet werden sollen.«
Sie bedachte sich eine Weile, bevor sie antwortete. Dann sagte sie schnell:
»Das sind sie eigentlich auch. Mit mir hat das aber so eine eigene Bewandtnis. Davon will ich Ihnen ein andermal erzählen.«
Es freute ihn, daß sie ohne weiteres davon ausging, daß sie sich häufiger sehen würden.
»Ich bin nämlich geschieden, will ich Ihnen sagen,« fügte sie hinzu, ohne ihn anzusehen. »Aber ich bin mit Anna und Marie zusammen zur Schule gegangen, und da mein Mann die ganze Schuld hatte« – sie sagte es ganz freimütig – »so bin ich in Tante Amaliens Augen eine Märtyrerin und genieße ihre ganz besondere Sympathie. Ich sitze immer bei ihr im Sofa und langweile mich unbeschreiblich. Sie ist im Grund ein guter Mensch, und ich möchte sie ungern kränken.«
Sie blieb plötzlich stehen und blickte ihn ernst mit ihrem dunklen Blick an.
»Sie wissen nicht, wie dumm es ist, so jung zu heiraten. Und Sie müssen nicht glauben, daß ich mich unglücklich fühle, weil ich geschieden bin. Im Gegenteil! – Jetzt bin ich erst recht frei, viel freier als vorher und will mich ordentlich amüsieren.«
Svend wußte nicht, was er antworten sollte. In den Kreisen, in denen er sich bis jetzt bewegt hatte, war ihm noch nie in so kurzer Zeit ein so offenes und ehrliches Vertrauen von einer Dame entgegengebracht worden. Es rührte ihn tief; er hätte sie auf offener Straße dafür umarmen mögen; aber er fand keine Worte.
Sie mißverstand sein Schweigen und warf den Kopf in den Nacken.
»Sie finden gewiß, daß ich eine komische Pflanze bin – so offenherzig, nicht? – Gleich beim ersten Zusammensein.«
»Nein!« versicherte er.
»Doch, doch! – Aber das kommt vom Pensionatsleben, da ist der Ton so offen und natürlich. Es ist mir zur Gewohnheit geworden, so frei heraus zu sprechen. Aber ich glaube wohl, daß ich häufig bei den Alten Anstoß errege. Na – da pfeife ich drauf.«
»Wenn doch alle wie Sie wären!« sagte er aufrichtig und ging unwillkürlich ganz nahe an sie heran.
Sie blickte hastig von der Seite zu ihm auf, als sähe sie ihn plötzlich in einem anderen Licht.
»O, Sie wissen nicht, wie amüsant es in meinem Pensionat ist!« sagte sie, »wo wohnen Sie denn?«
Er sagte es ihr. Dann wollte sie Näheres über seine Lebensweise wissen, und sie lachte, als er ihr erzählte, daß er sich Frühstück und Abendbrot selbst besorgte.
»Nein, daß Sie dazu Lust haben! Weshalb wohnen Sie nicht in einem Pensionat?«
Plötzlich wandte sie sich ihm wieder ganz zu und sah ihm in die Augen.
»Wissen Sie was? Bei uns ist ein Zimmer frei. Das sollten Sie nehmen. Ich glaube, es wird Ihnen in unserem Kreis gefallen.«
Svend wurde es ganz heiß. Sein Herz klopfte stark; fast hätte er sofort zugeschlagen. Im nächsten Augenblick aber fand er doch, daß noch mancherlei zu überlegen sei; er war es nicht gewöhnt, so Hals über Kopf Beschlüsse zu fassen.
Er erkundigte sich vorsichtig nach dem Preise und machte einen schnellen Überschlag im Kopf. Na, das Ökonomische würde er schon einrichten. Die Lage war auch gut. Und die Gesellschaft – ach, sie war so heiter und natürlich und so wundervoll frei. Es schien sich ihm ein ganz neuer Horizont von Jugend und Schönheit zu öffnen.
Als sie ihre Haustür erreicht hatten, sah er zum Haus hinauf und stellte es sich bereits als sein künftiges Heim vor.
Sie reichte ihm ihre kleine unbefangene Hand mit einem festen Druck, sah ihm mit einem munteren Blick in die Augen, und sagte:
»Na, Herr Studiosus, wollen Sie – oder wollen Sie nicht?«
»Ich will!« sagte er fest und drückte die Hand, die noch in seiner lag.
»Morgen melde ich mich bei Frau Severine Jensen –, hieß sie nicht so? – und miete auf Ihre Verantwortung hin.«
Sie zog plötzlich bedenklich ihre Hand zurück.
»Nein, ich übernehme keine Verantwortung. Ich weiß ja nicht, wie verwöhnt Sie sind. Und Pensionskost ist immer Pensionskost, wie Sie wohl wissen.«
»Auf Ihre Verantwortung!« wiederholte er lächelnd. »Schlagen Sie ein?«
»Also gut! – Sie sind wohl nicht verwöhnter als wir anderen!«