Laurids Bruun
Aus dem Geschlecht der Byge. Erster Band
Laurids Bruun

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12

Es war eine selige Zeit, die jetzt folgte.

Agnete verstand es, die anderen mit völliger Selbstbeherrschung über ihr Verhältnis zu täuschen, während Svend sich häufig mit gespielter Verdrossenheit waffnen mußte, als hätte sie ihn gekränkt, um sich bei den Mahlzeiten nicht zu verraten.

Ihre Selbstbeherrschung erweckte neben seiner Bewunderung ein peinliches Nachdenken in ihm über die Erfahrungen, die sie bereits in heimlicher Liebe gemacht zu haben schien. Sie sprach nur selten und ungern über das Verhältnis zu ihrem geschiedenen Mann. Svend hatte aus gelegentlichen Äußerungen entnommen, daß sie außer ihrem Mann noch einem anderen sehr nahe gestanden hatte.

Er fand es undelikat zu fragen; aber er wünschte sehnlichst, daß sie ihm eines Tages alles ohne Vorbehalt erzählen würde.

Agnete lebte dem Augenblick. Unbekümmert um Vergangenheit und Zukunft gab sie ihm, was ein Augenblick enthalten konnte, und verlangte dasselbe von ihm.

Wenn er von der Zukunft zu sprechen begann, lachte sie ihn aus und küßte ihm die Worte von den Lippen.

Wozu all dieser Ernst? – Konnten sie sich nicht ohne Überlegung wie zwei junge lebensfrohe und gesunde Menschen zusammen amüsieren?

Eines Tages sagte sie im Scherz zu ihm, daß er es seinem Zimmer zu verdanken habe, daß sie so schnell die seine geworden sei. Denn solch verlockender Gelegenheit, sich ungehört und ungesehen zu jeder Tageszeit zueinander zu schleichen, könne kein warmblütiger junger Mensch widerstehen.

Diese Worte mißfielen ihm sehr.

Wenn er nun auszöge und ein anderer sein Zimmer bekäme, würde sie dann denselben heimlichen Weg gehen?

Sie sagte neckend:

»Ja, warum nicht?«

Er kehrte ihr den Rücken und trommelte irritiert gegen die Fensterscheibe.

Sie ging zu ihm, faßte ihn von hinten um den Kopf und sagte weich:

»Du mußt doch Scherz verstehen!«

Da trafen sich ihre Blicke warm und voll, und ihre Lippen suchten sich hastig.

 

Diese Liebesmonate bewirkten nicht nur in Svends Lebensweise, sondern auch in seinen Anschauungen eine durchgreifende Veränderung. Er wurde, wie Agnete es wollte, radikal mit den Radikalen, jung mit den Jungen.

Wenn er bisher mit der älteren Generation gegangen war, zu ihrer Lebensanschauung geschworen hatte, so verstand er jetzt, daß es nicht nur aus einer kritiklosen Anerkennung des Althergebrachten geschehen war, sondern weil er unwillkürlich den Geist des Milieus eingesogen hatte, in dem er verkehrte, so wie die dünne Zellenhaut der Pflanze den Saft ihres Erdreichs trinkt.

Er lachte höhnisch über sich selbst, wenn er daran dachte, wie er sich übermütig als freier Geist gefühlt hatte, der nur durch das Versprechen an Onkel Kasper gebunden war, während er in Wahrheit selbst noch gar nicht denken, noch nicht persönlich urteilen gelernt hatte. Das erkannte er jetzt klar und deutlich.

Etwas aber quälte ihn nach seiner Freimachung, wie er es nannte, und das war das Gefühl, daß er denen zu Hause, seiner Mutter und Gerda, noch mehr entfremdet worden war als früher.

Das zeigte sich, als er in den Weihnachtsferien zu Hause war, so daß er seine Meinungen auf religiösem und moralischem Gebiet gar nicht zu äußern wagte und seinen Aufenthalt unter dem Vorwand, arbeiten zu müssen, abkürzte und nach Kopenhagen zurückeilte.

Noch lange nachher erinnerte er sich des Blickes, den seine Mutter ihm zuwarf, als er schon im Kupee stand und sich abschiednehmend zu ihr und Gerda hinausbeugte – eines betrübten, verstehenden Blickes, der besser als Worte sagte, daß sie wisse, sie habe ihn verloren, aber hoffe, daß er doch noch ein guter Mensch sei.

Er fühlte, wie das Blut ihm unter diesem Blick in die Wangen stieg, und im Bedürfnis nach einer Zuflucht suchten seine Gedanken Agnete, die er während seines ganzen Aufenthalts mit keinem Wort erwähnt hatte.

Als der Zug sich in Bewegung setzte und die beiden Menschen, die ihm so teuer waren, immer kleiner und undeutlicher wurden, mußte er bitter erkennen, daß es ihm eine unsägliche Erleichterung war, seinem Kindheitsheim den Rücken zu kehren. Er hatte ja während all dieser Tage seiner Mutter nicht gerade in die Augen sehen können – ganz wie in seinen Knabenjahren, wenn er etwas auf dem Gewissen hatte. Er wußte ja, wie sie sein Verhältnis zu Agnete beurteilen würde. Das Bitterste aber war, daß das, worüber er sich nach Ansicht seiner Mutter schämen mußte, ihm das Glücklichste schien, was er bis jetzt erlebt hatte.

Es war schon lange bestimmt gewesen, daß Frau Severine Jensens Pensionäre einen Landausflug machen wollten, wenn der Sommer ins Land käme.

Als nun der Wahltag das so sehnsüchtig erwartete Resultat brachte, indem die Linke und die Radikalen in Kopenhagen siegten, lag es nah, diese politische Freimachung zu feiern.

Springen, Goldregen und Schneebälle standen in voller Blüte, als Agnete, Graulund, der Philosoph und Svend in einem Zweispänner nach Skodsburg fuhren, um dort zu dinieren.

Das Wetter war strahlend, aller Lebensgefühl war aufs höchste gespannt, und Svend, der Agnete gegenüber saß, konnte seine Gefühle nur mit Mühe im Zaum halten. – Er meinte, daß alle ihr Glück lesen müßten, und es war nur auf ihr ausdrückliches Verlangen, daß ihr Verhältnis im Pensionat geheim gehalten wurde.

Svend war betrübt, daß sie noch immer nichts von Verlobung hören wollte. Das Wort irritierte sie geradezu. Sie sagte, daß sie von offizieller Liebe seinerzeit übergenug bekommen habe.

Das Heimliche in ihrem Verhältnis, das zuerst eine Anziehung mehr gewesen war, fing an ihn zu ermüden und zu quälen. Teils erforderte es so viel langweilige Ausflüchte, teils meinte er, daß ihnen ein gegenseitiges Recht aneinander zukäme, das von anderen nicht respektiert werden konnte, solange ihr Verhältnis geheim gehalten wurde. So konnte ihm diese Liebe, die ihn zuerst so beglückt hatte, bisweilen Eifersucht und Qual bereiten.

Nachdem sie im Kurhotel zu Mittag gegessen hatten, gingen sie nach der Konzerthalle am Strande, um Kaffee zu trinken.

Als sie bei Kaffee und Likören saßen und über die blanke Fläche des Sundes blickten, wo Kutter mit schlaffen, weißen Segeln unbeweglich in dem windstillen Nachmittage vor Anker lagen, wurde Svend durch eine bekannte Stimme aus seinen Glücksträumen gerissen.

Er drehte hastig den Kopf.

Ja, richtig, es war Tante Amalie, von einem Schwarm hellgekleideter junger Mädchen umgeben.

Sein Blick suchte Agnete. Auch sie hatte den Kopf bei dem Klang der Stimme gewandt und sah ihm mit komischem Entsetzen in die Augen.

»Das fehlte gerade!« flüsterte sie.

Das Schicksal hatte es gewollt, daß Tante Amalie, die jedes Jahr mit den Treuen ihres Nähvereins einen Ausflug machte, gerade diesen Tag gewählt hatte.

Daß Agnete sich an öffentlicher Stelle allein zwischen Herren befand, von denen notorisch keiner ihr Mann, Bruder oder Vater war, das war in Tante Amaliens Augen schon ein bedenklicher Fall. Daß sie die Füße flott auf einen anderen Stuhl gelegt hatte und eine Zigarette rauchte, das war mindestens skandalös, daß aber der eine ihrer Begleiter, der mit dem Kneifer auf der Nase, der anscheinend nicht ganz nüchtern war, ihre jungen Mädchen mit frechen Blicken musterte, das war unerhört.

Ihre erste Eingebung war, mit Rücksicht auf die junge, ihr anvertraute Schar, die skandalöse Gesellschaft zu schneiden und Agnete später ganz still aus dem Nähverein auszumerzen.

Agnete aber, die sich bereits in die Situation hineingefunden hatte, sagte in einem erfreuten Ton, indem sie ihre Füße vom Stuhl nahm:

»Sehen Sie nur, Herr Byge, da ist Ihre Tante mit dem Nähverein!« Und darauf nickte sie Tante Amalie und der Schar freundlich zu.

Svend war vom Stuhl aufgesprungen und grüßte schweigend, ohne die Damen anzusehen, während Herr Graulund, der sich köstlich amüsierte, sitzen blieb und gemütlich an den Hut griff.

»Unerhört!« murmelte Tante Amalie so laut, daß alle es hören mußten. Dann machte sie demonstrativ kehrt und schüttelte zornig ihre grauen Hängelöckchen, während Graulund laut auflachte.

»So! Nun bin ich abgetan!« sagte Agnete mit einem Lächeln, »und wenn eines aus der Schafherde so naiv sein sollte, am Mittwoch meinen Namen zu nennen, wird Totenstille im Zimmer herrschen. Eigentlich bin ich ganz froh darüber, denn ich mag nicht, daß Leute mich für etwas anderes halten als ich bin. Und gegen Tante Amalie bin ich nicht ehrlich gewesen.«

Svend dachte daran, daß der Bericht von dem unglückseligen Begegnis weitergehen würde; es quälte ihn, daß seine Mutter Kummer dadurch haben sollte. Er schlug vor, den Wagen ein Stück vorausfahren zu lassen, um Tante Amalie, die natürlich mit ihrer Schar in einer dritten Klasse gekommen war, nicht von neuem zu schokieren.

Agnete aber warf den Kopf in den Nacken und sandte ihm einen mißbilligenden Blick aus ihren dunklen Augen zu:

»Weshalb? Was ist denn dabei, wenn sie uns in einem Zweispänner sieht. Sie soll ihn ja nicht bezahlen. Man muß für sich selbst und seine Vergnügungen einstehen können.«

Svend wollte ihr nicht widersprechen. Es war ja nicht Tante Amaliens wegen – was kümmerte die ihn –, mochte sie ihn im Extrazug sehen, wenn es sein mußte – nein, er dachte an seine Mutter und an ihren genügsamen Sinn, wenn sie Tante Amaliens entrüsteten Brief bekam, den er sich lebhaft vorstellen konnte.

So wanderte man denn im Triumph zum Hotel zurück, und richtig, dicht neben der Anfahrt saß die weiße Schar um einen Tisch beim Kaffee.

Als sie im Landauer Platz genommen hatten, sah Agnete, wie sämtliche Mitglieder des Nähvereins die Hälse reckten. Und in plötzlicher Ausgelassenheit winkte sie ihnen mit ihrem Taschentuch zu.

 

Als man Klampenborg erreicht hatte, wurde der Wagen nach Hause geschickt, und sie machten einen Spaziergang durch den Wald zum »Hügel«, wo an Sommerabenden Volksbelustigungen stattfanden.

Das stille warme Wetter hatte die Kopenhagener in Scharen ins Freie gelockt. Es war ein Quietschen von Blasinstrumenten, ein Schreien und Kreischen von fröhlichen Stimmen, daß einem die Ohren gellten.

Agnete, die es liebte, sich zwischen Leuten aus dem Volke zu bewegen, strahlte von lebendiger, mitfühlender Freude. Ihre ganze Seele lag in ihren großen, glänzenden Augen.

Auch Svend hatte den Zwischenfall mit Tante Amalie überwunden; aber er fühlte sich nicht recht wohl in der Wärme und wurde mehrere Male von einem plötzlichen Stechen befallen, das ihm wie ein scharfes Messer durch die Seite jagte.

Sie waren in den Sängerinnen-Kneipen, wo man noch nach alter Sitte mit dem Teller herumging.

Das war der einzige Ort, wo Agnete sich trotz aller Neugierde nicht amüsierte. »Nein, das ist zu jämmerlich!« sagte sie schaudernd, »die armen Wesen!«

Graulund wollte die Sängerinnen absolut mit einer Runde schwedischem Punsch traktieren. Als die anderen ihn daran hindern wollten, begehrte er auf, und sie wurden zum Gegenstand peinlicher Aufmerksamkeit. Svend zog Agnete eiligst mit sich hinaus, während der Philosoph versprach, sich Graulunds anzunehmen.

Als Svend und Agnete draußen waren, wurden sie sofort von der Menge mitgerissen und so von den anderen getrennt. Sie wollten am liebsten allein sein. Agnete klammerte sich blaß an Svend, die Kehrseite des menschlichen Vergnügens hatte ihr ans Herz gegriffen und eine plötzliche bittere Vorstellung, wozu das Leben führen konnte, in ihr erweckt.

Sie wollte fort von dem unleidlichen Lärm, der ihr in den Ohren schmerzte und eine nervöse Falte in ihre Stirn grub.

Erst als sie wieder Bäume über ihren Köpfen fühlten, das sanfte Rauschen hoch oben hörten, während der Lärm aus der Ferne harmonisch durch seine Fernheit zu ihnen drang, als sie die leichte, kühle Nachtluft einatmeten, erst da atmete sie wieder auf.

Sie blieb stehen, schlang die Arme um seinen Hals und küßte ihn heftig, ohne zu verraten, was sie im Innersten bewegte. Es war, als mache eine Angst sich in ihren Küssen Luft, als suche sie Schutz gegen etwas, wofür weder sie noch er Worte hatten. Er behielt sie lange in seinen Armen. Keiner von ihnen sprach; sie blieben im Walde, bis es oben zwischen den Baumkronen zu dämmern begann. Dann eilten sie in seliger Ermüdung nach Hause.


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