Laurids Bruun
Aus dem Geschlecht der Byge. Erster Band
Laurids Bruun

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8

Svend hatte mit Mutter und Schwester zusammen eine Einladung von der Großmutter erhalten, die mit einer unverheirateten Tochter in der kleinen Grenzstadt Fjordby, in der Nähe ihres früheren Gutes, wohnte.

Er schwankte sehr, bevor er sich zur Reise entschloß. Seine Gedanken waren so weit von Familie und Heim abgeschweift. Er war fast blind geworden vom beständigen in die Zukunft Starren. Und doch fühlte er sich von so vielen Kleinigkeiten zurückgezogen.

Immer beim Wechsel der Jahreszeiten, zu Weihnachten oder Ostern, wenn die Tage lang und warm wurden und es in den Gärten und Anlagen von Syringen und Goldregen zu duften begann, stiegen die Erinnerungen aus seiner Kindheit in der Provinz in ihm auf.

Er dachte häufiger an seinen Vater als an seine Mutter, obgleich er fand, daß er ihr mehr ähnelte. Vielleicht lag es daran, daß sein Vater tot war und nur noch das Recht der Erinnerung besaß. Aber es war soviel Kleinliches und Unbedeutendes, so viel Mahnendes mit Hinblick auf unbedeutende Ziele in den bekümmerten Briefen der Mutter, daß er sich darüber ärgerte.

Obgleich die stets lebendige Mutterliebe aus jeder Zeile sprach, konnte er doch nicht darüber hinweg, daß die Briefe so an der Erde klebten.

Nur selten steckte die Laune plötzlich ihren Kopf hervor. Dann sah er das schelmische Lächeln in den warmen blauen Augen seiner Mutter, wie er es aus früheren Jahren kannte, und hörte ihr munteres, klingendes Lachen.

Das war eine andere Mutter gewesen als die, die diese langen bekümmerten Briefe schrieb – eine hoffnungsfroh lachende, das Leben und alles Gute und Schöne liebende Frau. So konnte Schmerz und Kummer den Charakter eines Menschen ändern.

Die Rücksicht auf seine Mutter bewog ihn schließlich zu reisen. Er fuhr nach Hause, um eine Weile bei ihr zu sein, bis sie alle drei zusammen zur Großmutter weiterreisen wollten.

Nachdem die ersten Tage des Wiedersehens mit ihrer aufgeregten Freude und dem Ausfragen nach tausend täglichen Dingen vorüber waren, nachdem die Gemüter sich beruhigt hatten, machte der Abstand zwischen ihm und den Seinen sich fühlbar.

In der niedrigen Stuben der kleinen Wohnung fühlte Svend mit jedem Tage stärker, wie sehr er sich bereits seinem Heim entfremdet hatte. Was seine Mutter und Gerda interessierte, lag ihm so fern, und vieles, was für sie Freude und Abwechslung bedeutete, kam ihm düster und trivial vor.

Wenn er von einem neuen Buch erzählte, das alle jungen Gemüter in der Hauptstadt in Bewegung setzte, oder von einem freien Vortrag, den er über die Kunst der Renaissancezeit gehört hatte – so sah seine Mutter von ihrer Handarbeit auf und betrachtete ihn mit einem kummervoll forschenden Blick, der ihren Gedankengang verriet: ob das nun auch der richtige Weg sei, nämlich der, der zum Examen führte!

Dann schwieg er verstimmt. Oft erhob er sich und ging aus dem Zimmer, während Gerda ihm betrübt mit ihren neugierigen Kinderaugen nachsah.

Wenn er sich des Abends über das ergraute Haar seiner Mutter beugte, und sie ihm die Wange zum Gutenachtkuß bot, sah er Tränen in ihren Augen.

»Du bist uns entwachsen, Svend!« sagte sie wehmütig und klopfte ihm die Wange.

Er wußte nicht, was er antworten sollte. Dann strich er ihr verlegen übers Haar, küßte ihre gefurchte Stirn und eilte aus dem Zimmer.

 

Svend und Gerda machten sich eines Tages auf, um dem alten Gutshof einen Besuch zu machen. Gerda war seit ihrem zweiten Lebensjahr nicht dort gewesen, aber sie hatte soviel von dem herrlichen Garten, dem Gehölz und dem Strand gehört.

Sie hatten eine zweistündige Eisenbahnfahrt zu machen durch bewaldete Hügel und Felder, wo der Roggen träge mit langen, reifen Ähren in der warmen Luft wippte.

Je mehr sie sich dem Gutshof näherten, desto deutlicher stiegen die Erinnerungen in Svend auf; hauptsächlich waren es »das alte Haus«, die Hecke des Schützen aus Flieder und Weißdorn, Lisbeth und das Zicklein Jens, die von neuem Leben bekamen.

Sie stiegen bei der kleinen Landstation aus, die nur aus einem Dach über zwei Bänken bestand.

Svend hatte geglaubt, alles noch unverändert zu finden; als sie aber der Landstraße folgten, kamen sie in ein kleines Gehölz, das er noch nie gesehen hatte.

Dagegen war von dem Wald, der sich in seiner Erinnerung stolz und dunkel hinter dem Moor erhob, nichts mehr zu sehen. Einige junge Anpflanzungen leuchteten dort hinten in der Sonne; wo aber waren die hohen ernsten Eichen, in deren Kronen es so sommerlich über Lisbeths Haus gesäuselt hatte?

Da wurde ihm plötzlich klar, daß der Wald beständig Form und Aussehen verändert. Alte Baume müssen fallen, damit die jungen Licht und Luft bekommen.

Das Gehölz, das sich dort hinten voller Fruchtbarkeit drängte, war also sein Altersgenosse; die Sprößlinge, die damals frisch und neugierig und erwartungsvoll im Schatten der Alten gestanden hatten, so daß man ihrer nicht achtete, außer wenn man zufällig über sie gestolpert war oder sich gedankenlos einen ihrer Stengel für Pfeile zum Flitzbogen ausgerissen hatte – sie beherrschten jetzt das Terrain.

Svend wuchs mit dieser Erfahrung.

»Jetzt kommen wir an die Reihe!« dachte er und verglich sich mit dem hellen, hochgesinnten Gehölz dort hinten.

Als sie jenseits der Hügel waren, dort wo die Landstraße weiß und gerade zwischen den Feldern hinlief, sahen sie einen Einspänner auf sich zukommen. Der weiße Staub stand wie eine Wolke um die beiden Personen, die auf dem Kutscherbock saßen.

Er war ein alter Mann mit grauen Bartstoppeln in einem runzeligen Gesicht, er führte die Zügel. Er war wie ein Bauer gekleidet und bewegte unablässig die Kiefer, als kaue er etwas. Neben ihm aber saß ein junges Weib, das städtisch gekleidet war. Wohl eine Mamsell, die ihre Eltern auf dem Lande besucht hat, dachte Svend.

Indem Svend und Gerda beiseite traten, grüßte der alte Kutscher sie mit der Peitsche. Svend nahm die Mütze ab, und das junge Mädchen, das ihn die ganze Zeit mit sehr blauen, sehr großen und erstaunten Augen angestarrt hatte, wurde rot, indem sie den Gruß erwiderte.

Es war nur eine Sekunde, dann war der Wagen vorbei. Im selben Augenblick aber wußte Svend, daß er diese Augen kannte. Er bekam einen roten Kopf und drehte sich um, um dem Wagen nachzusehen.

Das junge Mädchen hatte sich auch nach ihm umgedreht, Als sie aber seinem Blick begegnete, wandte sie sich hastig ab, so daß er nur ihren geraden, etwas breiten, harmonisch geformten Rücken sah, den runden, sonnenverbrannten Nacken und einen schweren, blonden Haarknoten. Bei dem hastig gewechselten Blick, der in einem Lächeln zu enden schien, war es ihm, als habe sie »Svend« geflüstert. Er war gerade im Begriff, »Lisbeth« hinter ihr herzurufen; aber da dachte er an den Alten und Gerda, und er unterließ es.

Er fühlte, wie er rot wurde und ging schnell weiter, während ihm ein Schwarm von Kindheitserinnerungen durch den Kopf ging, so daß er den Rest des Weges schweigsam und versonnen zurücklegte.

Sie hatten gerade Zeit, das alte Haus von außen zu besehen; – um den Schlüssel zu holen, dazu war ihre Zeit zu knapp, und außerdem – wo lag denn das gekalkte Häuschen des Schützen hinter der Hecke von Flieder und Weißdorn?

Er suchte es vergeblich. Vielleicht war es niedergebrannt und von neuem aufgebaut worden, – ob es vielleicht das solide Steinhaus dort auf der anderen Seite des Weges war?

Wenige Tage nach diesem Ausflug bekam Svends Großmutter ihren zweiten Schlaganfall.

Es gab eine allgemeine Verstörtheit im Hause. Tante Kathrine, die alles selbst tun wollte, konnte keine Gäste mehr im Hause haben, und deshalb kürzten Svend, seine Mutter und Gerda ihren Aufenthalt ab und reisten nach Hause.


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