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XXVII.

Sieben Tage gingen hin und jeder brachte für Edgar Lintons Zustand eine merkliche Verschlimmerung. Die Vernichtung, die sich durch viele Monate hindurch vorbereitet hatte, schritt jetzt von Stunde zu Stunde voran. Wir hätten gern Catherine seinen wahren Zustand verheimlicht, aber sie erriet ihn instinktiv und brütete schmerzvoll über der gräßlichen Möglichkeit, daß der Vater ihr entrissen werden könne. Als der Donnerstag herangekommen war, hatte sie nicht das Herz, von ihrem beabsichtigten Ausritt zu sprechen; ich tat es für sie und erhielt die Erlaubnis, sie ins Freie zu schicken. Die Bibliothek, in der ihr Vater täglich eine kurze Zeit zubrachte, und sein Zimmer waren ihre ganze Welt geworden. Sie murrte gegen alles, was sie von seiner Pflege fernhielt. Wachen und Sorgen machte sie bleich und müde, und mein Herr entließ sie daher gern, besonders da er in diesem Fall für sie eine angenehme Unterhaltung und Zerstreuung erhoffte. Er hatte sich vollständig in den Gedanken eingelebt, daß sein Neffe, da er ihm äußerlich ähnlich sei, ihm auch an Geist und Charakter gleichen müsse; denn Lintons Briefe trugen keine Merkmale seines krankhaften schwächlichen Wesens.

Wir warteten mit unserem Ausflug bis zum Nachmittag – einem goldenen Sommernachmittag. Catherines Antlitz glich ganz der Landschaft: Sonnenschein und Schatten glitten in raschem Wechsel darüber hin. Aber die Schatten waren dauerhafter als der Sonnenschein, und ihr armes kleines Herz schien sich wegen dieser kurzen Vernachlässigung ihrer Kindespflicht schon Vorwürfe zu machen.

Wir fanden Linton an derselben Stelle wie damals. Er empfing uns diesmal mit größerer Lebhaftigkeit: einer Lebhaftigkeit, die jedoch mehr von Furcht als von Freude eingegeben zu sein schien.

»Es ist spät«, sagte er, und das Sprechen schien ihm schwer zu fallen. »Ist dein Vater nicht sehr krank? Ich dachte, du würdest nicht kommen.«

» Warum kannst du nicht aufrichtig sein?« rief Catherine, ihren freundlichen Gruß unterdrückend. »Warum kannst du nicht gleich sagen, daß du mich nicht haben willst? Es ist seltsam, Linton, daß du mich zum zweitenmal herbestellt hast, anscheinend nur, um uns beide zu plagen!«

Linton schauerte zusammen und sah halb demütig, halb beschämt zu ihr auf. Aber die Geduld seiner Cousine war erschöpft gegenüber diesem unbegreiflichen Betragen.

»Mein Vater ist sehr krank«, sagte sie. »Und weshalb holt man mich von seinem Krankenlager? Warum schicktest du mir nicht Nachricht, mich von meinem Versprechen zu entbinden, da du doch wünschst, daß ich es nicht halte? Ich verlange eine Erklärung! Spiel und Scherz liegen mir jetzt sehr fern, und es ist mir ganz unmöglich, an deiner Affektiertheit Interesse zu nehmen!«

»Ich bitte dich um himmelswillen, Cathy, sieh mich nicht so bös an!« murmelte er. »Verachte mich, so viel du willst; ich bin ein armseliger feiger Wicht. Verspotte mich – für deinen Zorn aber bin ich zu gering. Hasse meinen Vater, mich aber verachte nur.«

»Unsinn!« rief Catherine leidenschaftlich. »Alberner, dummer Junge! Da! Er zittert, als ob ich ihn prügeln wollte! Du brauchst nicht um Verachtung zu betteln, Linton. Jedermann wird dir sowieso damit dienen. Geh! Ich kehre wieder heim. Es ist Tollheit, dich vom Kaminfeuer wegzuholen! Laß mein Kleid los! Wenn ich wirklich Mitleid für dich empfinden könnte, so müßtest du es doch zurückweisen. Ellen, sag ihm, wie lächerlich sein Benehmen ist. Steh auf und entwürdige dich nicht zu einem kriechenden Reptil – nicht, nicht!«

Tränenüberströmt, halb ohnmächtig warf Linton sich zu Boden. Er schien von unerhörtestem Entsetzen geschüttelt.

»O!« schluchzte er. »Ich kann es nicht ertragen! Catherine, Catherine, auch ich bin ein Betrüger, und ich darf es dir nicht sagen! Doch wenn du mich im stich läßt, so wird man mich töten! Liebe Catherine, mein Leben ist in deiner Hand! Du hast gesagt, daß du mich lieb hast. So beweise es doch! Geh nicht! Gute, liebe, süße Catherine! Und vielleicht würdest du zustimmen – und er ließe mich bei dir sterben!«

Meine junge Herrin beugte sich zu ihm nieder. Seine wahnsinnige Angst rührte sie, und ihr Zorn wandelte sich in Bestürzung.

»Zustimmen?« fragte sie. »Zu was zustimmen? Sei ruhig und sei frei und beichte offen alles, was du auf dem Herzen hast. Du willst mich doch gewiß nicht beleidigen, Linton, wie? Du würdest nicht dulden, daß irgend jemand mich verletzt und kränkt? Ich könnte glauben, daß du für dich selbst feig bist, aber nicht, daß du an deinem besten Freund zum feigen Betrüger werden könntest.«

»Aber mein Vater bedroht mich doch«, stammelte der Jüngling, »und ich fürchte ihn – o ich fürchte ihn! Ich darf, ich kann nichts verraten!«

»Also gut!« sagte Catherine mit höhnischem Mitleid, »behalte dein Geheimnis. Ich bin kein Feigling. Rette dich selbst. Ich habe keine Furcht!«

Ihre Großmut rührte ihn zu Tränen. Er weinte heftig, küßte ihre Hände und konnte dennoch nicht den Mut zu einem offenen Worte finden. Ich sann darüber nach, welch ein Geheimnis das sein möge, als ich Schritte nahen hörte; aufblickend sah ich Mr. Heathcliff dicht vor uns den Hügelabhang herabsteigen. Er warf den jungen Leuten keinen Blick zu, obschon er Lintons Schluchzen gehört haben mußte, und begrüßte mich mit dem fast herzlichen Ton, den er mir gegenüber stets anzuschlagen pflegte.

»Nun, Ellen, es ist ein Ereignis, dich so nahe bei meinem Hause zu sehen! Wie geht es euch auf Drosselkreuz? Laß hören. Es geht die Rede«, fügte er leise hinzu, »daß Edgar Linton im Sterben liege. Man übertreibt wohl seine Krankheit?«

»Nein, mein Herr stirbt«, antwortete ich. »Es ist nur zu wahr.«

»Wie lang denkst du, daß er sich noch hält?« fragte er.

»Ich weiß nicht«, sagte ich.

Er sah jetzt zu der Gruppe hinüber: Linton lag unbeweglich in Catherines Arm. »Es scheint nämlich, als wolle der Bursche da ihm zuvorkommen; ich wäre seinem Oheim dankbar, wenn er sich beeilen und vor ihm sterben wollte. Halloh! Führt der Nichtsnutz sich schon lange so auf? Ich dachte, ich hätte ihm das Greinen ausgetrieben. Ist er für gewöhnlich lebhaft und fröhlich zu Miß Linton?«

»Lebhaft? Nein – er ist nur bekümmert und halb abwesend. Er gehörte ins Bett und unter ärztliche Aufsicht.«

»Soll er – soll er auch, in ein paar Tagen«, murmelte Heathcliff. »Zunächst aber – steh auf, Linton! Steh auf!« schrie er. »Was tust du da auf dem Boden? Sofort auf mit dir!«

Linton war wieder der Länge nach hingesunken. Anscheinend war es Heathcliffs Blick, der ihn in so lähmende, hilflose Angst versetzte. Er versuchte, zu gehorchen, aber er hatte sein bißchen Kraft für diesmal schon verbraucht, und er fiel mit einem Seufzer wieder nieder. Mr. Heathcliff ging hin und hob ihn so weit hoch, daß er sich gegen einen Torfstoß lehnen konnte.

»Ich werde böse werden«, sagte er mit unterdrückter Wut. »Nimm deinen Verstand zusammen und beherrsche dich – zum Teufel! Auf mit dir!«

»Ja, Vater«, stöhnte er. »Nur laß mich allein, ich werde sonst ohnmächtig. Ich habe getan, was du wolltest. Catherine wird dir sagen, daß ich – daß ich – liebenswürdig gewesen bin. O! Bleib bei mir, Catherine; gib mir deine Hand.«

»Nimm meine«, sagte sein Vater, »stell dich auf die Füße. So – und nun wird sie dir den Arm reichen. So ist's recht, blicke sie an. Sie müssen denken, Miß Linton, ich sei der Teufel selber, solches Entsetzen verursache ich. Bitte, führen Sie ihn ins Haus, ja? Er schaudert, sowie ich ihn berühre.«

»Linton, Liebling!« flüsterte Catherine, »ich kann nicht euer Haus betreten, Papa hat es mir verboten. Warum fürchtest du dich so? – Er wird dir nichts tun.«

»Ich kann nie wieder ins Haus gehen«, antwortete er. »Ich darf – ich will es nicht ohne dich betreten.«

»Halt!« rief sein Vater. »Wir wollen Catherines kindliche Gefühle respektieren. Nelly, führ ihn hinein, und ich werde deinem Rat, einen Arzt zu holen, ohne Verzug nachkommen.«

»Sie tun recht daran«, erwiderte ich. »Aber ich muß bei meiner Herrin bleiben. Es ist nicht mein Amt, Ihren Sohn zu bedienen.«

»Du bist sehr förmlich«, sagte Heathcliff, »ich weiß es wohl. Du zwingst mich dadurch, den Helden zu zwicken und heulen zu machen, damit er dein Mitleid rührt. Also komm, mein Junge! Bist du bereit, in meiner Begleitung nach Haus zu gehen?«

Er trat wieder auf Linton zu und tat, als wolle er ihn packen. Doch der klammerte sich an seine Cousine und beschwor sie, ihn zu begleiten. Er war in unerhörter Aufregung. Was ihn so entsetzte – wir wußten es nicht, aber Catherine fühlte sich unfähig, seine Bitte abzuschlagen, und all mein Widerraten war fruchtlos. Und tatsächlich hegte ich selbst die Besorgnis, eine Steigerung seiner Angst könne ihn wahnsinnig machen. Wir erreichten die Schwelle. Catherine trat ein, und ich blieb abwartend stehen, da ich annahm, sie werde ihn zu einem Stuhl führen und sofort wieder herauskommen. Da stieß Mr. Heathcliff mich ins Haus und sagte:

»Mein Haus ist nicht eine Pestbeule, Nelly, und ich habe die Absicht, heut gastfreundlich zu sein. Setz dich und gestatte, daß ich die Tür zumache.«

Er machte sie zu und schloß sie ab. Ich fuhr auf.

»Ihr sollt einen Tee haben, ehe ihr heimgeht«, fügte er hinzu. »Ich bin allein. Hareton ist mit den Herden draußen, und Zillah und Josef haben einen freien Tag. Und obschon ich ja gewohnt bin, allein zu sein, so liebe ich doch interessante Gesellschaft, wenn ich sie haben kann. Miß Linton, setzen Sie sich zu ihm. Ich gebe Ihnen, was ich habe. Das Präsent ist allerdings nicht viel wert; doch ich habe nichts anderes zu bieten. Es ist Linton, von dem ich spreche. – Wie sie mich anstarrt! Es ist merkwürdig, wie alles, was sich vor mir fürchtet, meine Grausamkeit reizt. Wenn wir in einem Lande lebten, wo die Gesetze weniger streng und das Gefühl weniger verzärtelt wäre, so würde ich mich an einer langsamen Vivisektion dieser beiden da ergötzen.«

Er schlug auf den Tisch und knirschte: »Beim Himmel! Ich hasse sie.«

»Ich habe keine Angst vor Ihnen«, sagte Catherine, die seine letzten Worte nicht vernommen hatte. Sie trat an ihn heran; ihre schwarzen Augen loderten. »Geben Sie mir diesen Schlüssel. Ich will ihn haben! Ich werde hier nichts essen oder trinken – und wenn ich verhungern sollte!«

Heathcliff hatte den Schlüssel in der geschlossenen Faust, die auf dem Tische lag. Er sah auf; ihre Kühnheit erstaunte ihn, oder vielleicht erinnerten ihn ihre Stimme und ihr Blick an jene Catherine, von der sie beides geerbt hatte. Sie griff nach dem Schlüssel und löste ihn halb aus seinen Fingern. Dies brachte ihn aber wieder zur Besinnung. Hastig schloß er ihn fest in die Hand.

»Catherine Linton«, sagte er, »laß das, oder ich haue dich nieder, und das würde Mrs. Dean toll machen.«

Ungeachtet dieser Warnung versuchte sie von neuem, seine Hand zu öffnen. »Wir werden gehen!« wiederholte sie und nahm ihre äußerste Kraft zusammen, die Spannung dieser eisernen Muskeln zu lösen. Da ihre Nägel nichts erreichten, biß sie mit den Zähnen in seine Finger. Heathcliff warf mir einen Blick zu, der mich einen Moment lang bannte. Catherine sah nicht sein Gesicht, sie war über seine Hand gebeugt. Da öffnete er diese plötzlich und ließ den Schlüssel fallen, doch ehe sie ihn noch aufgehoben hatte, packte er sie mit der freien Hand, riß sie zu Boden und verabreichte ihr einen Hagel furchtbarer Hiebe auf den Kopf.

Ich stürzte auf ihn zu: »Schurke!« schrie ich, »Schurke!« Ein Stoß gegen die Brust brachte mich zum Schweigen. Ich rang nach Atem und tastete mich halb schwindlig nach meinem Stuhl zurück. Die Exekution war in zwei Minuten vorbei. Catherine zitterte und lehnte vollständig verwirrt am Tisch.

»Du siehst, ich verstehe Kinder in Respekt zu halten«, sagte der Schuft, als er sich nach dem Schlüssel bückte. »Geh jetzt zu Linton, so wie ich es dir befohlen habe, und weine, so viel du Lust hast. Ich werde morgen dein Vater sein – in wenig Tagen dein einziger Vater überhaupt – und du sollst noch mehr derartiges zu schmecken bekommen. Du kannst viel vertragen; du bist kein Schwächling. Und wenn ich in deinen Augen noch einmal solche Wildheit entdecke, so wirst du noch viel schlimmere Hiebe bekommen!«

Cathy lief nicht zu Linton, sondern zu mir, kniete hin und barg ihren heißen Kopf in meinen Schoß, laut weinend. Ihr Vetter hatte sich in einen Winkel zurückgezogen und verhielt sich mäuschenstill. Mr. Heathcliff, der uns vollständig verblüfft sah, erhob sich und bereitete selbst den Tee. Tassen standen schon bereit. Er goß ihn ein und reichte mir eine Tasse.

»Hier, Nelly, erhole dich!« sagte er, »und sorge für die beiden Nichtsnutze. Ich gehe nach euren Pferden sehen.«

Sowie er aus dem Zimmer war, versuchten wir, zu entfliehen. Die Küchentür war von außen abgeschlossen; die Fenster waren viel zu schmal – selbst für Cathys zierliche Gestalt.

»Master Linton«, rief ich, als ich sah, daß wir regelrecht gefangen waren, »Sie wissen, was Ihr teuflischer Vater mit uns vorhat. Heraus mit der Sprache, oder ich versetze Ihnen ebensoviel Ohrfeigen, als er Catherine gegeben hat!«

»Ja, Linton, du mußt bekennen!« sagte Catherine. »Es geschah um deinetwillen, daß ich hier eintrat, und es wäre furchtbar undankbar, wenn du dich weigertest.«

»Gib mir eine Tasse Tee, ich bin durstig; dann will ich es dir sagen«, antwortete er. »Mrs. Dean, gehen Sie beiseite.«

Die Ruhe dieses kleinen Bösewichts empörte mich tief. Seine ganze Aufregung, die er draußen gezeigt hatte, verschwand mit einem Schlag, als wir das Haus betreten hatten. Wahrscheinlich hatte man ihm eine fürchterliche Strafe angedroht, falls es ihm nicht gelänge, uns hierherzubringen. Und da letzteres erreicht war, hatte er vorläufig keine Angst mehr.

Cathy brachte ihm den Tee, und er begann: »Papa wünscht, daß wir uns heiraten. Und er weiß, daß dein Vater uns das jetzt noch nicht erlauben würde. Und er fürchtet, daß ich vorher sterbe, wenn wir noch zögern. Darum sollen wir morgen früh getraut werden, und ihr müßt die ganze Nacht hierbleiben. Und wenn du tust, was er verlangt, so darfst du dann morgen wieder nach Haus und darfst mich mitnehmen.«

»Dich mitnehmen, erbärmlicher Tropf?« rief ich aus. »Dich heiraten? Der Mann ist toll! Oder er hält uns alle für Narren. Bildest du dir ein, diese schöne, herrliche, junge Dame, dies gesunde, fröhliche Mädel werde sich an so einen kleinen, sterbenden Affen binden, wie du bist? Meinst du denn, irgendwer würde dich zum Mann nehmen? Du verdientest Prügel, die Peitsche verdientest du dafür, daß du uns auf so hinterlistige, niederträchtige Weise hergelockt hast. Tu jetzt nicht so dumm! Ich habe ungeheure Lust, dich gehörig durchzurütteln für deine Niedertracht!«

Ich gab ihm einen Stoß, aber er begann sofort zu husten und zu ächzen und zu weinen. Catherine schob mich beiseite.

»Die ganze Nacht hierbleiben? Nein!« sagte sie entschieden und blickte sich im Räume um. »Ellen, ich werde die Türe niederbrennen, aber herauskommen werde ich.«

Und sie würde sofort ihre Drohung verwirklicht haben, aber Linton begann wieder für sein liebes Ich zu fürchten, und er legte die dünnen Ärmchen um sie und schluchzte:

»Du willst mich nicht haben, mich nicht retten? O, liebste Catherine! Du darfst mich nicht mehr verlassen! Du mußt meinem Vater gehorchen – du mußt!«

»Ich muß meinem eignen Vater gehorchen«, antwortete sie, »und ihm seine Besorgnis nehmen. Die ganze Nacht! Was würde er denken? Er wird schon jetzt außer sich sein. Ich muß mir einen Durchgang brechen oder brennen. Sei ruhig! Dir geschieht ja nichts, doch wenn du mich zurückhältst – Linton, ich liebe Papa mehr als dich!«

Die tödliche Angst, die er vor Mr. Heathcliffs Zorn empfand, gab dem Knaben seine feige Beredsamkeit wieder. Catherine war verzweifelt. Doch sie bestand darauf, nach Haus zu müssen und versuchte alles, um ihn zu beschwichtigen. Da trat unser Kerkermeister wieder ein.

»Eure Tiere sind davon getrabt«, sagte er, »und – was, Linton! greinst du schon wieder? Was hat sie dir getan? Komm, komm – hör auf und geh ins Bett. In ein, zwei Monaten, mein Junge, wirst du in der Lage sein, ihr ihr grausames Betragen reichlich heimzuzahlen. Du vergehst nach reiner wahrer Liebe, nicht wahr? So; nun ins Bett mit dir! Still, hör auf. Bist du erst in deinem Zimmer, so werde ich dir nicht mehr zu nahe kommen. Du hast ja noch leidliches Glück gehabt, deine Sache ganz gut gemacht, den Rest überlaß nur mir!«

Während er das sagte, hielt er die Tür geöffnet, damit sein Sohn hinausgehe, und dieser schlich sich an ihm vorbei wie ein Hund, der einen Fußtritt erwartet. Heathcliff schloß die Tür und zog den Schlüssel wieder ab. Er näherte sich dem Kamin, an dem meine Herrin und ich schweigend standen. Catherine sah auf und hob instinktiv die Hand an die Wange. Kein anderer wäre beim Anblick dieser kindlichen Handlungsweise ernst geblieben, er aber fuhr sie an:

»O! Du fürchtest mich nicht? Sagtest du nicht so? Dein Mut ist dir entfallen, wie? Du scheinst verfluchte Angst zu haben!«

»Ich habe allerdings Angst«, erwiderte sie, »denn wenn ich bleibe, wird Papa unglücklich sein; und wie kann ich ihn leiden lassen, jetzt, wo er – wo er – Mr. Heathcliff, lassen Sie mich nach Haus! Ich verspreche, Linton zu heiraten: Papa würde es auch gern sehen, und ich liebe ihn. Warum sollten Sie mich zu etwas zwingen wollen, was ich sowieso tun würde?«

»Er soll nur wagen, Sie zu zwingen!« schrie ich. »Gott sei Dank haben wir noch Gesetze – wenngleich wir in so weltentlegener Gegend hier sind! Ich würde ihn anzeigen, und wenn er mein eigener Sohn wäre! Die Sache ist ein Verbrechen, ohne den Segen eines Geistlichen!«

»Ruhe!« sagte der Unhold. »Zum Teufel mit deinem Gejammer! Mit dir rede ich nicht. Miß Linton, der Gedanke, daß Ihr Vater unglücklich sein wird, bereitet mir außerordentliches Vergnügen: ich werde vor Befriedigung nicht einschlafen können. Sie hätten keinen sichereren Weg einschlagen können, um Ihren Aufenthalt unter meinem Dach für die nächsten vierundzwanzig Stunden festzulegen. Was Ihr Versprechen anlangt, Linton zu heiraten, so werde ich Sorge tragen, daß Sie es halten, denn Sie werden diesen Ort nicht eher verlassen, als bis es erfüllt ist.«

»So schicken Sie Ellen, um Papa zu benachrichtigen, daß ich am Leben bin!« rief Catherine bitterlich weinend. »Oder trauen Sie mich jetzt gleich. Armer Papa! Ellen, er wird denken, wir hätten uns verirrt, wir seien umgekommen! Was sollen wir tun?«

»O nein«, antwortete Heathcliff. »Er wird denken, Sie sind es müde geworden, ihn zu pflegen und irgend einer kleinen Erholung nachgelaufen. Sie können nicht leugnen, daß Sie mein Haus freiwillig betreten haben – entgegen seinem ausdrücklichen Wunsch. Und es ist ganz natürlich, daß Sie in Ihrem Alter nach Unterhaltung verlangen und es müde sind, einen kranken Mann zu pflegen, besonders wenn dieser Mann nur Ihr Vater ist. Seine frühesten Tage, Catherine, waren vorbei, als Ihre Tage begannen. Ich kann wohl sagen, er verfluchte Ihren Eintritt in die Welt – ich wenigstens tat es – und es wäre darum gerade das Richtige, wenn er nun, da er diese Welt verläßt, Ihnen wiederum fluchte. Ich würde ihm beistimmen. Ich liebe dich nicht! Wie sollte ich? Weine nur zu. Soviel ich voraussehen kann, wird das von heute an deine hauptsächlichste Beschäftigung sein; es sei denn, daß Linton ein Trost sei für den Verlust des anderen. Dein besorgter Vater scheint das ja anzunehmen. Seine ratenden und tröstenden Briefe haben mich großartig amüsiert. In einem der letzten empfiehlt er meinem Juwel, das seinige sorgsam zu hüten und gut mit ihm zu sein. Sorgsam und gut – das ist väterlich. Aber Linton beansprucht seinen ganzen Vorrat von Güte und Sorgsamkeit für sich selbst. Er kann vorzüglich den Tyrannen spielen. Er würde eine beliebige Anzahl Katzen zu Tode martern, vorausgesetzt, daß man ihnen die Zähne gezogen und die Krallen gestutzt hätte. Du wirst seinem Onkel schöne Geschichten von seiner Güte berichten können, wenn du wieder nach Haus kommst.«

»So ist's recht!« sagte ich. »Enthüllen Sie ihr den Charakter Ihres Sohnes. Zeigen Sie, wie sehr er Ihnen gleicht. Und dann, so hoffe ich, wird Miß Cathy sich's zweimal überlegen, ehe sie diesen Basilisken nimmt.«

»Es liegt mir momentan nichts daran, von seinen liebenswürdigen Eigenschaften zu sprechen«, antwortete er. »Denn entweder sie nimmt ihn oder sie muß hier gefangen bleiben, und du mit ihr, bis dein Herr stirbt. Ich kann euch beide hier zurückhalten, ohne daß das geringste davon geahnt wird. Zweifelst du etwa daran, so rede ihr zu, ihr Wort zurückzunehmen, und du wirst Gelegenheit haben, selbst zu urteilen!«

»Ich werde mein Wort nicht zurücknehmen«, sagte Catherine. »Ich würde ihn noch in dieser Stunde heiraten, wenn ich danach nach Drosselkreuz gehen dürfte. Mr. Heathcliff, Sie sind ein grausamer Mann, aber Sie sind kein Teufel; und Sie werden nicht, aus reiner Bosheit, all mein Glück für immer zerstören. Wem Papa dächte, ich sei absichtlich davongelaufen, und wenn er stürbe, ehe ich heimgekehrt wäre – wie könnte ich das Leben noch ertragen? Ich habe aufgehört zu weinen, aber ich werde hier zu Ihren Füßen niederknieen. Und ich werde nicht eher aufstehen und meine Blicke nicht von Ihrem Antlitz nehmen, bis Sie mich anschauen werden! O, wenden Sie sich nicht ab! Sehen Sie her! Sie werden nichts finden, das Sie zornig machen könnte. Ich hasse Sie nicht. Ich bin nicht böse, weil Sie mich geschlagen haben! Haben Sie niemanden in Ihrem Leben geliebt, Onkel? Niemals? Ach, Sie müssen mich ansehen! Ich bin so unglücklich, Sie können ja nicht anders als Mitleid haben.«

»Nimm die Hände weg und steh auf, oder ich stoße dich mit den Füßen weg!« schrie Heathcliff brutal. »Ich möchte eher von einer Schlange umarmt werden! Ich verabscheue dich!«

Er schüttelte sich tatsächlich vor Ekel. Es war nun vollends dunkel geworden. Wir vernahmen vom Gartentor her Stimmen. Heathcliff eilte sofort hinaus. Er unterhandelte mit den Leuten und kehrte nach einigen Minuten allein zurück.

»Ich dachte, es sei vielleicht Hareton«, bemerkte ich zu Catherine. »Ich wollte, er käme! Wer weiß, ob er nicht vielleicht unsere Partei ergriffen hätte?«

»Es waren drei Knechte vom Drosselkreuzhof«, sagte Heathcliff. »Ihr hättet ein Fenster öffnen und rufen sollen. Aber wahrscheinlich ist sie froh, daß du es nicht tatest, Ellen. Ich bin sicher, sie freut sich, daß sie zum Bleiben gezwungen ist.«

Daß wir eine so günstige Gelegenheit versäumt hatten, schmerzte uns furchtbar; wir weinten beide, und er störte uns nicht, bis es neun Uhr war. Dann hieß er uns in Zillahs Zimmer hinaufsteigen, auf dem Weg durch die Küche; und ich flüsterte Catherine zu, zu gehorchen: vielleicht gab es dort einen Ausweg für uns zu finden. Das Fenster war hier jedoch ebenso schmal wie unten, und wie vorhin wurden wir eingeschlossen. Keiner von uns legte sich hin. Catherine setzte sich ans Fenster und wartete angstvoll auf das Morgengrauen; auf meine mehrmalige Aufforderung, sich ein wenig zu ruhen, antwortete sie jedesmal nur mit einem Seufzer. Ich setzte mich auf einen Stuhl und überdachte die Ereignisse des Tages und überließ mich meinen Selbstvorwürfen. Ich schrieb das ganze Unheil meiner nachlässigen Pflichterfüllung zu und hielt Heathcliff für weniger schuldig als mich selbst.

Um sieben Uhr kam er und fragte, ob Miß Linton aufgestanden sei. Sie lief sofort zur Tür und antwortete »ja«. »Also komm!« sagte er, öffnete und zog sie hinaus. Ich erhob mich, um zu folgen, aber er schloß sofort wieder ab.

»Gedulde dich!« rief er. »Ich schicke dir bald das Frühstück herauf.«

Ich rüttelte zornig an der Klinke und donnerte gegen das Holz, und Catherine fragte, weshalb ich nicht zu ihr gelassen werde. Er antwortete, ich müsse schon noch eine Stunde hier aushalten, und sie gingen fort. Ich hielt zwei oder drei Stunden aus. Endlich vernahm ich Schritte.

»Ich bringe Euch was zu essen«, sagte eine Stimme, »macht auf!«

Ich gehorchte eilig und gewahrte Hareton, der so reichliche Eßvorräte brachte, als solle ich den ganzen Tag davon zehren.

»Da, nehmt!« sagte er und drückte mir das Tablett in die Hände.

»Warten Sie einen Augenblick, bleiben Sie!« begann ich.

»Nää«, rief er und verschwand trotz der inständigen Bitten, die ich ihm nachschickte.

Und da blieb ich nun den ganzen Tag eingesperrt – und die ganze folgende Nacht, und noch eine – und noch eine. Fünf Nächte und vier Tage blieb ich dort und sah niemanden als jeden Morgen Hareton. Und er war das Ideal eines Kerkermeisters: griesgrämig und taub und stumm, und er widerstand allen meinen Versuchen, seinen Gerechtigkeitssinn oder sein Mitleid zu erwecken.


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