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Sommers Anfang war schon vorbei, als Edgar sich den vereinten Bitten der Kinder widerstrebend fügte und Catherine und ich den ersten Ausritt unternahmen, der ihr das ersehnte Wiedersehen mit dem Vetter bringen sollte. Es war ein schwüler, doch sonnenloser Tag. Unser Treffpunkt sollte der große Wegstein sein, der die Grenze bildete zwischen den Besitzungen von Drosselkreuz und Sturmheid. Als wir jedoch dort ankamen, berichtete uns ein kleiner Hirtenjunge, Mr. Linton sei drüben auf der anderen Hügelseite, und er ließe uns bitten, ihm noch ein Stückchen weiter entgegenzukommen.
»So hat Mr. Linton offenbar die erste Bedingung seines Onkels vergessen«, bemerkte ich; »er sagte, wir sollten den Boden von Drosselkreuz nicht verlassen.«
»Nun«, antwortete Cathy, »sobald wir Linton gefunden haben werden, wenden wir unsere Pferde und reiten in der Richtung nach Drosselkreuz zurück.«
Aber als wir ihn fanden – und das war kaum eine Viertelmeile vom Sturmheidhof – sahen wir, daß er kein Pferd hatte, und wir mußten absteigen und unsere Gäule grasen lassen. Er lag auf einem Heuhaufen und erhob sich erst, als wir dicht vor ihm waren. Er schritt so unsicher und sah so bleich aus, daß ich erschrocken ausrief:
»Es scheint mir nicht, Master Heathcliff, als sei heut ein Ausgang gut für Sie. Wie krank sehen Sie aus!«
Catherine betrachtete ihn mit Verwunderung und Besorgnis. Der Freudenausruf erstarb ihr auf den Lippen, und sie fragte ängstlich, ob es ihm in letzter Zeit schlechter gegangen sei.
»Nein, besser – besser!« keuchte er zitternd und hielt ihre Hand fest, als brauche er einen Halt, während seine großen blauen Augen schüchtern auf ihr ruhten.
»Aber du siehst viel schlechter aus als früher: du bist magerer und –«
»Ich bin müde«, fiel er hastig ein. »Es ist zu heiß zum Gehen; laß uns hier ruhen. Ich fühle mich des morgens häufig unwohl – Papa sagt, ich wachse so schnell.«
Cathy setzte sich nieder, und er lehnte sich neben ihr tief ins Heu. Sie gab sich alle Mühe, ihn fröhlich zu unterhalten, aber er schien gar nicht zu hören, was sie sagte. Sein Mangel an Interesse, sein völliges Unvermögen, ihre Reden aufzugreifen und zu beantworten, war so auffallend, daß sie ihre Enttäuschung nicht verbergen konnte. Eine unerklärliche Wandlung war mit ihm – seiner Erscheinung und seinem Wesen – vorgegangen. Seine Übellaunigkeit, die früher durch Zärtlichkeit gemildert werden konnte, war einer vollständigen Apathie gewichen. Da war nichts mehr von Unlust und Trotz eines Kindes, das gekost sein möchte, da war nur die Schwermut eines vollständig Kranken, die jeden Trost zurückweist und den Frohsinn anderer als Beleidigung empfindet. Catherine sah ebensogut wie ich, daß es ihm eher eine Strafe als ein Vergnügen war, unsere Gesellschaft zu ertragen, und sie machte ganz offenherzig den Vorschlag, sogleich wieder heimreiten zu wollen. Dieser Vorschlag weckte Linton unerwarteter Weise aus seiner Lethargie und gab ihm eine merkwürdige Lebhaftigkeit. Er blickte scheu nach Sturmheid hinüber und bat sie, wenigstens noch eine halbe Stunde zu bleiben.
»Aber es scheint mir«, sagte Cathy, »daß du dich zu Hause behaglicher fühlen würdest als hier bei uns. Ich sehe, ich kann dich heut nicht aufheitern mit meinen Späßen und Liedern. Du bist in diesen sechs Monaten viel vernünftiger geworden, als ich bin; du findest keinen Geschmack mehr an meiner Unterhaltung. Wenn ich dich wirklich irgendwie zerstreuen könnte, so bliebe ich herzlich gern.«
»Bleibe noch und ruhe dich aus«, antwortete er. »Und, Catherine, du mußt nicht denken oder sagen, daß ich sehr krank sei. Es ist die schwüle, schwere Luft, die mich so angreift. Und ehe du kamst, bin ich eine lange Zeit hier herumgegangen. Sage Onkel, ich sei leidlich gesund, willst du?«
»Ich werde ihm sagen, daß du das findest, Linton. Ich selbst könnte das nicht behaupten«, bemerkte meine junge Herrin, erstaunt, daß er eine so offensichtliche Unwahrheit von ihr verlangte.
»Und sei nächsten Donnerstag wieder hier«, fuhr er fort, ihrem Blick ausweichend. »Und sage ihm meinen Dank dafür, daß er dir zu kommen erlaubte – meinen besten Dank, Catherine. Und – und, solltest du meinem Vater begegnen, und sollte er dich ausfragen über mich, so laß ihn nicht mutmaßen, daß ich auffallend schweigsam und dumm gewesen sei. Sieh nicht so traurig und niedergeschlagen aus – so wie jetzt – er wird böse werden.«
»Ich fürchte nicht seinen Zorn«, rief Cathy.
»Aber ich«, sagte ihr Vetter zusammenschreckend. »O, reize ihn nicht auf gegen mich, Catherine, denn er ist sehr hart.«
»Ist er streng mit Ihnen, Master Heathcliff?« forschte ich. »Ist seine Geduld erschöpft und läßt er seinen Haß tätlich an Ihnen aus?«
Linton sah mich an, antwortete aber nicht. Weitere zehn Minuten vergingen. Sein Kopf sank auf die Brust, die Müdigkeit übermannte ihn vollständig; er sprach kein Wort mehr, nur schwere Seufzer der Erschöpfung oder des Schmerzes ließ er vernehmen. Cathy begann sich zu zerstreuen: sie suchte nach Heidelbeeren und teilte dann die Ernte mit mir. Ihm bot sie keine an, denn sie sah, daß jede weitere Annäherung zwecklos sein würde.
»Ist jetzt die halbe Stunde um, Ellen?« flüsterte sie mir schließlich zu. »Ich weiß nicht, warum wir noch bleiben sollen. Er schläft, und Papa wird Sehnsucht haben nach uns.«
»Wir können ihn nicht so verlassen«, antwortete ich. »Warten Sie, bis er aufwacht. Sie waren ja so begierig, ihn zu sehen; ist Ihr Gefühl für den armen Linton so rasch verflogen?«
»Warum wollte er mich sehen?« entgegnete Catherine. »Er war mir früher in seinen gräßlichsten Stimmungen lieber als heut. Welch merkwürdiges Gebaren! Es ist gerade, als habe man ihm eine Aufgabe gestellt – als habe er aus Furcht vor seinem Vater dies Zusammentreffen verabredet. Aber ich habe keine Lust, Mr. Heathcliff mit meinen Besuchen ein Vergnügen zu bereiten. Und wenn es mich auch freut, daß Lintons Gesundheitszustand besser geworden ist, so betrübt es mich noch mehr, daß seine Liebe zu mir nachgelassen hat.«
»Sie meinen, sein Gesundheitszustand habe sich gebessert?« fragte ich.
»Ja«, antwortete sie. »Er klagt doch nicht mehr. Er ist wohl nicht so gesund, als er selbst meint, aber es geht ihm anscheinend besser.«
»Da sind wir verschiedener Meinung, Miß Cathy«, bemerkte ich. »Ich würde ihn für viel kränker halten.«
Linton fuhr plötzlich entsetzt aus seinem Schlummer auf und fragte, ob jemand ihn gerufen habe.
»Nein«, sagte Cathy, »das wirst du geträumt haben.«
»Ich glaubte meinen Vater zu hören«, ächzte er. »Du bist sicher, daß niemand rief?«
»Ganz sicher«, erwiderte sie. »Nur Ellen und ich sprachen über deine Gesundheit. Bist du wirklich kräftiger, Linton, als damals im Winter? Wenn das der Fall ist, so ist eines sicher nicht ebenso erstarkt: dein Gefühl für mich. Bist du kräftiger? sprich!«
Tränen stürzten aus Lintons Augen, als er antwortete: »Ja, ja!« Und sein Blick wanderte noch immer angstvoll umher. Cathy erhob sich. »Für heute müssen wir gehen«, sagte sie. »Und ich will nicht verbergen, daß ich von unserer Begegnung sehr enttäuscht bin.«
»Still«, flüsterte Linton; »um gotteswillen sei still! Er kommt.« Und er klammerte sich an Catherines Arm, um sie zurückzuhalten. Aber sie machte sich hastig los und pfiff Minny herbei, die ihr wie ein Hund gehorchte.
»Nächsten Donnerstag komme ich wieder«, rief sie, in den Sattel springend. »Adieu! Schnell, Ellen!«
Und so ritten wir fort. Er war so gelähmt vom Anblick seines Vaters, daß er kaum unser Fortgehen bemerkte.
Ehe wir daheim ankamen, hatte Catherines Mißvergnügen sich in Bedauern und Mitleid umgewandelt. Ich riet ihr, mit einem Urteil vorläufig noch zurückzuhalten: eine zweite Begegnung würde uns mehr Gewißheit schaffen. Der Herr verlangte einen Bericht von uns. Wir richteten Lintons Danksagung getreulich aus, das übrige hüllte Miß Cathy in Dunkel. Und auch ich gab seinen Fragen nur unbefriedigende Antwort, da ich kaum wußte, was ich verbergen und was ich aufdecken sollte.