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VII.

Cathy blieb fünf Wochen auf Drosselkreuz – bis zu Weihnachten. Da war ihr Fuß geheilt und ihr Betragen sehr gebessert. Die Herrin besuchte sie häufig und begann die Erziehung, indem sie versuchte, durch Schmeichelreden und schöne Kleider, die sie ihr schenkte, ihr Selbstgefühl zu heben; beides nahm Cathy willig an. Und als sie dann heimkehrte, war es nicht ein zerzauster Wildling, der ins Haus gesprungen kam, um uns an den Hals zu fliegen, sondern von einem hübschen schwarzen Pony stieg würdevoll eine junge Dame. Unter ihrem Federhut quollen lange braune Locken hervor, und sie trug ein schleppendes Tuchkleid, das sie, als sie hereinrauschte, mit beiden Händen hochheben mußte. Hindley hob sie vom Pferd und rief entzückt: »Nun, Cathy, du bist wahrhaftig eine Schönheit! Ich würde dich kaum erkannt haben; du siehst aus wie eine Dame. Isabella Linton kann nicht bestehen neben ihr, nicht wahr, Frances?«

»Isabella hat nicht ihre natürliche Anmut«, entgegnete seine Frau. »Aber Cathy muß nun auf sich halten und darf hier nicht wieder verwildern. Ellen, nimm Miß Cathy Hut und Mantel ab – warte, Herzchen, du wirst deine Locken zerzausen – laß mich die Hutbänder lösen.«

Ich nahm ihr den Mantel ab und nun sah man ein prächtiges Seidenkleid und glänzende Lackschuhe. Ihre Augen lachten, als die Hunde zur Begrüßung an ihr in die Höhe sprangen, aber sie wagte kaum, sie zu liebkosen, weil sie für ihr kostbares Gewand fürchtete. Sie küßte mich sanft, denn da ich gerade beim Kuchenbacken gewesen war, war ich ganz mehlbestaubt, und daher konnte sie mich nicht umarmen. Und nun sah sie sich nach Heathcliff um. Mr. und Mrs. Earnshaw beobachteten ängstlich die Begegnung der zwei; sie wollten daraus ihre Schlüsse ziehen, ob Hoffnung vorhanden sei, die beiden Freunde einander zu entfremden.

Heathcliff war zunächst nicht zu finden. Wenn er schon vor Cathys Abwesenheit nachlässig und unsauber gewesen war, so war er es seither zehnmal mehr. Niemand außer mir schenkte ihm auch nur so viel Beachtung, ihn einen Schmutzfink zu nennen und dafür Sorge zu tragen, daß er sich wenigstens einmal in der Woche Gesicht und Hände wusch; denn Kinder seines Alters haben selten eine Vorliebe für Wasser und Seife. So kam's, daß sein Gesicht und seine Hände braunschwarz waren vor Schmutz, seine Haare ungekämmt und sein Anzug, den er drei Monate lang in Moor und Staub getragen hatte, gräßlich verwahrlost. Er tat also recht daran, sich hinter einen Sessel zu verkriechen, als er statt des erwarteten kleinen Wildmädels so ein strahlendes graziöses Dämchen eintreten sah.

»Ist Heathcliff nicht hier?« fragte Cathy, die Handschuhe abstreifend; ihre Finger waren durch wochenlanges Nichtstun weiß und zart geworden.

»Heathcliff, komm nur hervor«, rief Mr. Hindley, den die Enttäuschung des Knaben amüsierte, und der sich freute, den schmutzigen Burschen gerade jetzt ihr gegenüberzustellen. »Komm her und begrüße Miß Cathy, wie die anderen Leute.«

Cathy hatte inzwischen ihren Freund in seinem Versteck entdeckt und flog an seinen Hals. Sie küßte ihn oft und herzhaft, hielt dann plötzlich inne, schob ihn von sich und brach in Lachen aus: »Wie furchtbar schwarz und wild du aussiehst! Und wie – wie komisch! Und wie grimmig du dreinschaust. Aber das kommt wohl daher, daß ich an Edgar und Isabella Linton gewöhnt bin. – Nun, Heathcliff, hast du mich vergessen?«

Sie hatte einigen Grund, diese Frage zu stellen, denn Scham und Stolz ließen ihn gar finster blicken, und er rührte sich nicht.

»Gib ihr die Hand, Heathcliff«, sagte Mr. Earnshaw, »heut sei es dir ausnahmsweise erlaubt.«

»Nein«, sagte der Junge, der endlich die Sprache wiederfand, »ich dulde es nicht, daß man mich auslacht. Ich ertrage es nicht!«

Und er wäre davongelaufen, wenn Miß Cathy ihn nicht festgehalten hätte.

»Ich wollte dich nicht auslachen«, sagte sie. »Ich konnte nicht anders. Gib mir die Hand, Heathcliff! Warum schmollst du? Es ist ja nur, weil du so merkwürdig aussiehst. Wenn du dich gewaschen und gekämmt haben wirst, so ist alles in Ordnung; aber du bist so schmutzig.«

Sie blickte besorgt auf seine schwarzen Hände und dann auf ihr Kleid, das durch die Berührung mit seinem Anzug kaum gewonnen haben konnte.

»Du brauchst mich nicht anzufassen!« rief er, ihren Blicken folgend, und entriß ihr seine Hände. »Ich werde so dreckig sein, als es mir gefällt, und ich liebe es, dreckig zu sein, und ich will dreckig sein!«

Damit stürzte er kopfüber aus dem Zimmer, unter dem Gelächter der Herrschaft und zur großen Verwunderung Catherines, die nicht begreifen konnte, wie ihre harmlosen Bemerkungen solch einen Ausbruch schlechter Laune gezeitigt haben konnten.

Nachdem ich Catherine beim Umkleiden und Ordnen ihrer Sachen geholfen, meine Kuchen in den Ofen geschoben und in Wohnzimmer und Küche mächtige Feuer angezündet hatte, wie es sich für den Weihnachtsabend gehört, gedachte ich mich auszuruhen und mit Liedersingen zu unterhalten. Josef hatte sich zu Andachtsübungen auf seine Kammer zurückgezogen, und Mr. und Mrs. Earnshaw zeigten dem kleinen Fräulein allerlei Spielereien, die sie den Lintons als Erkenntlichkeit für ihre Liebenswürdigkeit schenken sollte. Man hatte die Nachbarskinder für den nächsten Tag eingeladen, und die Einladung war unter einer Bedingung angenommen worden: Mrs. Linton bat, daß man ihre Lieblinge jenem »ungezogenen fluchenden Burschen« fernhalte.

Ich blieb also einsam. Ich roch den starken Duft des Backwerks im Ofen und bewunderte die blanken Küchengeräte, die glänzende, mit Stechpalmzweigen geschmückte Uhr, die auf einem Tablett aufgestellten silbernen Krüge, die zum Nachtessen mit warmem Ale gefüllt werden sollten, und vor allem die fleckenlose Reinheit des sauber gekehrten und gescheuerten Fußbodens, dem ich besondere Sorgfalt hatte angedeihen lassen. Ich fand alles reinlich und nett und war zufrieden mit mir. Und dann erinnerte ich mich, wie früher, wenn alles gerichtet war, der alte Earnshaw in die Küche zu kommen pflegte und mich ein braves Mädel nannte und mir als Christgeschenk einen Schilling in die Hand drückte. Und weiter dachte ich – an seine Vorliebe für Heathcliff und seine Besorgnis, daß es dem Armen nach seinem Tode schlecht ergehen könne. Und das weckte natürlich in mir Betrachtungen über die jetzige Lage des armen Jungen, und statt zu singen, wie ich beabsichtigt hatte, begann ich zu weinen. Ich sagte mir aber bald, daß es richtiger sei, den Versuch zu machen, sein Schicksal erträglicher zu gestalten.

Ich erhob mich also und ging in den Hof, um nach ihm zu sehen. Er war nicht weit; ich fand ihn dabei, das glänzende Fell des neuen Ponys zu striegeln und – wie immer um diese Zeit – den anderen Tieren Futter zu geben.

»Beeile dich, Heathcliff«, sagte ich, »die Küche ist so gemütlich, und Josef ist oben in seiner Kammer. Eile dich, und ich will dich hübsch anziehen, ehe Miß Cathy herauskommt, und dann könnt ihr beisammensitzen und habt den Herd ganz für euch allein und könnt bis zum Schlafengehen miteinander plaudern.«

Er fuhr in seiner Arbeit fort und sah nicht einmal auf zu mir.

»Komm – wirst du kommen, ja? Ich habe etwas Kuchen für jeden von euch, fast genug; und es wird eine gute halbe Stunde dauern, bis du sauber angezogen bist.«

Ich wartete ein Weilchen, verließ ihn aber dann, da ich keine Antwort bekam. Catherine speiste mit Bruder und Schwägerin auf der Diele. Josef und ich setzten uns in der Küche zum ungemütlichen Mahl, das mit Vorwürfen von der einen und Übellaunigkeit von der anderen Seite gewürzt war. Seinen Kuchen und Käse ließ er auf dem Küchentisch liegen – für die Wichtelmännchen. Er brachte es fertig, bis neun Uhr herumzuwirtschaften, und stieg dann stumm und finster in seine Kammer hinauf. Cathy blieb noch lange auf; sie hatte für den Empfang ihrer neuen Freunde unheimlich viel herzurichten und anzuordnen.

Sie kam auch einmal in die Küche, um nach dem alten Freund zu sehen; aber er war nicht da, und so fragte sie nur, ob er noch immer bös sei, und ging dann wieder.

Am anderen Morgen stand Heathcliff zeitig auf, und da es ein arbeitsfreier Tag war, trug er seine schlechte Laune hinaus aufs Moor und kehrte nicht eher zurück, als bis die Familie sich zum Kirchgang entfernt hatte. Hunger und Nachdenken schienen ihm bessere Stimmung gebracht zu haben. Ein Weilchen schlich er um mich herum, und nachdem er sich Mut gesammelt hatte, sagte er plötzlich:

»Nelly, mach mich anständig, ich will gut sein.«

»Hohe Zeit, Heathcliff«, antwortete ich; »du hast Catherine so bekümmert. Ich kann wohl sagen, sie bedauert, daß sie überhaupt heimgekommen ist. Es scheint, als beneidest du sie, weil man mehr an sie denkt als an dich.«

Die Bemerkung, daß er Catherine beneide, war ihm unverständlich, aber die Bemerkung, daß er sie bekümmere, verstand er gut genug.

»Sagte sie, daß sie bekümmert sei?« fragte er und sah sehr ernsthaft drein.

»Sie weinte, als ich ihr heut morgen sagte, daß du wieder davongelaufen seiest.«

»Nun, ich weinte letzte Nacht«, entgegnete er, »und ich hatte mehr Grund zum Weinen als sie.«

»Ja, du hattest wohl Grund dazu, mit stolzem Herzen und leerem Magen ins Bett zu gehen«, sagte ich. »Stolze Menschen brüten sich selbst Bekümmernisse aus. Doch wenn du dich deiner Empfindlichkeit schämst, mußt du sie, wenn sie jetzt nach Hause kommt, um Verzeihung bitten, hörst du?« Du mußt zu ihr hingehn und ihr einen Kuß geben und sagen – na, du weißt am besten, was du sagen mußt; nur sprich von Herzen und nicht so, als ob du meinest, ihr schönes Kleid habe sie nun in eine Fremde verwandelt. Und jetzt, obschon ich eigentlich das Mittagessen richten muß, will ich mir doch die Zeit stehlen, dich so herzurichten, daß Edgar Linton neben dir wie eine rechte Puppe aussehen soll, denn das tut er. Du bist ja jünger, und doch möchte ich wetten, daß du größer und zweimal so breit in den Schultern bist als er. Du könntest ihn mit einem Augenzwinkern niederwerfen, fühlst du denn nicht selbst, daß du ihm überlegen bist?«

Heathcliffs Antlitz strahlte für einen Moment; dann aber verfinsterte es sich wieder, und er seufzte:

»Ach, Nelly, wenn ich ihn auch zwanzigmal umwerfen könnte, so würde das ihn nicht ein bißchen häßlicher machen. Ich wollte, ich hätte helles Haar und einen zarten Teint und wäre so gut gekleidet und erzogen und hätte ebensoviel Aussicht wie er, einmal sehr reich zu werden.«

»Und riefest immerzu nach der Mama«, fügte ich hinzu, »und würdest dich vor jedem Dorfbuben fürchten und hocktest wegen eines Regenschauers den ganzen Tag zu Hause. O, Heathcliff, du zeigst wenig Verstand. Komm an den Spiegel, und ich will dich lehren, was du dir wünschen solltest. Siehst du diese zwei Falten über der Nasenwurzel und diese dicken Brauen, die, statt hochgewölbt zu sein, so tief herabgedrückt sind, und darunter die zwei schwarzen Teufel hier, die nie freimütig gradaus blicken, sondern wie Satansspione mürrisch hervorblinzeln? Wünsche und lerne, die grämlichen Runzeln zu glätten, die Lider freimütig aufzuschlagen, und wandle die zwei Höllenteufel in vertrauende unschuldsvolle Engel, die keinen Argwohn kennen und dort, wo sie nicht Feindschaft wissen, nur Freundschaft sehen. Du sollst nicht den Ausdruck eines verprügelten Hundes haben, der weiß, daß er die Fußtritte, die er bekommt, verdient hat, und der doch um seiner Leiden willen alle Welt haßt, nicht nur den bösen Herrn.«

»Mit anderen Worten: ich soll mir Edgar Lintons große blaue Augen und helle Stirn wünschen«, antwortete er. »Ich tu's auch – doch das verhilft mir nicht dazu.«

»Ein gutes Herz verhilft dir zu einem fröhlichen Gesicht, mein Junge«, fuhr ich fort, »und wenn du auch schwarz wie ein Neger wärest Und ein schlechtes Herz wird das schönste Gesicht schlimmer als häßlich machen. Und nun – da wir glücklich mit Waschen und Kämmen und Schmollen fertig sind – sag mir, ob du nicht ein hübscher Bursche bist? Ich finde es, sage ich dir! Du könntest ein verkleideter Prinz sein. Wer weiß es denn, ob dein Vater nicht Kaiser von China war und deine Mutter eine indische Königin? Und jeder von ihnen reich genug, um mit den Einnahmen einer Woche Sturmheid und Drosselkreuz zusammen aufzukaufen. Und du wurdest ihnen von Seeräubern geraubt und nach England gebracht. Ich an deiner Stelle würde mir über meine Herkunft etwas ganz Wunderbares ersinnen; und der Gedanke, wie hoher Abkunft ich wäre, würde mir Mut und Stolz geben, die Quälereien so eines armseligen Landmannes geduldig hinzunehmen.«

So schwatzte ich fort; und Heathcliffs Stirn glättete sich allmählich, und er sah ganz liebenswürdig drein – da wurden wir plötzlich aufgeschreckt: Wagengerassel und Pferdegetrappel schallte herauf. Heathcliff lief ans Fenster und ich zur Tür; da sahen wir gerade noch die beiden Lintons in Mäntel und Pelze gehüllt aus dem Familienwagen steigen und die Earnshaws von den Pferden springen: sie pflegten im Winter oft zur Kirche zu reiten. Catherine nahm die beiden Spielkameraden bei der Hand und führte sie auf die Diele und setzte sie ans Feuer, das ihre bleichen Wangen schnell rötete.

Ich redete Heathcliff zu, hinunterzugehen und fröhlich zu sein, und er gehorchte willig. Aber das Unglück wollte es, daß, als er die von der Küche auf die Diele führende Tür öffnete, Hindley gerade von drüben hereinkam. Sie stießen zusammen, und der Herr stutzte, als er Heathcliff so sauber und munter sah. Er schob ihn in die Küche zurück und befahl Josef ärgerlich:

»Daß mir der Kerl nicht ins Zimmer kommt! Sperr ihn in die Bodenkammer, solange wir Mittag essen. Er würde die Finger in die Pasteten bohren und das Obst stehlen, wenn man ihn nur einen Augenblick unbeaufsichtigt ließe.«

»Nein, Herr«, konnte ich mich nicht enthalten zu sagen, »er wird nichts anrühren, gewißlich, er nicht! Und ich meine, er muß ebensogut sein Teil von den Süßigkeiten haben wie wir.«

»Er soll von meiner Hand sein Teil haben, wenn ich ihn vor Dunkelsein hier unten erwische!« schrie Hindley. »Weg, du Strolch! Was, du willst gar den Gecken spielen, he? Warte, bis ich diese eleganten Locken zausen werde – da sollen sie noch länger werden, als sie jetzt schon sind!«

»O, die sind schon lang genug«, bemerkte der junge Linton von der Diele her. »Mich wundert, daß sie ihm kein Kopfweh machen; sie hängen ihm wie eine Pferdemähne in die Augen.«

Gewiß machte er diese Bemerkung ganz ohne beleidigende Absicht. Doch Heathcliffs wilde Natur konnte von einem, den er so gründlich haßte und als Nebenbuhler fürchtete, solche anscheinende Impertinenz nicht hinnehmen. Er ergriff eine Schüssel mit heißem Apfelmus (das erste, was ihm unter die Hände kam) und schleuderte sie dem Sprecher ins Gesicht, der sofort in ein Gejammer ausbrach, das Isabella und Catherine herbeieilen ließ.

Mr. Earnshaw packte den Missetäter und schleppte ihn in sein Zimmer hinauf, wo er ihn einsperrte und zweifellos seinen Wutausbruch derb bestrafte, denn als er wiederkam, war er rot und atemlos.

Ich nahm ein Tuch und rieb recht unsanft des vorwitzigen Edgar Mund und Nase und versicherte ihm, daß er für seine Einmischung diese Strafe wohl verdient habe. Seine Schwester verlangte weinend nach Haus, und Cathy stand verlegen dabei und schämte sich für alle.

»Du hättest nicht mit ihm sprechen sollen«, verwarnte sie den jungen Linton. »Er war schlechter Laune, und nun hast du unsere Festfreude verdorben, und er wird durchgeprügelt werden; ich kann es nicht ertragen, daß er geprügelt wird. Ich kann jetzt kein Mittagbrot mehr essen. Warum hast du zu ihm gesprochen, Edgar?«

»Ich habe es gar nicht getan«, schluchzte der Junge, indem er sich von mir losriß und die Reinigung mit seinem Battisttaschentuch vollendete. »Ich habe Mama versprochen, daß ich nicht ein Wort mit ihm sprechen würde, und ich hab es auch nicht getan.«

»Also weine nicht«, antwortete Catherine ärgerlich; »du bist nicht daran gestorben. Mach die Sache nicht schlimmer, als sie ist. Mein Bruder kommt, sei still! Still, Isabella! Hat dir denn jemand was getan?«

»Kommt, Kinder, kommt! Nehmt Platz!« rief Hindley schnaufend. »Der Kerl hat mich in Hitze gebracht! Ein andermal, Mr. Edgar, mögen Ihre eigenen Fäuste sich Recht erkämpfen, das wird Ihnen Appetit machen.«

Die kleine Gesellschaft fand beim Anblick der festlichen Tafel ihren Gleichmut wieder. Sie waren nach ihrem weiten Ritt hungrig und, da ihnen ja schließlich kein ernstliches Unglück widerfahren war, bald getröstet. Mr. Earnshaw reichte ihnen gehäufte Teller, und seine Frau wußte die Unterhaltung fröhlich zu leiten. Ich wartete hinter ihrem Stuhl auf und war bekümmert, zu sehen, daß Catherine trockenen Auges und mit gleichgültiger Miene das Fleisch auf ihrem Teller zerteilte. »Welch fühlloses Geschöpf«, dachte ich bei mir selbst; »wie leicht sie die Mißhandlung ihres alten Kameraden nimmt. Ich hätte sie nicht für so selbstsüchtig gehalten.«

Sie führte einen Bissen zum Munde – und ließ ihn wieder sinken: ihre Wangen flammten, und Tränen strömten drüber hin. Sie ließ die Gabel zu Boden fallen und bückte sich danach, um ihre Bewegung zu verbergen. Ich nannte sie nicht mehr gefühllos, denn ich bemerkte, daß sie nachher den ganzen Tag ruhelos war und angstvoll nach Gelegenheit suchte, allein zu sein oder Heathcliff zu sehen. Ich war zu ihm hinaufgegangen, um ihm etwas Essen zuzustecken, doch der Herr hatte ihn eingeschlossen.

Abends wollten die Kinder tanzen, und da Isabella Linton keinen Partner hatte, bat Cathy darum, Heathcliff herunterholen zu dürfen. Ihr Bitten war vergebens, und ich mußte Isabellas Herrn abgeben. In der Freude des Spiels vergaßen wir bald allen Kummer, und unser Fest wurde durch die Ankunft der Spielleute von Gimmerton noch erhöht. Es waren dreizehn Mann: eine Trompete, eine Posaune, ein paar Klarinetten und Hörner, eine Baßgeige und einige Sänger. Diese Leute wandern jedes Jahr zu Weihnachten auf die Gutshöfe hinaus und bekommen für ihr Spiel kleine Festgeschenke, und wir fanden es damals ein herrliches Vergnügen, ihnen zuzuhören. Nachdem die üblichen Choräle gesungen worden waren, baten wir sie um Volkslieder und Balladen. Mrs. Earnshaw liebte Musik, und so bekamen wir viel zu hören.

Catherine gefiel es auch sehr; aber sie sagte, am süßesten klinge das Singen, wenn man hoch oben vom Ende der Treppe aus zuhöre, und sie stieg im Dunkeln hinauf. Ich folgte. Drunten schlossen sie die Wohnstubentür und bemerkten unsere Abwesenheit gar nicht; es waren so viel Leute drunten.

Catherine blieb nicht auf dem Treppenabsatz stehen, sondern stieg noch höher hinauf: sie kletterte die Leiter empor, die zur Bodenkammer führte, in der Heathcliff eingesperrt war, und rief ihn an. Ein Weilchen verweigerte er trotzig jede Antwort. Doch sie bat unermüdlich und brachte ihn schließlich dahin, sich durch die Bretterwand mit ihr zu unterhalten.

Ich ließ die armen Dinger ungestört plaudern, bis ich annahm, daß das Singen nun ein Ende haben werde. Da stieg ich die Leiter hinauf, um Cathy zu warnen. Statt sie draußen zu finden, hörte ich ihre Stimme von drinnen ertönen. Die kleine Katze war durch die Dachluke der einen Kammer hinaus am Dach entlang in die Luke der anderen Kammer hineingekrochen, und nur mit großer Mühe konnte ich sie wieder herausbekommen. Heathcliff kam mit ihr, und sie bestand darauf, daß ich ihn zu mir in die Küche nehmen solle, da ich ja allein dort sei. Mein Dienstgenosse war zu einem Nachbar gegangen, um unserem »Teufelsgeplärre«, wie er sagte, zu entgehen. Ich antwortete ihnen, daß ich durchaus nicht gesonnen sei, ihre Streiche zu unterstützen; aber da der Gefangene seit gestern Mittag gefastet habe, so wolle ich ein Auge zudrücken.

Er kam mit hinunter. Ich stellte ihm einen Stuhl ans Feuer und tischte ihm eine Menge guter Sachen auf. Doch er fühlte sich krank und aß nur wenig. Er stützte die Ellbogen auf die Kniee und das Kinn in die Hände und blieb in dumpfes Brüten versunken. Auf meine Frage nach dem Gegenstand seiner Gedanken entgegnete er ernst:

»Ich überlege, wie ich es Hindley heimzahlen werde. Es ist mir gleich, wie lange ich warten muß, wenn ich's ihm nur endlich geben kann. Ich hoffe, er wird nicht vorher sterben.«

»Schäme dich, Heathcliff«, sagte ich. »Es ist Gottes Sache, böse Menschen zu bestrafen; wir sollten lernen zu verzeihen.«

»Nein, Gott würde nicht die Genugtuung haben, die ich haben werde«, erwiderte er. »Wenn ich nur den besten Weg wüßte! Laß mich in Frieden, und ich werde es schon herauskriegen; solange ich daran denke, fühle ich keinen Schmerz.« –

»Aber, Mr. Lockwood, ich habe ja gar nicht bedacht, daß diese Geschichten Sie nicht interessieren können. Ich begreife gar nicht, wie ich so ins Schwatzen gekommen bin. Und Ihr Haferbrei ist kalt, und Sie sehnen sich nach dem Bett. Ich hätte Heathcliffs ganze Geschichte, alles was in Betracht käme, in einer halben Stunde erzählen können.«

Die Haushälterin erhob sich und legte ihre Näharbeit beiseite. Doch ich fühlte mich unfähig, meinen Platz am warmen Kamin zu verlassen, und ich war weit entfernt davon, schläfrig zu sein. »Bleiben Sie sitzen, Mrs. Dean«, rief ich, »bleiben Sie doch sitzen! Ein halbes Stündchen nur! Sie haben gerade in der rechten Weise erzählt; gerade so ist es mir lieb, und Sie müssen so fortfahren. Ich interessiere mich übrigens mehr oder weniger für jeden Charakter, den Sie da gezeichnet haben.«

»Die Uhr schlägt elf, Herr.«

»Macht nichts. – Ich gehe nie schlafen, wenn der Zeiger eine so hohe Zahl zeigt; ein oder zwei Uhr ist früh genug für einen, der bis zehn Uhr im Bette bleibt.«

»Sie sollten nicht so lange liegen bleiben, Herr. Wer um zehn Uhr nicht schon sein halbes Tagewerk vollbracht hat, der riskiert, daß auch die andere Hälfte ungetan bleibt.«

»Und dennoch, Mrs. Dean, setzen Sie sich wieder; denn morgen gedenke ich bis in den Nachmittag hinein zu schlafen. Ich prophezeie mir nämlich eine gehörige Erkältung.«

»Ich hoffe nicht, Herr. – Also, dann gestatten Sie mir, einen Zeitraum von etwa drei Jahren zu überfliegen, während welcher Zeit Mrs. Earnshaw ...«

»Nein, nein! Ich erlaube nichts dergleichen! Fahren Sie nur fort, Ihre Geschichte mit allen Einzelheiten zu erzählen. Ich sehe schon, die Menschen hier sind den Stadtmenschen weit überlegen. Sie leben ernster, mehr in und für sich selbst und weniger oberflächlich. Ich könnte mir hier eine Liebe fürs ganze Leben vorstellen, und ich war bisher überzeugt, daß keine Liebe länger als ein Jahr bestehen könne.«

»O, wir sind hier nicht anders als die Menschen da draußen. Sie müssen uns nur erst kennen lernen«, bemerkte Mrs. Dean, der meine Worte wohl etwas unverständlich waren.

»Verzeihen Sie«, entgegnete ich, »aber Sie, meine liebe Freundin, sind ein schlagender Beweis für meine Meinung. Abgesehen von einigen Provinzialismen ist Ihr Benehmen durchaus abweichend von dem Ihrer Standesgenossen. Ich bin überzeugt, Sie haben viel mehr gedacht, als die Mehrzahl der Dienstboten das tun. Sie sind genötigt gewesen, Ihre Gedanken zu sammeln, aus Mangel an Gelegenheit, Ihr Leben an dumme Kleinigkeiten zu vergeuden.«

Mrs. Dean lachte.

»Gewiß halte ich mich für eine vernünftige, gesetzte Person«, sagte sie; »nicht gerade, weil ich hier zwischen den Hügeln lebe und immer dieselben Gesichter sehe und von einem Jahr zum anderen dieselben Vorgänge, sondern weil ich starke Selbstzucht üben mußte, die mich klug sein lehrte. Und dann, Mr. Lockwood, ich habe mehr gelesen, als Sie wohl denken. Sie werden hier in unserem Bibliothekzimmer kaum ein Buch finden, in das hinein ich nicht geblickt und aus dem heraus ich nicht etwas gewonnen hätte – abgesehen von der Reihe griechischer und lateinischer Werke und der anderen, die französische Bücher enthält; aber auch diese kenne ich gut voneinander. Mehr kann man von eines schlichten Mannes Tochter nicht erwarten. Doch wenn ich meine Geschichte so recht weitschweifig erzählen soll, täte ich besser fortzufahren, und statt drei Jahre zu überspringen, will ich schon mit dem nächsten Sommer beginnen, dem Sommer von 1778, seit dem nun fast dreiundzwanzig Jahre vergangen sind.«


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