Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XI. Lichtstrahlen in Babel

Quer über den Bosporus bewegte sich eine schwerfällige, riesige Barke. Die Schule Reschad Beys machte einen Ausflug nach den »süßen Wassern von Asien«. Vier Türken mit weiten blauen Pumphosen und großen roten Schärpen, auf dem Kopfe den Fez mit einem geblümten Turban, regierten mit langen Ruderstangen das unförmliche Gefährt durch die starke Strömung. Auf asiatischem Ufer in der Nähe des schwarzen Turmes, in dem in alter Zeit die Sultane mißliebig gewordene Botschafter gefangen gehalten hatten, stieg die frohe Schar aus. Dann gab's eine muntere Wanderung an dem kleinen Fluß mit dem poetischen Namen, vorüber an Villen und Gärten bis zu einem friedlichen schattigen Platze, an dem eine altertümliche Handtöpferei sich befand. Hier verließen sie den Fluß und gingen im Schatten großer Platanen bis zu einem lieblichen kesselartigen Tal, dessen Abhänge von blumenreichen Wiesen gebildet wurden. In der Mitte des Kessels an einer kleinen griechischen Kapelle, durch deren offene Tür man die Kerzen des Altars brennen sah, standen eine Menge merkwürdig geformter Wagen mit bunten, vergoldeten, arabeskenartigen Verzierungen.

»Heute am Freitag, dem türkischen Sonntag«, sagte Reschad Bey zu Hasso, »sehen Sie hier ein Stück türkischen Volkslebens; da machen die Familien Landpartien hierher oder zu den »süßen Wassern von Europa«, westlich vom goldenen Horn. Sehen Sie dort!«, damit wies er mit dem Finger auf die ansteigenden Wiesen.

Hasso sah ein fesselndes Bild. Wie bunte Blumen waren auf den Wiesen blaue, grüne, gelbe, rote, violette, weiße Flecke verstreut: die türkischen Frauen in grellfarbigen seidenen Überkleidern mit ihren Kindern lagerten sich im Grünen. Es war ein fröhliches Bild harmloser, unschuldiger Freude.

Die Schar der Schüler war bald auf einer Wiese in lebhaftem Spiele begriffen. Dann wurden die mitgebrachten Vorräte ausgeteilt, und sie lagerten sich. Hasso las den 148. Psalm, diesen herrlichen Lobpreis Gottes in der Natur, wozu Reschad Bey zur Ergänzung die erste Sure des Korans vortrug. Diese kurze Andacht gab Anlaß zu manchen ernsten Gesprächen mit einzelnen Schülern. Es zeigte sich, daß doch manche sehr mit Zweifeln geplagt waren. Durch die Ereignisse der letzten Zeit, die entsetzlichen Seuchen, die das Volk dezimierten, waren gerade die Nachdenklichen unter ihnen, die sich nicht mit dem gröbsten mohammedanischen Fatalismus begnügen mochten, sondern nach einer befriedigenden Gottesvorstellung suchten, wieder irre geworden, und manche waren im Begriff im Fatalismus wieder den letzten Rettungsanker für ihren Gottesglauben zu sehen.

Es war ja kaum eine Familie, in der nicht ein schmerzlicher Todesfall zu beklagen war.

Nach kurzer Rast brachen sie auf und es galt ein fröhliches Klettern über die grünen Berge. Myrthen- und Lorbeersträucher erfüllten die Luft mit balsamischem Duft. Der in Form von niedrigen Sträuchern wachsende türkische Mohn zierte den Boden mit seinen weißen und roten Blüten. Der Christusdorn aber schlang sich um die Füße; darum kam man nur langsam vorwärts. Auf der anderen Seite gelangte man nach kurzer Wanderung zu einem großen Tschiftlik (Landgut); die ungeheuren Schafherden, die überall auf den Bergen weideten, ließen die Hoffnung auf einen Trunk frischer Milch wach werden. Und in der Tat, man fand sich nicht getäuscht. Die freundlichen Leute ließen der durstigen Schar für wenig Geld süße, fette Schafmilch ab und noch dazu guten Schafkäse, der zu dem mitgebrachten Brote köstlich mundete.

Ehe der Rückmarsch angetreten wurde, lagerten sich alle noch einmal und Hasso hielt ihnen eine kurze Ansprache. Er nahm Bezug auf das viele Schwere, das sie alle erduldet, und warf die Frage auf, die wohl auf allen Herzen brannte, wie man die furchtbaren Plagen, die jetzt über die Menschheit gingen, aufzufassen habe. Er gab darauf die Antwort, es sei jetzt die große Gerichts-, das heißt Scheidungszeit, in der die, die an den lebendigen Gott glauben, ausgesondert werden sollen aus der Masse derer, denen der Bauch und der Mammon ihr Gott ist. Die Plagen und Heimsuchungen, die über die Menschheit kommen, seien das Mittel, diese Scheidung zu vollziehen, gewissermaßen das ätzende Scheidewasser. Jetzt müsse sich jeder klar werden, ob er bisher nur um den Preis irdischen Wohlergehens Gott gedient habe, oder ob er auch angesichts des Schreckens und Grauens der letzten Zeit bereit sei, an Gott festzuhalten. Nur solche würden bewährt erfunden. Die letzte Zeit der gegenwärtigen Weltepoche sei herangekommen. Bald werde Christus wiederkommen, um sein Friedensreich aufzurichten. Wohl denen, die da warten und eilen auf den Tag der Wiederkunft des Menschensohnes!

Reschad Bey legte in Ergänzung dazu ein Zeugnis ab von der mohammedanischen Lehre über die Wiederkunft Christi und mahnte die Jünglinge, bereit zu sein auf den Gerichtstag Gottes. Beide Ansprachen wurden auf türkisch gehalten.

Die jungen Angestellten der Milchwirtschaft hatten zugehört. Jetzt traten sie zusammen und sangen zu aller Überraschung das herrliche Lied: »Wenn nach der Erde Leid, Arbeit und Pein ich in die goldenen Gassen zieh' ein« auf armenisch. Wenn auch die Zuhörer den Text nicht verstanden, waren sie doch von der Melodie tief ergriffen. Als Hasso mit ihnen ins Gespräch kam, erfuhr er, daß das Tschiftlik Abraham Pascha, einem gläubigen Armenier, gehöre, der auch lauter gläubige Angestellte habe, die er aus christlichen Erziehungsanstalten bekam. Es war ein liebliches Zusammentreffen, Hasso als Deutscher fand sich hier mit Mohammedanern und Armeniern zusammen in der Erwartung der Wiederkunft Christi und dem inbrünstigen Verlangen, bereit zu sein auf den Tag des Herrn.

Auf dem Rückwege wählte man einen anderen Weg, der etwas oberhalb Anadolu Hissar an den Bosporus führte. Dort wartete wieder die Barke, und fröhlich sprangen die jungen Männer hinein. Die Fahrt war köstlich. Laut schallte der melancholisch tremulierende türkische Gesang der jungen Leute über den Bosporus, während die Abendsonne ihre letzten Strahlen durch das Gemäuer der alten Festungswerke von Rumeli Hissar herübersandte und eine goldene Brücke über den Bosporus baute. Am Kaffeegarten neben der Moschee von Bebek landete die Barke.

Oben in der Schule wartete der Ausflügler eine Überraschung.

Ein hagerer etwa 40jähriger Mann mit schwarzem Schnurrbart und einem Fez auf dem Kopfe fiel vor Reschad Bey auf die Knie und flehte: »Effendim, Effendim, rette mich und mein Kind.«

»Stehe doch auf, Basilides Effendi, was ist denn geschehen?«

Hasso erkannte den griechischen Schuhmacher, der die Lieferung aller Schuhe für die Anstalt hatte; er besaß unten in der Geschäftsstraße einen großen Schuhwarenladen.

»Effendim, eine Plünderrotte hat mir meinen ganzen Laden ausgeräumt; was sie nicht mitgenommen, das haben sie verdorben. Wir sind unseres Lebens nicht sicher. Auch in der Stadt haben sie geplündert und viele Leute erschlagen. Dürfen wir nicht die Nacht hier in der Schule bleiben?«

»Gerne, Basilides Effendi, hole nur dein Kind.«

Basilides eilte von dannen und kam bald mit seiner einzigen Tochter zurück. Es wurde für beide Raum geschaffen im Schulhause, und Basilides erzählte, wie in Bebek noch mehrere Läden und Wohnungen ausgeräumt seien. Doch es folgten keine weiteren Ausschreitungen. Man merkte deutlich, daß diese Plünderungen nicht aus der Volksleidenschaft erwachsen waren, sondern von einer Zentralstelle aus planmäßig geleitet wurden. Wie auf ein gegebenes Zeichen hörten sie wieder auf.

Der Mann erregte Hassos lebhaftes Interesse. Als er dann erzählte, wie die furchtbaren Seuchen der letzten Jahre ihm seine Frau und seinen einzigen Sohn geraubt, sagte er: »Mein einziger Trost bleiben mir außer meiner Tochter Elpis meine Bücher.«

»Welche Bücher sind es, die Ihnen Trost bringen?«

»Meine Bibel und mein Homer.«

»Ihre Bibel? Sind Sie denn Protestant?

»Nein, wir gehören der mit Rom unierten griechischen Kirche an, die ihren eigenen Patriarchen besitzt.«

»Und Ihre Kirche gestattet Ihnen das Bibellesen?«

»Das hat sogar der vorige Patriarch uns nicht zu verwehren vermocht, der es mit den reichen Geldleuten hielt und sowohl das Bibellesen, als die religiösen Kongregationen nicht gerne sah. Er ist von dem jetzigen Papst Pius XII. – Gott segne ihn – abgesetzt worden, und der neue Patriarch befördert das Bibellesen und die religiösen Laienvereinigungen wie er kann.«

»Und der Homer ist Ihnen auch ein liebes Buch?«

»Ja, ich weiß große Teile des Homer auswendig, sogar meine Tochter hat ihre Freude daran.«

»Dann müßten wir manchmal die Bibel und den Homer gemeinsam lesen!«

»Das würde meinem Hause eine große Ehre sein, wenn der hochgeehrte Effendi uns aufsuchen würde. Mein Haus liegt aber weit von hier auf einem Berge über Arnautkiöj. Wenn es dem Effendi recht ist, hole ich Sie morgen ab; vielleicht kommt Ihre Schwester auch mit.«

»Herzlich gerne nehmen wir Ihre freundliche Aufforderung an.« Der Grieche und seine Tochter kehrten wieder zurück in ihr Heim.

Hertha hatte sich nach ihrer Rückkehr aus Berlin gut in die neuen Verhältnisse eingelebt. Sie hatte eine gute Pension in der Familie eines russischen Bankbeamten in Bebek gefunden. Die täglichen Dampferfahrten nach der Stadt waren ihr eine Freude und infolge der heftigen kühlen Nordwinde, die auf dem Bosporus zu wehen pflegen, eine rechte Erfrischung in der brütenden Sommerhitze. Ihre Freizeit brachte sie stets in Gemeinschaft mit ihrem Bruder zu. Bald war kaum ein Fleck in der näheren Umgebung den Geschwistern mehr unbekannt. Die Entwicklung der politischen Verhältnisse verfolgten sie mit gespanntem Interesse. Immer wieder mußte Hertha dabei an Joseph denken und wenn auch Stunden kamen, wo sie glaubte, eine ewige Trennung von ihm leicht verwinden zu können, so war es ihr gerade nach solchen Stunden doch oft, als ob die dunklen, fragenden Augen sie liebvoll anschauten und ihr überall hin folgten. Mit innerem Erbeben hatte sie von seiner Ernennung zum Staatssekretär des Weltbundes für Kulturangelegenheiten gelesen. Welch ein Betätigungsfeld gewann hierdurch sein Haß gegen die christlichen Kirchen, und wie würde sich die Kluft zwischen ihnen beiden zu einer unüberbrückbaren erweitern! Um so inbrünstiger betete sie für den Mann, den sie liebte.

Hassos Aufforderung, mit ihm den klassischen Schuhmacher zu besuchen, folgte sie gerne. So gingen die drei miteinander die Talschlucht von Bebek hinauf, oben dann in der Richtung auf Konstantinopel durch schöne Feigenbaumpflanzungen und Obstgärten hinunter nach dem oberen Teil des griechischen Bosporusortes Arnautkiöj und an der anderen Seite des Tales von Arnautkiöj wieder den Berg hinauf bis zu seiner höchsten Erhebung. Hier lag ein großer, sorgfältig gepflegter Garten und mitten in ihm ein einfaches von Regen und Wind schwarzgrau gewordenes zweistöckiges Bretterhaus, dessen Wände von duftenden Blütentrauben der Glyzinien bedeckt waren.

Basilides begrüßte seine Gäste herzlich mit den Worten: »Mein Haus ist Ihr Haus« und führte sie hinein. In der Mitte des Hauses war eine Art Atrium, wie sie in den römischen Häusern und den griechischen der hellenistischen Zeit sich fanden. Obwohl das Holzwerk der Säulen etwas morsch war, bot das Ganze doch einen lieblichen Anblick dar. Die Säulen waren mit Schlinggewächsen umkleidet; auf dem Rasenplatz in der Mitte wuchsen um ein steinernes Wasserbassin herum Lilien in den verschiedensten Farben, und zwischen ihnen kniete ein weißgekleidetes Mädchen. Als sie die Ankommenden bemerkte, sprang sie auf, eilte mit einem Lilienstrauß in der Hand auf ihren Vater zu und küßte ihn.

»Väterchen, endlich seid ihr da, ich habe schon lange auf euch gewartet.«

Georgios Basilides stellte Hertha seine Tochter Elpis vor, die mit einem tiefen Knix sich vor den Gästen verneigte.

Elpis war ein mittelgroßes, schön gewachsenes Mädchen von etwa 18 Jahren. Große schwarze Augen, in denen ein sinnender Ernst mit neckischer Lustigkeit sich um den Vorrang zu streiten schienen, leuchteten aus dem von einer reichen Fülle lockigen blauschwarzen Haares umrahmten hübschen runden Gesicht. Die Wangen waren leicht gerötet. Sie trug ein leichtes weißes Sommerkleid und braune Sandalen. Elpis, die die Hausfrau vorstellte, ging voran und führte sie an der anderen Seite des Hauses hinaus, wo ein Tisch mit Stühlen in einer offenen Glasveranda zum Sitzen einlud. Der kühle Nordwind machte den Aufenthalt hier nach dem heißen Wege äußerst angenehm. Die Aussicht auf den Bosporus war geradezu bezaubernd. Auf dem blauen Wasser fuhren außer den Bosporusdampfern gerade einige große Handelsschiffe. Gegenüber die marmornen Sultansschlösser Beyler-Bey und Candilli; auf halber Höhe der alte riesige Konak der Sultansmutter inmitten eines Haines von Zypressen, nach Norden auf der Höhe des europäischen Ufers das schloßartige Gebäude des Robert Colleges, eines evangelisch-amerikanischen Gymnasiums, von dem die zackigen, turmbewehrten Mauern von Rumeli Hissar zum Ufer hinabkletterten, um hier an der engsten Stelle des Bosporus scheinbar den »schwarzen Turm« des asiatischen Hissar zu berühren. Nach Süden die Schlösser und Villen der südlichen Bosporusorte, aus denen die weiße Moschee von Ortaköj hervorleuchtete, und ganz in der Ferne, von einem blauen Streifen, dem Marmarameer, umsäumt, wie eine Fata Morgana die Weltstadt mit ihren Minarets und Moscheen.

»Welch unvergleichliches Bild«, sagte Hasso und drückte Herthas Hand. »Paradiesesherrlichkeit und doch eine Stadt, da der Satan seinen Thron hat.«

Inzwischen war Elpis mit dem Kaffee à la turka gekommen, der in winzigen Mokkatäßchen gereicht wurde. Dazu bot sie eine Fülle von türkischen Süßigkeiten an, Lukum, Halwa und verschiedene Sorten Bonbons.

Hasso brachte noch einmal das Gespräch auf die kirchlichen Verhältnisse: »Haben Sie denn auch die lateinische Kirchensprache, wie überall in der katholischen Kirche?«

»Keineswegs, wir lassen uns unsere Muttersprache nicht nehmen.«

»Und das hat der Papst zugegeben?«

»Das war Roms Pflicht und unser gutes Recht«, sagte der Grieche stolz.

»Und werden Sie in Ihrer Kirche wirklich auf Christum hingewiesen?«

»Viele Bischöfe und Pfarrer predigen das reine Evangelium vom Kreuz und Blut Christi; freilich gibt es auch andere, die so denken wie der vorige Patriarch. Sie wollen nur die Kirche groß und mächtig sehen, fragen aber den Seelen der Menschen nichts nach; diese sind auch unserem jetzigen Patriarchen bitter feind. Aber der Patriarch sorgt für frischen Nachwuchs. In die Klöster, wo die Geistlichen ausgebildet werden, hat er jetzt als Lehrer Patres des Ordens vom allerheiligsten Herzen Jesu berufen. Einer Jungfrauenkongregation dieses Ordens gehört auch Elpis an.« Jetzt fiel Hasso eine dünne Kette auf, die Elpis um die Hüfte trug, von der an der Seite ein Kruzifix herabhing.

»Elpis singe uns doch einmal eines eurer schönen Lieder.« Das Mädchen nahm ihre Laute von der Wand und sang dazu mit lieblicher Stimme einige Lieder in den einschmeichelnden Melodien des griechischen Volksgesanges zu Ehren des allerbarmenden Herzens Jesu, seiner heiligen Wunden, seines Todes, seiner Auferstehung und der Jungfrau Maria. Aus ihren Augen war der Zug von neckischer Lustigkeit geschwunden, mit hingebender Andacht schaute sie gen Himmel.

»Sie haben wohl den Heiland sehr lieb«, fragte Hertha sie auf französisch.

»O, ich liebe ihn noch viel zu wenig«, sagte sie demütig, »ihn, der alles für mich getan.«

»Wir sind so unbeschreiblich dankbar«, sagte Basilides Effendi, »daß ein neuer Geist des Glaubens durch unsere Kirche weht. Der Segen davon läßt sich auch über ihre Grenzen hinaus spüren. Die wirklich Gläubigen aus der griechisch-russischen Kirche schließen sich uns an, weil dort alle, die mit dem Glauben ernst machen, schief angesehen, ja verfolgt werden.«

»Ich habe selbst einen abschreckenden Eindruck empfangen, wie in dieser Kirche der Geist des Mammonsgötzen die Priester gefangen hält«, sagte Hasso, und erzählte sein Erlebnis mit dem Patriarchen.

»Ja, so ist es überall, diese Kirche kann es nicht vergessen, daß sie einst Staatskirche war, und so ist sie noch jetzt abhängig von den Gewalten, die diese Erde beherrschen.«

»Wie wäre es jetzt mit etwas Homer?«, fragte Hasso.

Basilides und seine Tochter hatten schon ihr Exemplar bereit liegen und Hasso zog das seine aus der Tasche.

Das war nun freilich nicht so leicht, wie Hasso es sich gedacht. Die griechische Aussprache wird auf den deutschen Schulen nicht gelehrt. Als das Studium des Griechischen in Deutschland aufkam zur Zeit der Renaissance, bestand fast keine Verbindung zwischen Deutschland und Griechenland. Man wußte daher nichts von der griechischen Aussprache und half sich dadurch, daß man das Griechische deutsch aussprach. Diese Aussprache hat man seitdem beibehalten. Es war daher sehr spaßhaft, wie heim Vorlesen des ersten Gesanges der Odyssee keiner den anderen verstand. Die volltönenden Laute, die Hasso zum Vortrag brachte, erschienen Basilides als eine fremde Sprache, und Hasso hatte Mühe in den einem Vogelgezwitscher nicht unähnlichen Lauten sein geliebtes Griechisch wiederzuerkennen. Sie gaben daher zunächst das gemeinsame Lesen auf und Hasso hörte ihm geläufige Stellen Homers von Vater und Tochter aus dem Gedächtnis hersagen. Dadurch lernte er schon etwas die richtige Aussprache, und Basilides erklärte sich bereit, ihn weiter darin zu unterrichten. Sobald Hasso die Aussprache beherrschte, wollten sie auch in Gemeinschaft mit Elpis an das Lesen des griechischen Neuen Testaments gehen.

In ehrfürchtigem Schweigen genossen sie den herrlichen Blick. Elpis saß auf einem Schemel zu Herthas Füßen und legte ihr Haupt an Herthas Knie. »Ich liebe die deutschen Mädchen«, sagte sie schmeichelnd, »ihre goldenen Haare leuchten wie die Sonne, und ihre blauen Augen sind wie das blaue Meer.«

»Du liebes Kind«, erwiderte Hertha, »wir wollen recht zusammenhalten, denn wir sind eins im Herrn«, und strich ihr freundlich über das krause schwarze Haar.

Plötzlich hörten sie ein Rollen und spürten gleichzeitig ein Zittern des Bodens. Die Stühle schwankten. Hasso und Hertha sprangen erschrocken auf. Die Griechen blieben aber ganz ruhig.

»Ein bißchen Erdbeben, das ist hier etwas Alltägliches«, erklärte Basilides. »Zum Schutz gegen die Erdbeben finden Sie hier die meisten Häuser aus Holz gebaut. Während Steinhäuser beim Erdbeben leicht zusammenstürzen, schieben sich Holzhäuser bei Bewegungen der Erde wohl etwas auseinander, um aber dann sich gleich wieder zusammenzufügen.« Die Stöße wiederholten sich. Hasso fiel vom Stuhl, was Elpis' Heiterkeit erregte. Immer stärker wurde das Rollen. Aus der Tiefe, dort, wo die vielen Arbeiterhäuser standen, hörte man vereinzelte Schreie, die aber bald durch den unterirdischen Donner übertönt wurden.

Da – was war das? Ein starker Stoß – ein Krachen, ein Splittern und sie saßen im Dunkeln. Hasso hörte ein Stöhnen, er sprang auf. Von der Seite drang etwas Licht herein und er erkannte, daß ein Teil des Daches heruntergestürzt war und die Veranda zugedeckt hatte. Elpis lag ächzend am Boden. Ein Dachsparren hatte das Glasdach der Veranda durchschlagen. Splitter hatten sie im Gesicht leicht verletzt und der Sparren war auf ihre Schulter gefallen.

»Elpis, mein Kind, was ist dir?«, rief der Vater.

»Sei ruhig, Vater, es wird schon wieder besser werden.«

Basilides versuchte sein Kind aufzurichten, aber sie klagte über solche Schmerzen in der Schulter, daß es ihr unmöglich war.

»Wir müssen sie ins Bett bringen und einen Arzt holen«, entschied Hertha.

Der Vater und Hasso trugen das junge Mädchen ins Haus und brachten sie in ihr im ersten Stock gelegenes Stübchen. Im Hause war kein Schaden angerichtet.

Die kleinen Verletzungen, die sie alle durch herumfliegende Glassplitter erlitten, erwiesen sich als ungefährlich.

Der Vater eilte nach Arnautkiöj hinunter, um einen Arzt zu holen, und die Geschwister blieben bei Elpis. Das Erdbeben hatte aufgehört.

»Es ist das erstemal, daß uns bei einem Erdbeben etwas passiert ist«, sagte Elpis. »Es war aber auch viel stärker als sonst. Gott sei Dank, daß nichts Schlimmeres geschehen.«

»Wir wollen dem Herrn danken und zu ihm flehen«, schlug Hasso vor, und dann kniete er mit Hertha an dem Bett des jungen Mädchens nieder; sie dankten Gott, daß er sie gnädig vor Schlimmerem bewahrt und flehten zu ihm für Elpis' baldige Genesung.

Mit dankbarem Blick reichte Elpis den Geschwistern beide Hände.

»Sie sind so gut zu mir, Gott lohne es Ihnen«, sagte sie innig.

Es dauerte sehr lange, bis der Vater mit einem Arzt zurückkehrte.

»Ein furchtbares Unglück!«, rief Basilides aus. »Viele Häuser sind eingestürzt und so viele Menschen erschlagen! Die Ärzte waren alle beschäftigt mit den Verletzten; ich mußte nach Kurutschesme gehen und habe den dortigen Arzt mitgebracht.«

Der Arzt stellte einen Bruch des Schlüsselbeins fest. Mit Herthas Hilfe entkleidete er das Mädchen vorsichtig und verordnete äußerste Ruhe.

Als er gegangen, erklärte Hertha sich bereit, in der Nacht bei Elpis zu bleiben und Hasso kehrte allein nach Bebek zurück.

Auf dem Rückweg trat ihm an einer griechischen Kapelle Artin Effendi entgegen. Wild schleuderte er seine Arme. Seine Augen glühten noch unheimlicher als damals.

»Wer Ohren hat zu hören, der höre. Gott wird Babel vernichten! Merkt ihr nichts, ihr törichtes Volk? Es war die letzte Warnung. Wehe, wehe, wehe!« Überall sah Hasso Bilder der Verwüstung.

In Bebek fand Hasso das Schulhaus unversehrt vor, aber im Dorfe war viel Schaden angerichtet und schauerlich scholl in der Nacht das Rufen des Nachtwächters: »Jangyn waaar Beschiktaschdeeee, Jedikulede, Gedik-Pascha-dee« (Feuersbrunst ist in Beschiktasch, Jedikule und Gedik-Pascha).

Am folgenden Tage hörte man, daß 600 Häuser durch das Erdbeben zerstört worden waren.


 << zurück weiter >>