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V. Die große Babel

Der Tag von Hassos Abreise war herangekommen. Fleißig hatte die Mutter gearbeitet, um seine Sachen in Ordnung zu bringen, und Hertha hatte ihr, soviel sie konnte, geholfen. Der Abschied wurde Hasso doch schwerer, als er gedacht. Er war eine ganz andere Natur als Arno. Dieser hatte mehr die gutmütige, aber willensstarke Art des Vaters, die leicht für weniger gemütvoll gehalten wird, als sie wirklich ist. Hasso dagegen war ein viel zarter besaiteter Mensch. Solche vorwiegend nach der Gefühlsseite beanlagte Menschen haben leicht einen Zug zum Romantischen. Je abenteuerlicher und phantastischer eine Sache erscheint, um so verlockender ist sie ihnen, ohne daß sie die Schwierigkeiten und Hindernisse irgend in Betracht ziehen. Wenn sie daher eine Sache sich erst in den Kopf gesetzt haben, erscheinen sie oft viel willensstärker als jene, weil sie eben wie ein gutes Rennpferd alle Hindernisse mit kühnem Anlauf zu nehmen gewohnt sind. Dagegen sind sie in zäher Ausdauer keine Meister. Gelingt es gar irgendeinem Hemmnis, sich in ihrem Gemüt Resonanzboden zu schaffen, so verzagen sie leicht und werfen eine mit Begeisterung übernommene Sache wieder hin. Der Gedanke, die Seinen nicht mehr bei sich zu haben, mutterseelenallein im fremden Lande zu sein und dazu noch eine ihm unerklärliche Angst, er könne die Eltern vielleicht nicht wiedersehen, umschattete Hassos Gemüt mit einer dunklen Wolke, und es bedurfte nun des Zuredens der Mutter, damit er nicht noch im letzten Moment die Sache rückgängig machte.

Am Abend war die ganze Familie außer Hertha auf dem Bahnhof Friedrichstraße versammelt, als der Budapester Zug von Charlottenburg einlief. Auch die Geschwister Werner hatten sich eingefunden.

»Leb wohl mein Junge«, sagte der Graf, »ich wünsche dir von Herzen, daß du diesen Schritt nie zu bereuen hast.«

»Gott geleite dich«, flüsterte die Mutter, indem sie den Sohn an ihr Herz drückte, mit einer Fassung, die es ihr sichtlich nicht leicht war zu bewahren. »Du weißt, daß wir für dich beten.«

»Hoffentlich kannst du auf Urlaub kommen, wenn ich mein erstes Pfarramt antrete«, meinte Arno.

»Wir werden deiner oft vor dem Herrn gedenken, wenn du in der großen Babel weilst, wo des Satans Thron ist«, versicherte Fritz.

»Behüt euch Gott ihr Lieben alle«, rief der Scheidende aus, indem er noch einmal jedem die Hand reichte. Dann sprang er in den Wagen, die Seinigen reichten ihm die Gepäckstücke nach, und der Zug setzte sich in Bewegung.

In ernster Stimmung verließen die Zurückbleibenden schweigend den Bahnhof. Erst nach einer Weile fragte Arno: »Was meintest du, lieber Fritz, mit deinem eigenartigen Abschiedsgruß?«

»Es ist meine Überzeugung«, erwiderte Fritz, »daß Konstantinopel immer mehr sich dazu entwickelt, was die Offenbarung unter der ›großen Babel‹ versteht. Dort ist der Mittelpunkt der rücksichtslosen Mammonsherrschaft, die die Völker knechtet. Alle die furchtbaren Kriege seit Beginn des Jahrhunderts sind durch die Geldgier der Nationen entstanden. Die Christenverfolgungen der letzten 60 Jahre haben ihren Ausgang meist von Konstantinopel genommen; dort sind die entsetzlichsten Greuel der Vernichtung gegen die Kinder Gottes ausgeheckt worden, die furchtbarsten, die die Weltgeschichte kennt, denke nur an die 800 000 ermordeten kleinasiatischen Christen der Jahre 1915-17. Und dabei hat sich jetzt eine Blüte der Kultur, der Kunst und des Luxus dort entwickelt, die wie ein bunter Schleier gebreitet ist über eine Stätte der Verwesung. Da nun Konstantinopel, die Stadt auf den sieben Hügeln an den zwei Meeren, Offb. 17, 1, 9. jetzt sichtbar sich zum finanziellen Mittelpunkt der Welt entwickelt, kann man mit Recht sagen, daß der Mammon dort über ungezählten Millionen von Leichen seinen Thron errichtet hat. Haben doch alle jene Greuel ihre Wurzeln irgendwie im Mammonismus. Doch der Tag der Vergeltung wird nicht ferne sein.«

Arno wollte etwas erwidern, aber der Graf schnitt das Gespräch ab:

»Lassen Sie, lieber Fritz, doch diese apokalyptischen Phantasien, mit denen Sie meine Frau nur graulich machen. Die Zukunft wird das ja alles zeigen, ob Sie recht haben oder nicht. Bis dahin aber wollen wir Gott vertrauen, uns zu unserem Heiland bekennen und im übrigen jeder an seinem Platze seine Pflicht tun.«

Hasso konnte in der Nacht nicht viel schlafen; das große Neue, dem er entgegenfuhr, erregte seine Phantasie, und die Trennung von den Seinen bereitete ihm doch empfindliches Weh.

Da er aus Sparsamkeit dritter Klasse fuhr, so mußte er von der Grenzstation an einen Personenzug benutzen und kam am Abend nur bis zu dem Karpathenort Ruttka, von wo erst am nächsten Tage ein Zug nach Budapest fuhr. So mußte er dort übernachten. In einem kleinen, nicht sonderlich sauberen Gasthause fand er ein Zimmer. Eine gute, stark gepfefferte Tomatensuppe, Brot und Butter mit kaltem, knoblauchgespickten Hammelbraten und Tee erquickten ihn. Zeitig ging er zur Ruhe und bald hatte ihn ein erquickender Schlaf umfangen. Bald nach 6 weckte ihn die strahlend aufgehende Sonne und die erfrischten Lebensgeister entfachten die Unternehmungslust in ihm, so daß er beschloß, die Stunden bis Mittag, die ihm noch zur Verfügung standen, zu einem kleinen Karpathenausflug zu benutzen. Als er nach dem Frühstück die breite staubige, zum Walde steil ansteigende Dorfstraße betrat, umfing ihn der für den Orient charakteristische »Duft«, ein Gemisch der Ausdünstungen von ranzigem Hammeltalg, Knoblauch und Staub von trockenem Dünger. Die Schweine liefen auf der Dorfstraße umher und erfrischten sich in den hier und da vorhandenen Mistgüllen. Die oft nur wenig bekleideten Kinder starrten dem Fremdling erstaunt nach.

Trotz der frühen Jahreszeit war es auf der staubigen Landstraße schon recht heiß; aber schon nach einer halben Stunde umfing ihn die frische Kühle des Karpathenwaldes; in der Tiefe, unterhalb der Straße, toste ein Gebirgsbach, über den der Schnee an vielen Stellen noch natürliche Brücken bildete. Die Strahlen der Sonne führten einen nicht immer siegreichen Kampf mit der schneeigen Kühle des dunklen Tannenwaldes, der auffallend an den Schwarzwald erinnerte. An einer sonnigen Lichtung rastete Hasso auf einem Baumstamm. Das feierliche Schweigen wurde nur unterbrochen durch die Stimmen der Vögel. Durch die wallenden Schleier der durch die Sonnenstrahlung verdunstenden Erdfeuchtigkeit gaukelte ein großer Zitronenfalter mit feuerrotem Hauch auf den Oberflügeln. Eine grüne Eidechse raschelte im Moos und betrachtete aus einem Versteck hervor neugierig den Eindringling. Hasso wurde es feierlich zumute. Er dachte all der Güte seines Gottes, die er bisher erfahren. Er besann sich noch auf die Stunde, wo ihm als kleinem 3jährigen Knaben auf dem Arm seiner Mutter bei der Betrachtung des Sternenhimmels das erste religiöse Gefühl aufgeleuchtet war, wie ihm dann auf dem Gymnasium durch einen ungeistlichen Religionsunterricht zeitweise alle Religion verleidet wurde, bis im Konfirmandenunterricht das Wort Gottes wieder eine Stätte in seiner Seele fand. Und dann jene Stunde des ersten Abendmahlsgenusses in der Matthäikirche unter dem herrlich beleuchteten Triptychon von der Auferstehung Christi, wo Jesus ihm begegnete und er seine Seele ihm angelobt für Zeit und Ewigkeit! Seitdem wußte er, daß er ohne Jesum nicht leben konnte. Sein Herz wallte über von Lob und Dank. Er mußte niederknien und Jesum preisen, der ihn zu sich gezogen aus lauter Güte; er mußte Jesum anflehen um seinen Segen für seine Berufstätigkeit im fernen Konstantinopel. In dieser Stunde wurde es ihm klar, daß sein Sinn für das Abenteuerliche und Romantische einen großen Anteil hatte an seiner Entscheidung; er beugte sich vor dem Herrn darüber und bat ihn, alles wieder gutzumachen, was er gefehlt. Endlich flehte er für die Seinen daheim, daß der Herr sie segne und behüte. Nachdem er noch einen Abschnitt aus dem Neuen Testament gelesen, machte er sich auf den Rückweg. Nach einem Imbiß war die Zeit der Abfahrt des Zuges nahe herangekommen und Hasso mußte zum Bahnhof eilen.

Immer höher wand sich die Bahn, bis sie durch eine winterliche Schneelandschaft hinaufkeuchte. Dann ging es steil abwärts nach Kremnitz und bald war man im slowakischen Tieflande. Hier sah Hasso das typische Bild der ungarischen Landschaft: die weißgetünchten Kirchen mit ihren Zwiebeltürmen überragen, auf kleinen Hügeln erbaut, die schmucken Dörfer. Auf den Bahnhöfen die Landbevölkerung in ihrer bunten, kleidsamen Nationaltracht. An dem früheren kaiserlichen Lustschlosse Gödöllö vorüber, das so manche Monarchenbegegnungen gesehen, fuhr der Zug abends in Budapest ein. Hasso fand gastfreundliche Aufnahme im evangelischen Diakonissenhause. Der Vormittag bot Gelegenheit, sich einen Eindruck von dieser in baulicher Hinsicht wohl schönsten Großstadt Europas zu verschaffen. Der nachmittags abgehende Schnellzug führte in sechs Stunden durch die ungarische Pußta nach Belgrad, der Hauptstadt Südslawiens. Das bunte Gemisch von Trachten und die Unsauberkeit im Wartesaale zeigten schon die Nähe des Orients. Es gelang Hasso, in dem riesigen Wagen dritter Klasse noch einen Eckplatz zu finden. Nicht lange, so waren selbst die Gänge besetzt. Bulgaren, Juden, Armenier, Türken füllten den mit dem türkischen Halbmond geschmückten Wagen. Sogar der Herd in der kleinen Küche war von zwei riesigen Türken in blauen Pumphosen und roten Schärpen in Beschlag genommen. Neben Hasso saß ein armenisches Ehepaar, das mit ihren zwei kleinen Mädchen aus Amerika in die Heimat zurückkehrte. Da er seit über einem Jahre auf dem orientalischen Seminar sich mit der türkischen Sprache beschäftigt, konnte er sich zur Not verständigen. Bald merkte er, daß er es mit gläubigen Christen zu tun hatte. Bei der letzten Christenverfolgung vor sechs Jahren waren sie nach Amerika geflüchtet und hatten sich dort eine Existenz gegründet. Da sie den Eindruck gewonnen, daß wieder Ruhe und Freiheit eingekehrt im Türkenlande, so wollten sie jetzt in die Heimat zurück. Ein Wort gab das andere und endlich fragte der Mann Hasso, ob er in Konstantinopel Geschäfte machen wolle. Hasso erklärte den Zweck der Reise und zeigte das Bild des Schulgebäudes, das ihm aus Konstantinopel zugesandt worden war. Ale die junge Frau das Bild sah, stieß sie einen Ruf des Erstaunens und der Freude aus: »Das ist ja das frühere deutsche Waisenhaus in Bebek, in dem meine Großmutter erzogen worden ist, ehe sie im Jahre 1900 heiratete! Wie oft hat uns Großmütterchen das Bild des Hauses gezeigt und uns von den schönen drei Jahren erzählt, die sie im Waisenhause zugebracht.«

Lebhaft interessiert, ließ sich Hasso aus der Geschichte des Hauses erzählen. Vor etwa 200 Jahren von einem türkischen Pascha erbaut, hatte sich über ein Jahrhundert das verschwiegene Leben eines türkischen Serails darin abgespielt. Da wurde es bereits in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts von einem deutschen Konsortium angekauft, das eine deutsche Schule daselbst für die deutschen Kinder der Bosporusvororte errichtete. Dann war es längere Zeit in englischen Händen und es wurde eine englische Kapelle darin eingerichtet. Nach dem Blutbad von Konstantinopel im August 1896 erwarb es der »Deutsche Hilfsbund für christliches Liebeswerk im Orient« und es wurde das Heim eines Waisenhauses für die Kinder der Märtyrer und einer Missionsschule für die eingeborene Bevölkerung aller Nationalitäten. Zugleich ging von dort auch die geistliche Leitung des gesamten aufblühenden Waisen- und Unterstützungswerks der genannten Gesellschaft in Kleinasien aus. Zehn Jahre hat das Waisenhaus bestanden; Hunderte von Waisenkindern sind aus ihm hervorgegangen und haben den Samen des Evangeliums weitergetragen. Da der Betrieb eines Waisenhauses in der Hauptstadt aber soviel teurer ist als in Kleinasien, so wurde es 1906 aufgelöst und die Waisenkinder in die anderen Häuser verteilt. Das Haus kam in amerikanischen Besitz und einige ehemalige Schülerinnen der deutschen Missionsschule richteten eine englische Schule darin ein. Mit lebhaftem Bedauern vernahmen die Armenier, daß das Haus wieder in türkische Hände gekommen sei. Doch war es ihnen ein Trost, daß ein Deutscher, den sie als Bruder im Herrn begrüßen durften, nun als Lehrer der deutschen Sprache in das Haus einzog.

Es war Nacht geworden über den Gesprächen, der Zug stieg ins Gebirge empor; die Fenster beschlugen, es wurde kälter, so daß jede verfügbare Decke hervorgeholt wurde. Die Kinder, deren eines Hassos Knie sich als Kopfkissen ausgesucht, waren sanft eingeschlafen. Bald umfing auch die Erwachsenen ein gesunder Schlaf. Als am nächsten Tage der Zug durch die malerischen bulgarischen Gebirge ging, meist dem Flußlauf der Maritza entlang, hörte Hasso von seinen Reisegefährten noch manches über die unterdrückte Lage der Christen in der Türkei und über das Blutregiment der früheren Sultane.

»Wann wird Gottes Gericht kommen über die Riesenstadt, die trunken ist vom Blute der Heiligen?« rief Frau Sirpuhi aus.

»Wir können dankbar sein, daß wir nicht dort wohnen müssen, daß unsere Heimat in Marasch liegt«, erwiderte Sarkis, ihr Gatte.

»Nun, wir wollen hoffen, daß es nicht so schlimm wird, wie Sie vermuten«, sagte Hasso. Etwas unbehaglich wurde ihm aber doch zumute.

In der zweiten Nacht konnte er nicht viel schlafen, das Gehörte ging ihm durch die Seele und verwebte sich mit seinen Hoffnungen und Erwartungen für die Zukunft. Am nächsten Morgen passierte der Zug die türkische Grenze bei Tschataldscha und fuhr durch eine wüste Zone. Nur selten war eine elende Hütte zu sehen auf dem hügeligen, nur mit wildem Strauchwerk bewachsenen Gelände. Endlich bei Kütschük-Tschekmedsche das blaue Marmarameer, und bald darauf die ersten Vororte Konstantinopels, die sich am Meere hinzogen. Meist malerische, etwas baufällige, vom Alter geschwärzte Holzhäuser mit den üblichen Gitterfenstern, die immer verraten, daß Mohammedaner darin wohnen. Je weiter sie fuhren, mehrten sich die stattlicheren Häuser, sogar einzelne Steinbauten tauchten auf. Dazwischen die weißen Moscheen mit den zierlichen Minarets, die oft überraschend gleichsam aus der blauen Meeresflut hervorzuwachsen schienen. Durch das Häusergewirr zog sich die alte Stadtmauer mit ihren sieben Türmen, in deren Luken Feigensträucher wurzelten und Tauben nisteten, die durch den herannahenden Zug aufgescheucht wurden.

Hasso wunderte sich, daß man in den Stadtgegenden, durch die der Zug fuhr, noch gar nichts von der Weltbedeutung Konstantinopels merkte.

»In der Altstadt Stambul, die hauptsächlich von Türken bewohnt wird«, belehrte ihn Sarkis Effendi, »bleibt alles, wie es war. An dieser Halbinsel zwischen Marmarameer und Goldenem Horn rauschen die Jahrhunderte vorüber und lassen nur geringe Spuren zurück. Höchstens wird einmal irgendwo ein neues Regierungsgebäude errichtet, oder ein durch Feuersbrunst zerstörtes Häuserviertel wird ebenso wieder aufgebaut. Doch der bauliche Eindruck der Stadt ist wohl heute nicht anders wie vor dreihundert Jahren.«

Endlich hielt der Zug auf dem Bahnhof. Hasso gab schon aus dem Fenster das verabredete Zeichen, indem er ein geknotetes Taschentuch hin und her schwenkte. Bald sah er, wie eine abenteuerlich gekleidete Gestalt sich durch die Menge drängte; es war ein hochgewachsener Mann mit kriegerisch aussehendem mächtigen Schnurrbart. Die Beine staken in kurzen blauen Pumphosen, die unter den Knien geknöpft waren, und langen schwarzen Strümpfen. Um die Hüften schlang sich eine bunte seidene Schärpe, in der ein Revolver steckte. Das kurze rote Jäckchen, das er trug, war auf Brust, Rücken und den engen Ärmeln mit reicher Goldstickerei verziert. Den Kopf bedeckte eine schwarze Samtmütze, die oben durch einen roten Deckel mit Goldstickerei geschmückt war. Unter tiefen Bücklingen begrüßte der Mann Hasso, indem er in etwas holperigem Französisch fragte: » Êtes-vous le professeur allemand pour l'école de Bébek?«

Als Hasso die Frage bejahte und dem Manne freundlich die Hand gereicht, fragte er ihn, wer er sei. Da erfuhr er dann, daß er in dieser gewichtigen Persönlichkeit Philipp, den Türhüter und Gärtner der Schule, vor sich hatte, der beauftragt war, ihn abzuholen und sein Gepäck zu besorgen. Da noch lange Zeit war bis zum Abgang des Bosporusdampfers und die armenischen Freunde sich bereit erklärten, Hasso zum Dampfer zu begleiten, so gab Hasso seinen Gepäckschein dem Kawassen der Schule und schloß sich den Armeniern an. Alle, besonders auch die Kinder, waren hungrig geworden und so gingen sie zunächst in eine kleine, nahe dem Bahnhof gelegene Wirtschaft, in deren Schaufenstern lauter Schüsseln mit dicker Joghurtmilch standen. Sie ließen sich an einem einfachen kleinen Tischchen in dem schmalen Raume nieder und der Wirt brachte jedem eine Schüssel Joghurt mit Zucker und Weißbrot. Man meint im Essen dieser wunderbaren cremeartigen sauren Milch den Grund für die lange Lebensdauer der Bewohner der Balkanländer zu sehen; und auch unsere Reisenden spürten die belebende Wirkung dieser Speise. Nicht nur wurde der Hunger auf die einfachste und billigste Weise gestillt; es war ihnen, als ob sie die Hitze, die in der Stadt herrschte, nicht mehr spürten, und eine fröhliche unternehmungslustige Stimmung bemächtigte sich der kleinen Gesellschaft.

Die noch übrige Zeit beschlossen sie dazu zu benutzen, um über die Brücke nach dem griechischen Stadtteile Galata zu wandern. Das Straßenleben der Stadt mutete Hasso eigenartig an. Er war das Gewimmel und Gewühl des Berliner Straßenlebens gewöhnt, aber gegen das Treiben, das ihm hier entgegentrat, war der Verkehr in Berlin ein Muster von Ruhe und Ordnung. Elektrische Bahnen, Autos, Reiter, Gefährte verschiedenster Art, Menschen aller nur denkbaren Nationalitäten und Trachten fluteten hier unter einem gewaltigen Stimmenaufwand durcheinander. Der Gedanke, daß die Fußgänger sich auf dem Bürgersteige vorwärtsbewegen sollten, schien der Bevölkerung fremd zu sein und die Warnungsrufe der Lastträger, Fuhrwerke und Reiter: »Warda, warda«, »dikat it«, gewürzt mit kräftigen Flüchen, wollten kein Ende nehmen. Ein Lastträger mit einem Konzertflügel auf dem Rücken, und ein anderer, der eine Menge Stühle, Tische und Matratzen kunstvoll aufgetürmt und verschnürt auf seinem Lederhöcker trug, gingen ruhig ihres Wegs auf dem Straßendamm, als ob's keine Autos und dergleichen moderne Gefährte gäbe. Auf der einen Kilometer langen Brücke, an der die Anlegestellen der Bosporus- und Goldenen Horn-Dampfer sich befinden, gestaltete sich dieses Straßenleben zu einem imposanten malerischen Bilde. Türkische Frauen in ihren bunten seidenen Gewändern, nur wenige und meist die älteren noch in alter Weise verschleiert, mohammedanische und christliche Priester in schwarzen, grünen und bunten Talaren, mit weißen und grünen Turbanen oder hohen Mützen, bei den Armeniern mit kegelförmigem, den Griechen mit tellerförmigem Abschluß, Araber in weißem Burnus, dazwischen europäische Damen in eleganten Sommertoiletten, an den Brückenpfeilern die blinden und aussätzigen Bettler mit endlosem Wortschwall ihre Hände nach einer milden Gabe ausstreckend, von unten herauf das Gurgeln des gelben Wassers des Goldenen Horns, dazwischen das Heulen der Sirenen der Dampfer und darüber gleichsam als Abschluß, das andere Ufer krönend und in den tiefblauen Himmel hineinragend, der hohe Turm von Galata, das gab unvergeßliche Eindrücke. Zwei Reiter in Uniform brachen sich mit lauten Warda-Rufen Bahn durch die Menge; hinter ihnen folgte in schneller Fahrt ein elegantes Coupé mit zwei guten Trabern bespannt, dahinter wieder eine berittene militärische Ehrenwache. In dem Wagen saß ein Priester mit langem weißem Bart. »Seine Seligkeit, der armenische Patriarch von Konstantinopel«, sagte Sarkis Effendi, »nicht nur unsere geistliche, sondern auch unsere bürgerliche Obrigkeit. Er hat die schwere Aufgabe, die schwachen von den Blutbädern übriggebliebenen Reste des armenischen Volkes vor der Regierung zu vertreten und ihre Rechte wahrzunehmen.«

»Der arme Mann«, meinte Hasso, »ich möchte nicht in seiner Haut stecken.«

Als sie das andere Ufer des Goldenen Horns, die Geschäftsstadt Galata, betraten, fiel Hasso sofort der gewaltige Unterschied auf. Zwar bot das Straßenleben dasselbe Bild, aber hier erinnerte am baulichen Charakter der Häuser nichts mehr an den Orient. Ein riesiges Bankgebäude reihte sich an das andere.

»Welchen Wechsel hat dieser Platz durchgemacht!« sagte Sarkis Effendi. »Im Anfang des Jahrhunderts erhob sich hier das Gebäude des ›Crédit Lyonnais‹, eines der zentralen Bankinstitute Konstantinopels; als der deutsch-österreichische Einfluß vorwiegend wurde, verschwand der Crédit Lyonnais und das Gebäude des ›Wiener Bankvereins‹ trat an seine Stelle. Nach dem unglücklichen Weltkriege zog ein englisches Bankinstitut in das Gebäude und jetzt sehen Sie hier die Filiale der russischen Staatsbank. In diesem Wechsel spiegelt sich die Geschichte der Türkei!«

Als sie die Straße hinaufstiegen, bemerkte Sarkis, wie seit den sechs Jahren seiner Abwesenheit der Stadtteil ein ganz anderes Gepräge bekommen. Die vielen großen Läden waren verschwunden und an ihre Stelle lauter große Handelshäuser verschiedener Nationen getreten, unter denen die russischen überwogen.

Doch sie mußten umkehren. Als sie die Brücke wieder betreten hatten und nun links den Ausgang des Bosporus überschauten, stieß Hasso einen Ausruf des Erstaunens aus: »Sehen Sie dort«, rief er, indem er Sarkis beim Arm faßte. »Dort ist ja die große Brücke über den Bosporus, von der in den letzten Jahren so viel die Rede war. Welch märchenhaftes Bauwerk!«

Eine riesige Kettenbrücke spannte sich von der Serailspitze hinüber nach dem asiatischen Ufer, nach Haidar-Pascha, mit geschickter Benutzung eines Felsens unter der Meeresoberfläche. Sie war Eisenbahnbrücke, Wagen- und Fußgängerbrücke zugleich; zu schwindelnder Höhe erhoben sich die ungeheuren Brückenköpfe, durch ihre beherrschende Stellung und ihre massigen Dimensionen ein neues Wahrzeichen der Stadt, freilich in schreiendem Gegensatz zu dem Charakter des alten Stambul.

»Es ist, als ob diese Brücke es aller Welt künden wollte«, sagte Hasso, »daß die neue Zeit über die altersschwache Türkei zur Tagesordnung übergeht.«

An der Anlegestelle der Bosporusdampfer wartete Philipp mit einem Hamal (Gepäckträger) und dem Gepäck. Nach freundlichem Abschied von der armenischen Familie und herzlicher Einladung an Sarkis, ihn, solange die Familie noch in der Hauptstadt blieb, in Bebek einmal zu besuchen, stieg Hasso auf den Dampfer. Philipp bezahlte den Hamal und begab sich auf den zweiten Platz, wo er sich in Gemütsruhe eine Zigarette drehte, während Hasso auf dem geschützteren Hinterdeck des mit neuzeitlicher Bequemlichkeit ausgestatteten Dampfers sich einen Platz aussuchte. Eilfertig liefen Händler über das Deck; der eine mit einem großen Messinggefäß und kunstvoll darauf angebrachten Gläsern, rief unablässig: » szu tasè, tatly szu!« und bot sein »frisches, süßes Wasser« jedem Durstigen an; der andere schrie mit lauter Stimme: » szimit, szimit, en eji!« und ein Berg mit Sesamsamen bedeckter Bretzeln auf seinem Tragbrett lud alle zum Genusse ein, die nicht an den schmutzigen Händen des beturbanten Händlers Anstoß nahmen; kleine barfuße Knaben endlich boten Konstantinopeler Zeitungen, Levant Herald, Sabach, und andere an. Endlich das Abfahrtssignal, die Händler flüchteten schleunigst ans Land und der Dampfer setzte sich in Bewegung. Nach wenigen Minuten hatte er den vorderen, den Hafenteil des Goldenen Horns mit seinen zahllosen großen Handelsdampfern aller Nationen durchfahren und den blauen Bosporus gewonnen. Von hier aus bot sich ein wunderbarer Blick auf die Stadt. Ein zarter violetter Schleier gab der Millionenstadt etwas Märchenhaftes, Geheimnisvolles. Aus dem blauen Meere hervor tauchte die feenhafte Pracht der riesigen Moscheen; gleich links von der Serailspitze mit ihren Erinnerungen an Sultansüppigkeit und blutige Greuel die Sophienmoschee aus gelbem und rotem Gestein mit ihrer majestätischen Kuppel sich gen Himmel wölbend; daneben die Hohe Pforte und die Regierungsgebäude mit ihren verschwiegenen Räumen, in denen so unendlich viel blutige Pläne ausgebrütet. Rechts das Goldene Horn mit seinen Schiffen, auf dessen anderem Ufer Galata und Pera; an beiden Ufern des Goldenen Horns sieben Kilometer weit alle die vielen Stadtteile, jeder mit seiner besonderen Geschichte.

Dann flogen die Zauber des Bosporus vorüber. Auf beiden Ufern Marmorschlösser des Sultans mit ihren Parks, vor allem das Riesenschloß Dolma-Baghtsche, das wie ein Traum aus 1001 Nacht sich aus der blauen Flut erhebt, wo einst der blutige Tyrann Abdul Hamid II. den deutschen Kaiser Wilhelm II. und seine Gemahlin empfangen. Zwischen den Schlössern die eleganten Holz- oder Steinvillen der Reichen, oft mit hängenden Gärten. Aus altem Gemäuer hingen die Feigenbäume malerisch herab, die roten Trauben des Judasbaums zierten die Gärten mit verschwenderischer Pracht und die duftenden violetten Trauben der Glyzinien bekleideten die Vorderseite der Landhäuser.

Nach halbstündiger Fahrt lief das Schiff in die breite, malerische Bucht von Bebek ein. Das übliche bunte Gewimmel und Geschrei am Ufer, das Knarren des Haltetaus, das Ausschlagen des Landungsbrettes – und Hasso stand auf dem Boden des Ortes, der nun seine einstweilige Heimat werden sollte. Philipp mit seinem schweren Schritt stapfte vorne und ein Hamal mit dem Gepäck auf dem Rücken machte den Schluß. Der Weg ging zunächst am Ufer entlang an mehreren vom Alter geschwärzten hölzernen Palais türkischer Paschas vorüber, durch die Geschäftsgegend des Ortes mit ihren Lebensmittelbasaren, Schuhgeschäften und Friseurläden und dann eine steile Straße mit holperigem Pflaster hinauf. An einer Pforte, die durch eine Steinmauer führte, machten sie Halt, und traten durch diese Pforte auf einen rechts von einer haushohen Mauer und links von einem tiefer gelegenen Terrassengarten begrenzten Hof. Vom Hof aus war der Eingang in das vierte Stockwerk des an den Berg angebauten Hauses. » Voulez-vous voir monsieur le directeur?« fragte Philipp dienstfertig. Auf die bejahende Antwort führte er Hasso ein Stockwerk höher durch eine geräumige Halle in ein türkisch ausgestattetes Gemach mit herrlicher Aussicht auf die Talschlucht von Bebek, den Bosporus und das asiatische Ufer.

Bald trat Hassos nunmehriger Vorgesetzter, Professor Reschad Bey, ein. Mit den üblichen devoten türkischen Gesten, aber in elegantem Französisch, begrüßte der Direktor den neuen Lehrer. Er war ein mittelgroßer, breitschulteriger Fünfziger mit langem grauem Bart und einer goldenen Brille; der Kopf war mit dem türkischen Fez bedeckt. Nach den einleitenden Höflichkeitswendungen, die in der Türkei eine beträchtliche Menge Zeit beanspruchen, sagte der Bey: »Deutschland ist stets der uneigennützigste Freund der Türkei gewesen und hat uns bei der Aufrichtung unseres Schulwesens in unübertrefflicher Weise beigestanden. Unsere Vorfahren hatten gehofft, daß die Türkei einst dadurch wieder eine geachtete Großmacht werden würde, wenn ihr Kulturzustand sich höbe und sie in anderer Weise als bisher an den Werken der Zivilisation sich beteiligen könnte. Leider ist nichts davon erfüllt worden.« Er drehte nervös an den Perlen des Rosenkranzes, den jeder Türke bei sich trägt.

»Und warum sind diese idealen Pläne gescheitert?« fragte Hasso.

»Die Geschichte dieses Hauses könnte Ihnen davon ein Lied singen«, erwiderte der Gefragte. »Wieviel unglückliche Opfer einer verfehlten Nationalitäts- und Rassenpolitik sind durch das einstige ›Deutsche Waisenhaus‹ gegangen. Man wollte aus der Türkei einen Nationalitätsstaat machen, indem man die nichttürkischen osmanischen Untertanen vernichtete oder verjagte. Dadurch hat man – ich muß es leider als Türke offen bekennen – oft gerade die intelligentesten und kulturell am höchsten stehenden Elemente unseres Landes beseitigt und der Reihe nach alle Kulturnationen der Erde gegen uns aufgebracht. Wohl die meisten der Zöglinge des ehemaligen Deutschen Waisenhauses sind bei den späteren Metzeleien getötet worden.«

»Welch eine Freude ist es mir, zu hören, Effendi«, sagte Hasso, »daß Sie gerecht denken gegenüber den unglücklichen armenischen Untertanen der Türkei. Dann werden Sie auch kein Feind des Christentums sein können.«

Der Bey schaute Hasso lange und forschend an, dann sagte er: »Vom Christentum im herkömmlichen Sinne habe ich, offen gesagt, keine hohe Meinung; aber ich und zahllose meiner Glaubensgenossen lieben den, der zu den Mühseligen und Beladenen gesagt hat: ›Kommt her zu mir, ich will euch erquicken‹.«

»Nur wenn sein Geist der herrschende würde, könnte der Menschheit geholfen werden«, bestätigte Hasso.

»Deshalb warten die frommen Mohammedaner auf seine Wiederkunft und die Zeichen der Zeit deuten darauf hin, daß sie nicht mehr ferne sein kann«, sagte Reschad Bey, »aber die Christen scheinen, soweit ich Gelegenheit gehabt habe, mit ihnen darüber zu sprechen, nichts davon wissen zu wollen.«

Hasso schwieg; vor seinem Geiste tauchte das Bild des alten Juden Aaron aus Berlin auf. »Was hat nur Gott vor?« dachte er bei sich. »Gott scheint die Menschen ja ganz anders gruppieren zu wollen, als wir es bisher gewohnt waren. Wer kann sich da noch zurechtfinden?«

Laut sagte er: »Ja, daß der Koran die Wiederkunft Jesu in Aussicht stellt, ist mir bekannt; aber soviel ich weiß, doch nur, um Mohammeds Werk zu bestätigen und so die Wiederkunft Mohammeds vorzubereiten.«

»Ja, so lehren unsere Schriftgelehrten«, erwiderte der Direktor, »aber es kann auch anders sein. Wir sind Mohammedaner aus Überzeugung, denn Mohammed hat eine große Aufgabe von Gott empfangen. Doch Mohammeds Reich hat seine Zeit, und Christus ist größer denn er, wie die Liebe größer ist denn die Gewalt.«

»Wird in diesem Geist auch in dieser Schule unterrichtet?« fragte Hasso.

»Das ist mein ernstes, dringendes Anliegen. Meine Schüler sind Mohammedaner, und ich wünsche, daß sie es bleiben. Aber es soll ihnen schon frühzeitig eingeprägt werden, daß der Koran auf eine Volks- und Massenreligion zugeschnitten ist und daß von jeher die gereiften Gottsucher in unseren Reihen sich dem genähert haben, was Jesus von Nazareth gelehrt und gewollt hat.«

Hasso erhob sich und sagte: »Mit Freudigkeit bin ich hierher gekommen, Herr Direktor, aber die Minuten, die ich jetzt mit Ihnen gesprochen, sind mir ein Erlebnis geworden, das mich befähigt, mit Begeisterung an meine Aufgabe an den Jünglingen heranzutreten. Jetzt darf ich wohl mein Zimmer aufsuchen und mich etwas umsehen.«

Reschad Bey gab Hasso die Hand mit den besten Wünschen für ein einträchtiges Zusammenarbeiten und führte ihn selbst hinunter. Vom Hofe stiegen sie in den Terrassengarten hinab, der mit herrlich duftenden Blumen und Granatbäumen bewachsen war. Von hier führte eine Haustür in das dritte Stockwerk, und der Direktor wies Hasso seine Stube, einen wohnlich mit türkischen Teppichen ausgestatteten Raum, dessen Fenster auf den Garten hinausschauten. Das Gepäck war bereits in das Zimmer gebracht. Nachdem der Direktor sich verabschiedet, warf Hasso sich zunächst auf den Diwan und ruhte sich ein wenig aus von all den Eindrücken, die er an diesem Tage verarbeitet hatte.

Nach einer Stunde klopfte es und ein Diener brachte ihm Kaffee und Gebäck. Als er sich gestärkt, trieb es ihn, sich ein wenig in der Umgegend umzusehen. Er ging aus dem Tore und verfolgte die steile Straße weiter aufwärts. Hier oben hörten die eleganten Häuser der Russen und Engländer auf; an ihre Stelle traten die baufälligen Bretterhäuser der Armen, deren Kinder auf der löcherigen Straße spielten und sich balgten. Nach etwa zehn Minuten kam Hasso aus der bewohnten Ortschaft heraus. Die Straße wand sich zwischen steilen, steinigen Erdbeerfeldern in der Talschlucht hinauf. Da sah Hasso an der Seite des Weges einen kleinen Platanenhain, der zum Verweilen einlud. Er setzte sich auf eine Rasenbank und gab sich dem Zauber der Stille hin, der ihn hier umfing. Die Platanen gaben noch keinen wesentlichen Schatten, aber ein kühler Talwind milderte die Sonnenglut zu wohltuender Wärme. Im Grase luden Krokus, zierliche Sonnenröschen und blaue Zilla die Bienen zu Gaste, ein Pfauenauge wiegte sich mit spürbarer Wonne in den Sonnenstrahlen; die Stille wurde nur unterbrochen durch das Plätschern einer heiligen Quelle und durch das Aufeinanderschlagen zweier kämpfender großer Landschildkröten. Hasso wurde feierlich zumute; er überdachte die gnädigen Führungen seines Gottes, kniete nieder und dankte Gott inbrünstig für die Reise, für alles, was er hier von dem Direktor gehört, auch für die köstliche Stille an diesem lieblichen Ort.

Er hatte sich erhoben und wollte weitergehen, da hörte er plötzlich ganz in seiner Nähe die wehklagenden Laute: »Aman, Aman, Aman!« (Wehe, wehe, wehe!) Erschrocken hielt er inne. Da sah er, wie hinter einem Grabmal, das er bisher noch gar nicht bemerkt, sich eine Gestalt erhob von schreckenerregendem Aussehen. Das abgezehrte Gesicht war umwuchert von einem wilden, weißen Barte, die großen, entsetzt darein blickenden Augen lagen tief in den Höhlen, Lumpen umhüllten die Glieder, die linke Hand stützte sich auf einen Stab.

»Wehe, wehe«, rief er, »der großen Babylon, der Mutter aller Hurerei und Greuel auf Erden! Wo ist deine Herrlichkeit? Zunichte wird sie werden in einer Stunde. Die du das Blut der Heiligen und Propheten getrunken, dir wird der Taumelkelch eingeschenkt, von dem du nicht erwachen wirst. Wehe denen, die teilhaftig werden deiner Plagen, da sie teilgehabt an deiner Herrlichkeit. Ihr Reichtum ist zum Kehricht, ihre Prunkgewänder sind zu Mottenfraß geworden! Wehe, wehe, wehe!«

Da Hasso sich schon seit Jahren im orientalischen Seminar mit der türkischen Sprache beschäftigt, verstand er das meiste von diesen Worten. Der Gegensatz zwischen dem Zauber des lieblichen Naturbildes und dem Auftreten dieses Unglücklichen hatte ihn wie gelähmt, so daß er nicht imstande war, etwas zu sagen. Er wandte sich schweigend zur Rückkehr, doch hörte er noch die Stimme, die ihm nachrief: »Fremdling, fliehe aus Babel, damit du nicht ihrer Plagen teilhaftig wirst.«

Hasso wußte nicht, wie er die Erscheinung werten sollte und erzählte Reschad Bey sein Erlebnis.

»Ach, der unglückliche Artin Effendi! Ja, das ist eine lange traurige Geschichte. Er war der geliebte Sohn reicher Eltern, besuchte zuerst die Kleinkinderschule und später die Missionsschule des ›Deutschen Waisenhauses‹. Er war hochbegabt, sprach schon als fünfjähriger Knabe in vier verschiedenen Sprachen und jeder mochte ihn wohl leiden. Da die Familie selbst bei Abdul Hamid II. wohl angesehen war, war sie in den Massakres der neunziger Jahre verschont worden, ja der Vater bekam bedeutende Lieferungen für die Armee. Artin war ein begeisterter osmanischer Patriot, und als bei der Staatsumwälzung 1909 auch den christlichen Untertanen die Heeresdienstpflicht auferlegt wurde, wurde er Offizier und machte mit Auszeichnung den Balkankrieg mit. Da brach der Weltkrieg herein und mit ihm im Jahre 1915 die furchtbare Verfolgung der Armenier. Ein wilder Haufe kurdischer Knüttelmänner drang in sein elterliches Haus ein. Ehe er herbeieilen konnte, waren seine Eltern erschlagen; als er dazu kam, war gerade eine seiner Schwestern in den Händen der Unholde. Artin zog seinen Armeerevolver und schoß einen der Kerle nieder, die anderen flohen. Die arme Schwester ist nach einigen Tagen den Mißhandlungen erlegen; die andere wurde von einem Türken in seinen Harem verschleppt, wo sie sich mit einer Haarnadel die Pulsader öffnete, um der Entehrung zu entgehen. Artin wurde am nächsten Tage verhaftet. Das einzige, was er sich noch mitnehmen konnte, war sein Neues Testament. Er verschwand für viele Monate in einem feuchten, unterirdischen Kerker. Als endlich nach Jahresfrist sein Prozeß zur Verhandlung kam, wurde er zum Tode verurteilt wegen ›Mordes‹. Doch als er aus dem Gefängnis herausgeführt wurde, waren seine Haare weiß geworden und sein Verstand war umnachtet. Vor Wahnsinnigen aber haben die Türken eine abergläubische Furcht, so daß man nicht wagte, das Todesurteil an ihm zu vollstrecken. Seit so manchem Jahrzehnt haust er nun schon hinter den Gräbern. Scheu weichen die Menschen ihm aus, nur wenige barmherzige Seelen spenden ihm etwas Nahrung. Seine Seelenspeise und der einzige Gegenstand seiner Reden sind die Droh- und Gerichtsworte der Bibel, die er damals im Gefängnis in sich aufgenommen. Das Volk hält ihn für einen Heiligen und hört mit Zittern und Grauen seine Worte. Sein Geschick verdient unser aller Teilnahme.«

Früh ging Hasso am Abend zur Ruhe. Durch das offene Fenster drang melancholischer Gesang vom Ufer des Bosporus. Der betäubende Duft der Datura aus dem Garten durchzog das Gemach, laut hallte das Aufschlagen des bleigefüllten Stabes des Nachtwächters auf den Steinen der Straße. Nachdem Hasso die Seinen in der Heimat und seine eigene Zukunft dem Herrn befohlen, kämpften die verschiedenen Eindrücke des Tages noch lange miteinander in seiner Seele. Da spielte jemand im Nachbarhause bei offenem Fenster Klavier; das ihm aus seiner Kindheit wohlbekannte Stück hallte in der engen Talschlucht laut durch die Nacht. Unter diesen Klängen beruhigten sich die Nerven und bald war er fest eingeschlafen.

Am nächsten Morgen wurde der neue Lehrer in seinen Berufskreis eingeführt; er wurde mit den Kollegen bekannt gemacht und die Jünglinge, die er zu unterrichten hatte, wurden ihm vorgestellt. Mit Hassos schwachen türkischen Kenntnissen war es zuerst nicht ganz einfach, sich mit den Schülern zu verständigen. Doch bei seinem großen Lehrgeschick, seiner aufrichtigen Liebe zu der Jugend und beharrlichen Konsequenz, unterstützt von gutem Anschauungsmaterial, gelang es ihm bald, das Vertrauen der Schüler zu gewinnen und sie in erfreulicher Weise zu fördern, so daß er Freude an seiner Arbeit gewann.


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