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In der Tiergartenstraße zu Berlin herrschte ein reges Leben. Der herrliche Vorfrühlingstag hatte die Menschen ins Freie gelockt. Die Autos rasten aneinander vorüber, und da sie seit Jahren nur elektrisch betrieben wurden, störte kein Benzinduft die Frische und den Frühlingszauber, der in der Luft lag. Die Abendsonne leuchtete noch gerade durch die Querstraßen und vergoldete die Wipfel der Bäume des Tiergartens. Im Gegensatz zu den eleganten Fuhrwerken und den modisch geputzten Spaziergängern fiel eine Gruppe einfach gekleideter Menschen auf, die offenbar zusammengehörten. Die Jüngeren unter ihnen trugen Blumentöpfe in den Armen und einige begleiteten auf dem Fahrdamm einen von zwei jungen Leuten gezogenen Handwagen, auf dem Palmen, Azalien, Kamelien und andere wertvolle Gewächse standen.
An einem Querwege bogen sie in den Tiergarten ein und machten vor dem Marmordenkmal der Königin Luise Halt. Da trat ein hochgewachsener älterer Herr mit vornehmen Gesichtszügen aus der Gruppe heraus und sagte in herzlichem Tone: »Nun frisch ans Werk, ihr lieben jungen Freunde, folgt nur den Anweisungen unseres Fritz Werner, der wird seine Sache schon machen!« Damit klopfte er dem jungen Gärtner freundlich auf die Schulter.
»Ich werde tun, was ich kann, Herr Graf«, erwiderte dieser, und bald war vor dem Denkmal ein herrliches Blumenbeet entstanden, dessen Hyazinthen die Luft mit fast betäubendem Duft erfüllten.
»Es ist mir eine herzliche Freude«, sagte der Graf nach Beendigung des Werkes, »daß es gelungen ist, die alte schöne Sitte wieder zu beleben, zum Geburtstage der verewigten Königin Luise ihr Denkmal zu schmücken, und ich danke euch allen, daß ihr dazu geholfen habt. Die gegenwärtige Generation scheint der großen Vergangenheit unseres Volkes nicht mehr zu gedenken, ja sich ihrer Helden zu schämen. Da sollten doch alle guten Patrioten zusammenstehen, um das Andenken an die Vergangenheit hochzuhalten und daran zu arbeiten, daß der alte Preußengeist wieder lebendig wird. Heute ist der Todestag des großen Kaisers Wilhelm I. Noch leben Enkelsöhne Kaiser Wilhelms II. Möge bald die Zeit kommen, wo einer von ihnen den Thron seiner Väter besteigen kann und möget ihr jungen Freunde berufen sein, dazu mitzuhelfen.« Damit drückte er jedem Einzelnen warm die Hand und schritt mit einem jungen Mann und einem jungen Mädchen, deren Gestalt und Gesichtszügen man ansah, daß es seine Kinder waren, durch den Tiergarten in der Richtung nach dem Königsplatze zu.
»Es war brav von euch Kinder, daß ihr euch soviel Mühe gegeben und so viele junge Leute dafür gewonnen habt«, sagte der Graf im Weitergehen.
»Das Hauptverdienst hat Fritz Werner und seine Schwester, sie sind treffliche edle junge Menschenkinder voll Opferfreudigkeit«, erwiderte der Sohn, »alle die schönen edlen Blumen, die sie auf dem Handwagen brachten, haben sie aus ihrer Gärtnerei umsonst gespendet.« Arno war ein junger Mann von etwa 25 Jahren. Die vornehme Haltung seiner hohen Gestalt und der energische Zug des bartlosen Gesichtes ließen sofort ein Glied des alten preußischen Adels in ihm vermuten.
»Ja, hätten wir nur einige Tausend solche junge Männer hier in Berlin beisammen, wir könnten die ganze Gesellschaft, die sich jetzt auf den Regierungssesseln herumsielt, zum Teufel jagen!«
»Verzeih', Vater, aber ich glaube nicht, daß in dieser gewaltsamen Weise etwas Neues kommen kann, das Bestand hat. Erst muß ein neuer Geist in der Menschheit herrschend werden, und das kann erst geschehen, wenn der Widerstand gegen die Wahrheit und das Gute – im Grunde gegen Gott – sich erschöpft hat.«
»Das ist auch meine Meinung«, mischte sich jetzt die Tochter, ein hochgewachsenes blondes Mädchen mit blauen Augen, ins Gespräch, »hat nicht auch Pastor Waldholz am letzten Sonntag, als du und die anderen Herren als Älteste der Philippus-Apostelgemeinde eingeführt wurden, sich ganz ähnlich ausgesprochen?«
»Gewiß, so reden sie immer, die Herren Theologen; aber sie sollten sich auf solche Zukunftsblicke nicht einlassen und lieber an das Sprichwort denken: ›Schuster bleib' bei deinem Leisten.‹ Die Pastoren haben genug mit dem Seelenheil ihrer Gemeindeglieder zu tun, und sollten die Zukunft dem lieben Gott überlassen; ich hoffe, lieber Arno, daß ihr im Domkandidatenstift in dieser Weise für euer künftiges Amt erzogen werdet.«
»Da verstehe ich dich nicht recht, Vater«, erwiderte Arno. »Du wünschst, daß wir uns in patriotischem Sinne betätigen und verlangst auf der anderen Seite, daß wir Theologen uns auf die innerlichste Seite unseres Amtes beschränken, ohne uns über die Zukunft der Menschheit Gedanken zu machen. Du willst, daß wir die Zukunft Gott überlassen und wärest doch froh, wenn wir in einer monarchistischen Revolution die Zukunft unseres Volkes in deinem Sinne gestalten hülfen. Das sind Widersprüche, über die ich nicht hinwegkomme.«
Sie waren inzwischen auf dem Königsplatze angekommen und der Anblick einer Menschenmenge, die vor einer Anschlagsäule stand und aufmerksam ein riesiges feuerrotes Plakat studierte, lenkte ihre Schritte dorthin, so daß der Vater einer Antwort überhoben wurde. Es waren meist Leute aus dem Arbeiterstande, und das Gelesene schien sie mächtig zu erregen.
Auf dem Plakat standen nur die kurzen Worte:
»Proletarier! Genossen!«
Große Volksversammlung im neuen Volksheim am Bülowplatz. Heute abend 8 Uhr. Genosse Silberstein aus Moskau über: »Die neue Revolution in Rußland und die Zukunft der Menschheit.« Erscheint in Massen!! Der Einberufer. |
Der Graf schüttelte den Kopf und sagte im Weitergehen: »Regt sich die rote Bande wieder? Diesen Ton haben wir lange nicht mehr gehört. Ich wundere mich, daß sie es wagen. Das haben unsere regierenden Herren Finanzleute und Juden wenigstens fertiggebracht, daß sie mit dem roten Schwindel, Achtstundentag, Betriebsräten und was da alles war, aufgeräumt haben.«
»Ob wir aber nicht aus dem Regen in die Traufe gekommen sind? Mir scheint, daß die Aufhebung vieler sozialer Gesetze ein schwerer Fehler war, der sich noch einmal rächen wird, vielleicht schneller als wir denken. Gewiß haben wir nach der furchtbaren Periode der Bürgerkriege äußerlich Ruhe, seitdem der Kapitalismus der ganzen Welt sich geeinigt: aber wer hören will, der hört schon ein unterirdisches Gären und Brausen und die dunklen Nachrichten aus Rußland lassen auf nichts Gutes schließen.«
»Ja, es muß irgend etwas geschehen sein, sonst würde man diese Versammlung gar nicht gestatten.«
»Ob dieser Silberstein wohl ein Sohn der ostjüdischen Familie sein mag, unserer Nachbarn, als wir noch im Hinterhaus der Schendelstraße wohnten? Ich besinne mich noch, wie die braven alten Leutchen oft so in Sorge waren um ihren Sohn, der in Moskau zurückgeblieben war«, ließ die Tochter sich vernehmen.
»Das ist sehr gut möglich, Hertha«, sagte Arno, »denn die Alten waren ja auf Verlangen dieses Sohnes nach Deutschland gezogen, weil sie wegen der bolschewistischen Agitation des Sohnes nicht mehr sicher in Moskau waren.«
»Nur froh bin ich«, warf der Vater ein, »daß Gottes Güte mir jetzt diesen kleinen Beamtenposten geschenkt hat, so daß wir uns eine bessere Wohnung in der Auguststraße mieten konnten und vor der Berührung mit diesen Ostjuden bewahrt sind.«
»Aber überzeugen möchte ich mich doch, ob es der Joseph Silberstein ist, der heute den Vortrag hält und bin gespannt, was er zu sagen hat«, erwiderte Arno und seine Schwester fiel ein: »Und ich komme mit, wenn du mich mitnimmst.«
»Junge Mädchen gehören nicht in solche Volksversammlungen«, rief der Graf; »das ist ganz unweiblich! Was würde mein seliger Vater sagen, wenn er seine Enkelin in solcher Versammlung sähe?«
»Ja, Vater, das waren auch andere Zeiten vor der Revolution 1918, als Familien unseres Standes noch in Berlin WW wohnten! Jetzt gehören wir ja auch zu den ›Proletariern‹, wenn auch nur der sozialen Stellung nach. Damals konnten sie in vornehmer Zurückhaltung leben, heute bewegt auch uns alles, was in der Volksmasse gärt. Glaube mir Vater, ich liefere euch Hertha lebendig wieder ab, laß sie nur mit mir gehen.«
»Nun, wenn ihr denn durchaus wollt; ihr seid ja erwachsen und müßt schließlich selber wissen, was ihr zu tun und zu lassen habt«, sagte der Graf ein wenig verstimmt.
Als sie in der Karl- und Friedrichstraße an den ungeheuren Wolkenkratzern, den Geschäftshäusern der Banken, der Aktiengesellschaften und Syndikate vorüberkamen, brach der Vater in die bitteren Worte aus: »Die Zwingburgen der Knechtschaft des deutschen Volkes! Zur Zeit meiner Eltern waren es die Ententekommissionen, die unser Volk wie mit eisernen Fesseln banden. Fühlen nun diese mehr deutsch wie jene? Mögen sie zum Teil dem Namen nach Deutsche sein, ihr Gott ist ihr Mammon und das deutsche Volk ist ihnen gleichgültig; es muß sich mit den Brocken begnügen, die von dieser Herren Tische fallen!«
»Und Gottlosigkeit und Sittenlosigkeit nehmen immer mehr überhand. ›Erlaubt ist, was gefällt‹, dieses Wort aus Tasso scheint der oberste Grundsatz der ›oberen Zehntausend‹ zu sein«, fuhr Arno fort.
Ein Surren in der Luft unterbrach das Gespräch und aufblickend sahen sie, wie ein Flugzeug auf einem der Wolkenkratzer landete.
»Wie ungeheure Fortschritte hat doch seit einem Menschenalter die Industrie gemacht!« sagte Hertha, »wenn doch alle diese Errungenschaften in den Dienst des Reiches Gottes treten könnten!«
»Das wird wohl immer ein frommer Wunsch bleiben«, meinte der Graf, »eher wird die ganze Geschichte einmal ein Ende mit Schrecken nehmen.«
»Siehst du, Vater, nun wirst du selbst zum Propheten«, sagte lächelnd Arno. »Doch Scherz beiseite, erlaube mir, daß ich erst schnell einmal nach dem Domstift gehe, um mich für das heutige Abendessen abzumelden, ich möchte, wenn es euch recht ist, heute mit euch essen.«
»Aber selbstverständlich, du weißt, alter Junge, was es uns für eine Freude ist, wenn du einmal die Füße unter Vater und Mutters Tisch stecken kannst.«
Vater und Tochter bogen in die Auguststraße ein und nach einigen Minuten standen sie vor einem vom Alter geschwärzten Hause, von dem der Putz an vielen Stellen abgeplatzt war. Auch innen machte das Haus den Eindruck großer Verwahrlosung. Das Treppengeländer war nicht überall mehr vorhanden und die Treppe so baufällig, daß sie mit Vorsicht benutzt werden mußte. Doch die beiden schienen das nicht mehr zu bemerken. Die »Proletarier« des neuen Reiches waren es nicht anders gewohnt.
Im vierten Stock waren sie am Ziel. An der Tür war ein blankes Messingschild befestigt, auf dem stand: Graf von Wildenstein. Als der Graf mit dem Drücker die Tür geöffnet, kam ihnen aus der neben dem Eingang liegenden Küche eine ältere Dame entgegen.
»Na, ihr kommt gerade zurecht, die Bratkartoffeln werden gleich gut sein«, sagte sie. »Guten Abend, Mutti«, rief Hertha und fiel ihrer Mutter um den Hals. »Rate einmal, wen wir dir mitbringen?« fragte der Vater.
»Etwa Arno?« »Ja, du hast recht geraten, er wird gleich hier sein.« Und nun ging es ans Erzählen, während die Mutter die Kartoffeln umwandte. Die Gräfin war eine mittelgroße edle Erscheinung. Das graue Haar war einfach gescheitelt. Aus dem sympathischen Gesicht, auf dem schwere Geschicke ihre Spuren hinterlassen hatten, leuchteten ein paar klare Augen. Ausdruck des Gesichts und Haltung des Körpers zeigten, daß sie gewohnt war, in hohem Grade sich selbst und ihre Gefühle zu beherrschen. Trotzdem ging ein Hauch von Wärme und Herzlichkeit von ihr aus.
Als sie die Kartoffeln an die Seite gestellt, sagte sie: »So, Hertha, nun kannst du decken; ich will noch etwas Wurst aus der Bodenkammer holen, denn wir müssen doch Arno festlich empfangen.«
Hurtig eilte sie zum Boden hinauf, wo jede Familie eine kleine Kammer hatte. Durch die schräge Dachluke leuchteten die ersten Sterne. Wenn sie allein war unter dem gestirnten Himmel, dann wurde ihr immer eigen zumut; dann mußte sie sich ihren Gedanken und Erinnerungen überlassen. Sie lehnte mit der Stirn an der kleinen Scheibe. Sie sah sich im Geist als Kind in ihrem Ponnywagen auf dem väterlichen Gut; sie sah die Brennerei mit der freundlichen Brennerfrau, die für sie einen Myrtenstock aufzog. »Du wirst ihn später brauchen können« pflegte sie mit schelmischem Blick zu sagen. Dann sah sie ihr liebes, immer so fröhliches Muttchen im bitteren Weh in der kleinen Schloßkapelle auf den Knien liegen; zufällig beim Spiel hatte sie die Tür geöffnet und fand ihre Mutti dort. Und als sie sie umhalste und küßte: »Mutti, was ist dir?«, da hörte sie die Schreckenskunde: ihr Vater, für den sie immer abends gebetet, war in Frankreich von der mörderischen Kugel getroffen! Nach ihrer Konfirmation kam dann der große Zusammenbruch in Deutschland. Ihr Vater war einer von den modernen Landwirten gewesen, der durch industrielle Unternehmungen den Ertrag der Landwirtschaft zu steigern versuchte. Von dem allgemeinen Niederbruch der Industrie wurden auch die industriellen Werke auf dem heimischen Rittergut betroffen und zogen Gut und Vermögen nach sich. Nur die notwendigsten Möbel und Sachen konnte Frau v. Walkow mitnehmen, als sie mit ihren drei Töchtern nach Berlin zog. Durch Klavierstunden und Einrichtung einer Pension hielt sie sich und die Ihrigen mühsam über Wasser, aber immer durften sie es wieder erfahren: »Wenn die Not am größten, ist Gottes Hilfe am nächsten.« Freilich war die Ernährung oft kärglich und diesem Umstande war es wohl zuzuschreiben, daß ihre beiden Schwestern nacheinander der Lungentuberkulose erlagen. Dann kam der Höhepunkt ihres Lebens, als sie ihren Ernst, ihren jetzigen Gatten kennen lernte. Welch selige Zeit war es, als der junge Assessor um ihre Hand anhielt! Wie köstlich war Sonntags morgens der gemeinsame Weg zur lieben Matthäikirche! Als er diätarisch bei der Regierung beschäftigt wurde, heirateten sie. Doch wie bald senkten sich die Schatten der Trübsal über ihr gemeinsames Leben. Wegen seiner monarchistischen Bestrebungen und unvorsichtiger Äußerungen über die gegenwärtige Regierung wurde dem Grafen gekündigt und bedeutet, daß er auf keine Anstellung im Staatsdienst zu rechnen habe. Durch Agenturen und allerhand Kommissionen versuchte er seine Familie zu ernähren; da er aber gar keine kaufmännische Ader hatte, wollte es nicht gehen und die Gattin mußte mithelfen. Sie sah sich noch im Geiste, wie sie bis spät in die Nacht die feinen Handarbeiten für ein Geschäft anfertigte, und wie groß war die Freude, wenn sie einmal 200 oder gar 300 Mark für eine solche Arbeit verdiente. Oft war Schmalhans Küchenmeister gewesen und sie hatte oft schwer an der Verbitterung ihres Gatten zu tragen. Endlich fand er durch Vermittelung von guten Bekannten eine bescheidene diätarische Beschäftigung beim Magistrat. Wie viel Schweres sie aber auch durchgemacht, noch viel mehr Grund hatte sie Gott zu loben und ihm zu danken. Hatte sie doch einen guten Mann und liebe wohlerzogene Kinder, die ihr stets nur Freude bereitet, vor allem aber waren sie doch alle durch den Glauben an ihren Herrn und Heiland verbunden, wenn auch Arno mit seinen oft etwas liberalen theologischen Anschauungen ihnen ein wenig Sorge bereitete. Doch es war ihr gewiß, daß Gott es den Aufrichtigen gelingen läßt.
In wenigen Minuten war ihr ganzes Leben so an ihr vorübergezogen. Da beugte sie die Knie zu innigem Dankgebet und Fürbitte für die Ihrigen.
Dann stand sie schnell auf, nahm eine Wurst vom Haken ab und eilte hinab. Ihre Mienen strafften sich, und als sie mit sonniger Heiterkeit in die Stube trat und ihren Arno begrüßte, sah man ihr nichts mehr an von der Gemütsbewegung, die sie soeben durchgemacht.
Sie fand die Ihrigen in lebhaftem, erregten Gespräch.
»Denke dir, liebe Edith«, sagte der Gatte, »nun kommt der Hasso wieder auf seine alte Kateridee mit dem Orient zurück. Doch er soll selber reden.«
Hasso, der jüngste Sohn, der noch bei den Eltern wohnte, saß am Fenster, ein Zeitungsblatt in der Hand. Er war ein hübscher junger Mann mit einem weichen, etwas träumerischen Gesichtsausdruck, den auch der flotte Schnurrbart nicht verdecken konnte. Er sprang auf, legte seinen Arm um die Mutter und sagte: »Liebes Muttchen, du weißt, wie ich auf dem Gymnasium durch den Homer für den Orient begeistert wurde und wie es mein sehnlicher Wunsch war, einmal im Orient das klassische Altertum zu studieren. Da eure Mittel es euch nicht erlaubten, noch einen zweiten Sohn studieren zu lassen, ging ich von der Prima auf das Lehrerseminar. Trotz meiner Liebe zu meinem Homer, die mir geblieben ist, ist jener Wunsch allmählich immer mehr in den Hintergrund getreten. Inzwischen aber hat die steigende Bedeutung Konstantinopels für die Welt die alte Sehnsucht in mir wieder wach werden lassen und nun hört einmal was hier steht. Er entfaltete das Zeitungsblatt und las: ›Für die höhere türkische Knabenschule in Konstantinopel-Bebek wird ein unverheirateter Lehrer für deutschen Unterricht gesucht, Gehalt nach Übereinkunft. Meldungen bei Saïd Achmed Bey in der türkischen Botschaft in Berlin erbeten.‹ Gerade habe ich mein Lehrerexamen glücklich bestanden, da kommt mir diese Anzeige zu Gesicht; sollte das nicht ein Wink von oben sein? Ich habe Freudigkeit, mich zu melden. Bitte erlaubt es mir, liebe Eltern!«
Es zuckte im Gesicht der Gräfin, doch nur einen Augenblick. Dann sagte sie: »Das will gründlich überlegt sein, lieber Hasso, und ich bitte dich dringend, erst im Gebet mit Gott zurate zu gehen, die Sache nicht zu überstürzen. Grundsätzlich können wir«, fügte sie, zu ihrem Gatten gewandt, hinzu, »wohl nichts dagegen einwenden, denn wir haben oft ausgesprochen, daß wir in der Berufswahl unseren Kindern freie Hand lassen wollen.«
»Du bist doch unser bestes, liebstes Muttchen«, rief Hasso und gab der Mutter einen Kuß. »Ja ich will noch ernst mit Gott zurate gehen; ihr verzeiht daher, wenn ich euch nicht zu der Versammlung begleite.«
Nachdem Hertha das Abendessen aufgetragen, sprach die Familie tapfer dem einfachen Mahle zu. Von Konstantinopel wurde nicht mehr geredet. Als sie das Dankgebet gesprochen und der Graf eine Andacht gelesen, brachen Arno und Hertha zu der Versammlung auf.