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III. Kirche und Volk

Bevor Fritz und Elsbeth zu Hause angekommen waren, hatten sie Arno zu seinen Eltern begleitet und mit Bericht erstattet über die Ereignisse des Abends. So besorgt die Eltern über Herthas Verletzung waren, es überwog bei ihnen doch die Freude über Arnos Bekenntnis zu Christo und über Herthas mutiges Eintreten für ihren Bruder. Nur über eins konnte der Graf nicht hinwegkommen: daß Hertha nun ausgesucht gerade in die Wohnung des jüdischen Ehepaares gebracht werden mußte und man nun diesen Leuten zu Dank verpflichtet war. Die Geschwister begleiteten dann noch Arno bis zum Domkandidatenstift in der Oranienburger Straße, wo er zur Nacht wieder eintreffen mußte, da er nur Abendurlaub hatte. Noch lange blieben der Graf und die Gräfin beisammen und besprachen die Zukunft ihrer Kinder.

Hasso, der schon früher zur Ruhe gegangen, erfuhr erst am nächsten Morgen beim gemeinsamen Frühstück von dem Vorgefallenen. Er hatte eine unruhige Nacht gehabt, bis ihm nach ernstem Gebet klar geworden, daß er sich zu der Lehrerstelle in Konstantinopel melden durfte. Mit ruhiger Klarheit konnte er den Eltern von seinem Entschluß Mitteilung machen und nach eingehenden Erörterungen von »Für« und »Wider« machten diese keine Einwendungen mehr gegen Hassos Wunsch.

Nach der Morgenandacht ging jeder seines Wegs, der Vater in sein Büro, Hasso zur türkischen Botschaft und die Mutter zu ihrer kranken Tochter. Sie fand Hertha bei Besinnung, nur noch sehr müde, so daß sie nicht lange mit ihr reden konnte; bald fielen ihr die Augen wieder zu. Mit Rührung ward sie gewahr, wie sorgfältig und liebevoll die alte Frau Silberstein Hertha pflegte. Joseph bekam die Gräfin nicht zu Gesicht. Als sie zurückkehrte, fand sie Hasso schon wieder vor, der ihr freudestrahlend erzählte, daß Saïd Achmed Bey ihn sehr liebenswürdig empfangen. Er habe ihn gefragt, ob sein Großvater der Major Graf Wildenstein gewesen, der bei den Dardanellen so tapfer gekämpft. Als er das bejahen konnte, habe Saïd Achmed Bey ihm sofort die Stelle zugesagt. Er solle sie zum 1. April antreten; so hatten sie keine drei Wochen mehr, um die erforderlichen Vorbereitungen zu treffen.

Am Nachmittage desselben Tages kam Arno auf seinem Besuchswege durch seinen Sprengel, Die Domkandidaten erhalten jeder einen Bezirk der Domgemeinde als Seelsorgesprengel zugewiesen. der nördlich von der Auguststraße lag, auch bei den Eltern herein. Er hinkte noch ein wenig; die Püffe und Quetschungen, die er sonst erhalten, hatten weiter keine üblen Folgen gehabt.

»Ihr wißt«, sagte er nach der herzlichen Begrüßung der Seinen, »daß kürzlich alle die durch die große Kirchenaustrittsbewegung der letzten Jahrzehnte entstandenen Kreise sich zu einer ›Deutschen Protestantischen Religionsgesellschaft‹ zusammengeschlossen haben. Und denkt euch, heute las ich in der Zeitung, daß sie am 21. März, gleichzeitig mit unserer ›Deutschen Generalsynode‹ ihren ersten Kongreß halten. Sie scheinen sich der besonderen Gunst der Regierung zu erfreuen, die ihnen das uns abgeschlagene frühere Herrenhaus zur Verfügung gestellt hat. Es ist eine bunte Musterkarte von Organisationen, die da unter einen Hut gebracht werden, die neuprotestantischen Gemeinden, die seinerzeit aus der Kirche ausschieden, weil sie nach der Trennung der Kirche vom Staat die Bekenntnisgrundlage nicht annehmen wollten, die theosophischen und die anthroposophischen Gemeinden, die monistischen Gemeinden, die spiritistischen Zirkel, die immer mehr zunehmenden Gemeinden, die die seit dem großen Kriege immer zahlreicher ausgetretenen okkultistischen Wundertäter um sich gesammelt haben, und die freireligiösen Gemeinden.«

»Na, laß sie nur machen«, erwiderte der Graf, »es sind alles Feinde unseres Herrn Jesu Christi, und es ist ihm ein Kleines, mit ihnen fertig zu werden.«

»Ich glaube du unterschätzest sie, lieber Vater. Ihre Zahl ist allmählich weit größer geworden als die Glieder unserer deutsch-evangelischen Kirche. Wenn nun noch der Staat ihnen seinen Arm leiht, so sind sie ein nicht zu unterschätzender Gegner.«

In diesem Augenblicke klingelte es und als Hasso geöffnet, traten Fritz und Elsbeth herein.

»Wir wollten uns erkundigen«, sagte Fritz, »wie es Hertha und Arno geht.«

»Wie ihr seht«, erwiderte Arno, indem er höflich Elsbeth aus ihrem Mantel half, »bin ich wieder auf Deck und Hertha geht es Gott sei Dank besser.«

Mit einem besorgten Blicke musterte Elsbeth Arno von der Seite und als er den Blick bemerkte, senkte sie errötend die Augen.

»Der Arzt verlangt nur, daß sie noch einige Tage ruhig bei Silbersteins bleibt. Es ist so lieb von den alten Leuten, daß sie sie so freundlich aufgenommen.«

»Sie fühlen wohl mit Recht, daß ihr hoffnungsvoller Filius an allem schuld ist«, warf der Graf ein.

»Sie tun es um Jesu willen«, sagte Elsbeth mit Betonung.

»Was? Diese Ostjuden, um Jesu willen? Was soll das bedeuten?« fragte der Graf in etwas aufgeregtem Tone.

Die Geschwister erzählten darauf von dem gestrigen Gespräch mit dem alten Silberstein.

»Ich glaube noch nicht daran«, sagte der Graf, »wer weiß, was für eine schlaue jüdische Finte dahinter steckt.«

»Die alten Silbersteins sind brave, ehrliche Leute, ich halte sie keiner Heuchelei für fähig«, wandte die Gräfin ein.

»Verzeihen Sie, Herr Graf«, sagte Fritz bescheiden, »aber Pastor Waldholz hat uns neulich im Jugendbund von der Zukunft des jüdischen Volkes gesprochen und das stimmt ganz mit den Worten des alten Juden überein. Nach der Schrift soll auf den großen Abfall in der Christenheit, in dem wir mitten drinstehen, eine neue Gnadenzeit für Israel folgen, und die Offenbarung spricht von 144 000 aus Israel, die in der Zeit des Antichrists versiegelt werden sollen.« Offenb. 7, 1-8.

»Ach, Antichrist und Offenbarung Johannes! Ja, das sind jetzt so die Lieblingsworte gewisser schwärmerischer Kreise. Luther hat die Offenbarung Johannes sehr gering geschätzt und es hätte nicht viel gefehlt, so hätte er sie mit den Apokryphen aus der Bibel herausgetan. Wie oft hat man schon das Weltende nahe geglaubt oder auf einen bestimmten Tag errechnet und man hat sich noch immer geirrt. Die Zeit hat der Vater seiner Macht vorbehalten.«

»Das Weltende erwarten wir noch nicht«, sagte Fritz, »wohl aber die Wiederkunft Christi. Das Geheimnis der Bosheit regt sich stärker denn je und es will mich dünken, daß die Zeit des Antichrists nicht ferne ist. 2. Thess. 2, 7-8. Die gestrige Versammlung hat es mir wieder bestätigt.«

»Ich kann als Theologe dem Vater nur recht geben«, nahm nun Arno das Wort. »Wir wollen uns doch begnügen mit dem Einen, was not tut, mit unserer Erlösung von Sündenschuld und -macht durch unseren Herrn Jesum Christum. Gewiß sollen wir die Zeichen der Zeit beachten und sollen wachsam sein, damit nicht die immer dichter werdende Finsternis uns wie ein Dieb ergreife; aber die apokalyptischen Vorstellungen von Antichrist, Babel, Versiegelung usw., die wahrscheinlich aus den jüdischen Apokalypsen übernommen sind, wollen wir doch lieber beiseite lassen. Überhaupt hat die Offenbarung Johannis in den Händen von Nichttheologen mehr Unheil als Segen angerichtet.«

»Nein Arno, Sie irren«, mischte sich jetzt Elsbeth in das Gespräch; ihre Stimme war sanft und fest und ihr Gesicht leicht gerötet. »Jetzt ist die Zeit gekommen, wo Gott selbst durch das Weltgeschehen sein prophetisches Wort auslegt. Das ›Wachen‹ besteht gerade darin, daß wir festhalten an dem prophetischen Wort und mit seinem Maßstabe die Zeitereignisse beurteilen. Wer jetzt nicht das Öl geistgesalbten Verständnisses der Weissagung besitzt, wird in Finsternis tappen, wenn der Herr kommt, und wird als ›törichte Jungfrau‹ beschämt draußen stehen müssen.« Matth. 25, 1-13.

»Ja«, bestätigte Fritz, »was du Arno sagtest, würde um im Gleichnis zu bleiben, darauf hinauskommen, daß man sagte: ›Laßt euch begnügen, wenn ihr soviel Öl habt, als eure Lampe faßt; ihr seid damit bisher ausgekommen, ihr werdet es auch ferner tun.‹ Nein sage ich, es werden solche Zeiten kommen, wie nie vorher gewesen sind, daß verführt werden in den Irrtum auch die Auserwählten! Matth. 24, 24. Da brauchen wir mehr als in gewöhnlichen, ruhigen Zeiten. Haben wir da nicht Öl in den Gefäßen, außer dem in den Lampen, so werden wir uns nicht zurecht finden, die Finsternis wird uns verschlingen.«

Arno blickte während Elsbeths und Fritz' Worten wie gebannt auf das junge Mädchen, deren Antlitz einen weltentrückten Ausdruck angenommen hatte. Er konnte ihr nicht zustimmen und doch sagte er nichts weiter, denn er fühlte wohl, daß die Geschwister Werner ihm überlegen waren und daß seine verstandesmäßigen Bedenken keine geeignete Waffe gegen die Gewißheit dieser Überzeugung waren.

Der Vater beendete das Gespräch mit den Worten: »Nun Kinder, wir wollen uns nicht streiten. Die Zukunft wird es ja lehren, wer recht hat.«

Die Unterhaltung wandte sich nun wieder den beiden Synoden zu, die von morgen an gleichzeitig tagen sollten.

»Es will jedem christlichen Patrioten das Herz abdrücken«, sagte Arno, »wenn man sieht, wie die Mehrheit unseres Volkes sich von unserer Kirche getrennt hat. Je länger, je mehr fällt mir die Verantwortung auf die Seele, die wir für die Ausgetretenen haben. Es sind viele Gemeinden darunter, die vor Jahrzehnten ausgetreten sind und die gewiß jetzt wieder zu gewinnen wären für den Herrn.«

»Dazu haben wir doch unsere Volksmission«, sagte der Vater, »und daneben gibt es noch mancherlei Gelegenheit, an sie heranzukommen, so wie gestern in der Volksversammlung. Dein Zeugnis hat gewiß mehr gewirkt auf manchen Zuhörer, als wenn er zufällig in eine Evangelisationsversammlung gekommen wäre.«

»Und doch genügt das noch nicht. Sie empfinden uns immer als Fremdlinge, gegen die sich zunächst alles in ihnen aufbäumt; ihre Herzen sind für unsere Botschaft verschlossen.«

»Wie soll das denn aber anders werden?«

»Sollte es nicht möglich sein, den Grundsatz des Paulus, ›allen alles zu werden, um ihrer überall etliche zu gewinnen‹, auch auf diese Verhältnisse anzuwenden?« erwiderte Arno. »Wir müssen zu ihnen gehen, einer der Ihren werden, dann werden sie auf uns hören. In mancher schlaflosen Nacht haben mich diese Gedanken bewegt und endlich habe ich mich entschlossen, ein Pfarramt in einer ihrer Gemeinden zu übernehmen, um an ihnen zu missionieren.«

»Was ist das nun wieder einmal für eine unglaubliche Idee?« unterbrach ihn der Graf. »Bedenkst du gar nicht, daß das als ein Verrat an unserer Kirche aufgefaßt werden würde? Niemand kann zwei Herren dienen.«

»Unsere Kirche ist doch eine Missionskirche und da muß ihr jedes sittlich zulässige Mittel recht sein, welches uns in den Stand setzt, an unser Volk heranzukommen. Eine Verleugnung ist nicht mit diesem Schritte verbunden, denn jene Gemeinden haben ja kein Bekenntnis, sind auch nicht zur Bekenntnislosigkeit verpflichtet.«

Die sanfte Elsbeth hatte sich erhoben und ging auf Arno zu; das Herz klopfte ihr bis an den Hals hinauf. »Arno«, rief sie in bittendem Tone, »um Jesu willen bitte ich Sie, tun Sie das nicht. Wer sich dieser Welt gleich stellt, verliert das feine Gefühl für Gottes Willen und kommt in Gefahr, einst mit der Welt gerichtet zu werden. Und noch dazu in unserer Zeit! Die Zeit des Missionierens ist vorüber. Überall werden die Türen verschlossen. Die Zeit ist nicht fern, wo niemand dem anderen mehr von seinem Öl abgeben kann, Matth. 25, 8, 9. wo jeder froh sein wird, wenn er mit knapper Not und Mühe selbst gerettet wird. Alles, was wir jetzt noch tun können, ist: uns zusammenschließen mit allen, die Jesum lieb haben, und uns verliefen in das Wort der Weissagung, solange wir es noch vermögen. Denken Sie, Arno, an Jesu und Paulus' Warnung vor den Anfechtungen der letzten Zeit! Was Sie wollen, heißt Gott versuchen.«

»Ich werde tun«, erwiderte Arno peinlich berührt, »was ich glaube als Gottes Willen zu erkennen.«

Die Gräfin hatte bis dahin geschwiegen. Endlich sagte sie: »Arno, mein guter Junge, denke an deinen Konfirmationsspruch: ›Halte, was du hast, daß niemand deine Krone nehme!‹ Ich befürchte, daß du auf diesem Wege um deine Krone kommst! Die Gegensätze sind viel zu scharf geworden zwischen unserer evangelischen Kirche und jener ›protestantischen Religionsgesellschaft‹, als daß ein Übertritt in jenes Lager, selbst aus den edelsten Motiven, auf die Dauer ohne Verleugnung abgehen könnte. Die Entwicklung der Ereignisse wird stärker sein als dein edles Wollen.«

»Ist denn niemand unter euch«, rief Arno schmerzlich aus, »der Liebe hat zu unserem deutschen Volk? Sollen wir uns einkapseln in unsere engen Kreise und unser Volk den breiten Weg des Verderbens gehen lassen? Sollten nicht Tausende und Abertausende aus unseren Reihen hinübergehen zu jenen, die sich von uns getrennt, um sie für den Herrn und seine Kirche zu gewinnen?«

»Was du willst«, sagte Hasso, »wäre vor zwanzig, dreißig Jahren wohl recht gewesen, da konnte die Arbeit der Kirche sich noch einstellen auf das ganze Volk. Aber was zu einer Zeit recht und gut ist, kann zu einer anderen Zeit ein ›kräftiger Irrtum‹ sein. Fast alle großen Irrungen in der Geschichte stammen daher, daß die Menschen etwas erstrebten, was für ihre Zeit nicht mehr paßte, oder wofür Gottes Stunde noch nicht geschlagen hatte. Was Bismarck einst vom Staatsmann gesagt, gilt auch von den Zeugen des Herrn: ›Es gilt zu lauschen auf den Schritt Gottes in der Geschichte und im rechten Augenblick aufzuspringen und sich an den Saum seines Gewandes zu hängen!‹ Die Zeit der Mission und des Volkskirchentums ist vorüber. Die Aufgabe der Zeit ist die Zubereitung der Gemeinde auf das Kommen des Herrn!«

Arno saß schweigend mit zu Boden gesenktem Blicke da. Da niemand mehr etwas sagte, standen die Geschwister auf und verabschiedeten sich von dem Grafen und der Gräfin. Arno und Hasso begleiteten sie hinaus. Als Arno Elsbeth die Hand zum Abschied reichte, sah er Tränen in des Mädchens Augen.

»Elsbeth«, sagte er erschrocken. Elsbeth wandte sich ab; dann aber sah sie ihn voll an und sagte: »Ich werde für Sie beten, Arno.«


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