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Vorboten des Erdbebens

I

Madame de Pompadour hatte die sichere Hoffnung genährt, daß der Prinz von Soubise im Verein mit Österreich Friedrichs des Großen Macht zertrümmern würde. Als ihr Premierminister Cardinal Bernis nach der Schlacht von Roßbach diese Illusion nicht mehr teilte und Frieden mit Preußen suchte, verlor sie das Vertrauen zu ihm und nahm ihm nicht nur seine Stellung, sondern ließ ihn sogar verbannen.

Sein Nachfolger, der Herzog von Choiseul, hatte bedeutende Eigenschaften. Er war ein glänzender Kopf, boshaft, witzig, charakterstark, von schneller Entschlußkraft, war, wenn auch keine Schönheit, eine verführerische gewinnende Persönlichkeit und klug genug, seine Stellung dadurch zu sichern, daß er eine heftige Leidenschaft für Madame de Pompadour vorgab, deren Freund und Geliebter er wurde. Ihn unterstützte seine Schwester, die wie oben angedeutet, ihm mehr als eine Schwester war, die Herzogin Beatrice von Gramont, die in dem Bruder ganz aufging, seine Gedanken teilte, mit ihm und für ihn arbeitete. Da er durch seine Ehe in den Besitz eines ungeheuren Vermögens gekommen war, war er eine Personifikation der Macht geworden, führte mit seiner schönen und liebenswürdigen Frau ein fürstliches Leben, gab im Jahr 800 000 Francs für seine Haushaltung aus und hatte täglich wie ein Herrscher bis zu achtzig Couverts auf seiner Tafel.

Er war aus Österreich gekommen, wo er Frankreichs Vertreter gewesen war, und ging als Politiker ganz in die österreichischen Sympathien Madame de Pompadours auf. Er erstrebte ein Bündnis zwischen Frankreich, Österreich und Spanien, betrachtete England als den Erbfeind. Sein Hauptgedanke war, Spanien fest und dauernd an Frankreich zu binden.

In der inneren Politik hatte er die Jansenisten und Parlamente gegen die Partei der Jesuiten gebrauchen wollen, hatte sich auf die Parlamente, doch zugleich auf Schriftsteller, Philosophen, Encyklopädisten, die freisinnige öffentliche Meinung stützen wollen.

Aber Madame de Pompadours Lebenstraum von Verehrung und glorreichem Nachruhm hatte sich in Dunst aufgelöst. Sie hatte gehofft, Siege und Eroberungen, die Ausdehnung der Grenzen des Reichs an ihren Namen knüpfen zu können, hatte erwartet, daß Friedrich sie um Gnade anrufen würde. Nun konnte sie kaum all die Niederlagen und Unglücksfälle zählen, die auf Roßbach gefolgt waren, die Niederlage bei Minden wie die bei Willinghausen, die Nordküste Frankreichs beschossen, die Flotte in den französischen Häfen eingeschlossen, Verluste in Indien und Amerika wie in Europa, und im Innern all das Elend, das unglücklichen Kriegen folgt. Der Landwirtschaft fehlte es an Arbeitskräften, der Handel war vernichtet, die Finanzen waren erschöpft, Aufgeben von Neu-Schottland, von Canada, von der Insel Cap-Breton, von allen Inseln des Meerbusens und des Stromes St. Lorenz in Nordamerika.

Die Gesundheit Madame de Pompadours war seit langem erschüttert; sie hatte von frühester Jugend an Blut gespuckt. Der Verlust der Liebe des Königs und das Aufgeben ihres Traumes vom Ruhm töteten die Königin des Rokoko. Sie starb am 15. April 1764. Der König sagte ein paar Tage darauf über sie, daß er sie nie geliebt und sie nur behalten hatte, um sie nicht zu morden. Maria Leszczynska schrieb, als die Marquise eben begraben war, an ihren Freund, den Präsidenten Hénault: »Übrigens ist hier so wenig die Rede von dem, das nicht mehr ist, als wäre sie niemals dagewesen. Es lohnt tatsächlich die Mühe, zu lieben.«

II

Am 19. August 1743 wurde Jeanne, die uneheliche Tochter von Anne Béqus genannt Quantiny geboren. Ein Finanzmann namens Dumonceau ließ sich von der Armut der Mutter rühren und in naiver Wohltätigkeit brachte er das niedliche Kind bei seiner Geliebten, einer Courtisane unter, die sich Fräulein Friederike nannte und nicht gerade zur Erzieherin geschaffen war. Dagegen war sie klug genug, Befürchtungen für ihre eigene Zukunft zu verspüren, falls das junge Kind, wie es den Anschein hatte, sich zu einer seltenen Schönheit entwickelte. Sie veranlaßte deshalb Dumonceau, das Mädchen in das Kloster Saint-Aure zu geben, das solche junge Mädchen erzog, die durch ihre Stellung leicht den Versuchungen und Gefahren des Lebens ausgesetzt werden könnten.

Hier war die Erziehung ohne Zweifel weit besser und strenger als bei Fräulein Friederike, aber auch weit eintöniger und langweiliger, aus welchem Grunde die junge Jeanne eines schönen Tages aus dem Kloster verschwand und mit einer großen offenen Schachtel durch die Straßen ging, aus der sie Uhrketten, Tabakdosen, unechte Perlen, Nadeln mit falschen Brillanten, allerlei Kleinkram verkaufte, den sie anbot und der wegen der schönen Augen der Verkäuferin gekauft wurde, während sie zugleich stillschweigend auf so wirksame Weise sich selbst anbot, daß die Lakaien der vornehmen Herren sie zu ihren Herren führten, damit diese ihre Einkäufe selbst besorgen konnten.

Bald erhielt sie eine Anstellung in einem Modengeschäft und lebte eine Zeitlang in Verbindung mit einem Friseur namens Lamet. Dann wurde sie von ihrer Mutter bei einer Nachbarin eingeführt, die einen Spielsalon unterhielt. Hier lernte sie einen durchtriebenen und gewissenlosen Müßiggänger mit dem bezeichnenden Spitznamen Roué kennen, einen Grafen Jean du Barry, der sie als Lieblingssultanin in seinen Pariser Harem nahm, und dann begriff, daß er sein Glück machen und ein Vermögen gewinnen könnte, wenn er die junge Frau, die sich zu einer überraschenden Schönheit entwickelt hatte, vorteilhaft weitergab.

Im Gesellschaftsleben traf dieser Graf mit Richelieu zusammen, und als dieser einmal ein Wort fallen ließ, daß der König seit dem Tode der Madame de Pompadour starken Ausschweifungen verfallen sei, schlug diese Äußerung in Jean du Barrys Einbildungskraft Wurzel. Er führte die junge Frau mehrmals zu dem Marschall, pries ihre Reize vor ihm, und sagte ihm halb im Scherz, halb ernst, daß er sie für König Ludwig selbst bestimmt habe. Richelieu, dem bereits Madame de Pompadour zu bürgerlich gewesen war, und dem dieses Mädchen aus dem Volke unmöglich schien, wies den Vorschlag nicht ohne Hohn zurück; aber Jean du Barry gab seinen zynischen Plan nicht auf, und quälte den Marschall so lange, bis dieser sagte: »Gut, rede, mit Lebel (dem Kammerdiener); vielleicht bekommt Dein Liebling dann eines schönen Tages eine Einladung in den Louvre.«

Die bekam sie, und sie weckte die Leidenschaft des Königs. Es wurden ihr ein falscher Stammbaum und außerdem ein Ehemann verschafft; Jean du Barry schrieb an seinen Bruder, Guillaume du Barry, der als armer Hauptmann bei den Marinetruppen stand und in Toulouse wohnte. Ihn ließ er nach Paris kommen, wo er am 23. Juli 1768 gegen eine gewichtige Belohnung zum Schein mit Jeanne Béqus, Fräulein Gomard de Vaubernier genannt, getraut wurde, darauf reiste er nach Toulouse zurück.

Die Gräfin Jeanne du Barry wurde in Versailles im zweiten Stock in einer Wohnung untergebracht, die mit der des Königs in Verbindung stand, und umgab sich schnell mit maßlosem Luxus.

Der Herzog von Choiseul regierte noch Frankreich, und seine zahlreichen Feinde hatten es in Anbetracht seiner Herrschaft über den König, seiner Willenskraft und seiner Fähigkeiten fast aufgegeben, ihn stürzen zu können, besonders da die sechzig Jahre des Königs keine Möglichkeit neuer Verliebtheit und neuer, zu benutzender Weiberherrschaft zu eröffnen schienen. Da tauchte Madame du Barry unerwartet auf.

Choiseul sah von Anfang an mit kalter Verachtung auf sie herab. Seine Schwester, die Herzogin von Gramont, hatte einen Plan gefaßt, sich des Königs zu bemächtigen, ihn zu gewinnen und zu leiten. Jedoch der König wollte von politisierenden Frauen in seiner Nähe nichts mehr wissen. Alle Bestrebungen und Koketterien der Madame de Gramont scheiterten an seiner Kühle.

Gewiß war sie schön und feurig und klug. Gewiß überstrahlte sie durch Festigkeit und Charakter die Gräfin du Barry unendlich – was sich in der Schreckenszeit auf tragische Weise offenbarte, als jede für sich vor dem Revolutionstribunal und auf dem Schafott stand. Aber hier galt es ja keinen Wettkampf in Charakterstärke.

Die Herzogin fühlte eine Art Wut und setzte nach der Sitte damaliger Zeit Schmählieder über die Rivalin in Umlauf, u. a. das bekannte la Bourbonnaise, das beginnt:

Quelle merveille!
Une fille de rien!
Une fille de rien
Donne au roi de l'amour,
Est à la cour …

Aber Richelieu, der durch Choiseul verdrängt worden war, sah die Möglichkeit, durch Förderung der Madame du Barry Genugtuung zu erlangen. Es galt nur, sie bei Hofe vorzustellen. Doch ängstlich wie immer verriet der König Scheu davor. Langsam, sehr langsam gelang es, seinen Widerstand zu überwinden, und schließlich zeigte sich (30. April 1769) Madame du Barry eines Abends in der Tür des Schloßsaales wie eine Erscheinung, so strahlend, so blendend in ihrer Schönheit, daß sogar ihre Feinde und Verächter einen leisen Ausbruch der Überraschung nicht zurückhalten konnten, als sie dort stand, mit Diamanten für 100.000 Francs geschmückt, mit ihrem herrlich gekräuselten wundervollen Haar, in einem Kleid, das die Damen des 18. Jahrhunderts ein Kampfkleid (un habit de combat) nannten, vollkommen anmutig und bezaubernd, mit Händen und Füßen ohne gleichen. (Nur Caffieris Büste in der Bibliothek in Versailles gibt eine Vorstellung von ihrer Schönheit).

Als sie Voltaire grüßen ließ, daß sie befohlen hätte, es sollten ihm zwei Küsse von ihr gleichzeitig mit ihrem Porträt gegeben werden, antwortete er u. a.: »Seien Sie nicht böse, Madame, daß ich dem Portrait die Küsse zurückgegeben habe.«

Vous ne pouvez empêcher cet hommage,
Faible tribut de quiconque a des yeux.
C'est aux mortels d'adorer votre image;
L'original était fait pour les dieux.

III

Es konnte scheinen, als müßte den Feinden des Herzogs von Choiseul eine Stütze am Hofe fehlen. Die klerikale Partei hatte ihre mächtigen Beschützer verloren. Der Dauphin war tot. Die Dauphine war tot, die Königin war tot.

Aber es gab noch einen ausgeprägten Vertreter der religiösen Autorität und der monarchischen Alleinherrschaft, einen Beschützer der Jesuiten, der sich sein ganzes Leben lang als der Gegenpol Choiseuls gefühlt hatte. Das war der Herzog von Aiguillon, den wir in seinen jungen Jahren als den Herzog von Agenois kennen gelernt haben, der auserwählte Geliebte der Herzogin von Châteauroux, damals, als sie noch Madame de la Tournelle hieß.

Er war 1745 infolge der Eifersucht Ludwigs des Fünfzehnten aus dem intimen Kreise des Hofes entfernt worden, hatte volle siebzehn Jahre in Ungnade verbracht und war erst 1762 wieder in Versailles eingeführt worden, wo er die intime Freundschaft des Dauphin gewann. Choiseul, der seinen Einfluß fürchtete, sandte ihn als Gouverneur nach der Bretagne. Und hier fiel der Verdacht auf den Herzog, daß er in dem Prozeß, der auf Betreiben der jesuitischen Partei gegen den Generalanwalt de la Chalotais angestrengt wurde, falsche Zeugen vorgeführt habe.

Choiseuls Anhänger klagten den Herzog von Aiguillon außerdem an, er hätte öffentliche Mittel an sich gebracht, während Aiguillons Partei Choiseul beschuldigte, den Dauphin und seine Gemahlin vergiftet zu haben. Dem großen Publikum erschien es, als gälte der Streit in Wirklichkeit dem Jesuitentum, das durch Aiguillon, und der Philosophie, die durch Choiseul vertreten wurde. So einfach war das Verhältnis jedoch nicht.

Madame du Barry war unerwartet das Palladium der jesuitischen Partei am Hofe geworden. Ihr Anhängerkreis machte eine große und unerwartete Eroberung, als sich Frankreichs Kanzler ihm anschloß. Maupeou war 1768 zum Kanzler von Frankreich ernannt worden gegen das Versprechen, das er Choiseul gab, durch den Ausgang des Prozesses, der vor dem Parlament in Paris gegen Aiguillon wegen seines Verhaltens in der Bretagne geführt wurde, diesen zu stürzen.

Maupeou war heimtückisch, klug, rücksichtslos, von einem harten und festen Ehrgeiz beseelt, den keinerlei Dankbarkeitsgefühl jemals behinderte, so wenig wie dies in früheren Zeiten jemals den Kardinal von Richelieu beschwert hatte. Sein Plan war, zuerst durch die Unterstützung Aiguillons Choiseul zu stürzen, darauf Aiguillon zu stürzen, um selbst zu regieren.

Aiguillons Prozeß dauerte bis ins Unendliche. Maupeou, der anscheinend sein Alliierter war und deshalb seinen Fall vor ein Pariser Gericht brachte, war ihm in Wirklichkeit übelgesonnen, und da es schien, als sollte er freigesprochen werden, erreichte er, daß die Angelegenheit vor ein anderes Gericht kam, ein lit de justice, das am 2. Juli 1770 erkannte, Aiguillon sei »beschuldigt, Handlungen begangen zu haben, die seine Ehre befleckten«, und ihm deshalb seine Vorrechte als Pair von Frankreich entzog, bis das Urteil gefällt wurde.

Dieses feindliche Auftreten des Parlaments öffnete Madame du Barry die Augen für die Gefahr, in der der Herzog schwebte, und sie bot ihm ein Bündnis an. Er bewog sie, durch tägliche Einwirkung auf den König die Verbannung der Herzogin von Gramont zu verlangen. Er erklärte ihr außerdem, daß es für sie keinerlei Sicherheit gäbe, so lange der Herzog von Choiseul Minister war. Madame du Barry gewöhnte nun durch hundert lustige und spaßige Äußerungen den König an den Gedanken, dem Herzog den Abschied zu geben. Als sie z. B. eines Tages ihren Koch entlassen hatte, sagte sie zu Ludwig: »Ich habe meinem Choiseul den Abschied gegeben.«

Aiguillon sah ein, daß er Madame du Barry ganz gewinnen mußte, um sich auf sie verlassen zu können. Sie war ja nicht aus Stein, und sie, die einen Friseur erhört hatte, würde einen schönen und stattlichen Herzog kaum abweisen.

Als er in seinem Zusammensein mit Madame du Barry Leidenschaft an den Tag legte, ursprünglich wohl aus Diplomatie, vielleicht auch durch die Erinnerung an die Kränkung angefeuert, die Ludwig ihm zugefügt hatte, als er mit Madame de la Tournelle verbunden war, wurde er bald der Geliebte der Gräfin und war nun sicher, daß sie den Herzog von Choiseul stürzen würde. Dieser, dem der König kürzlich die bestimmte Zusage gegeben hatte, daß keine Gefahr irgendwelcher Art ihn als Minister bedrohte, empfing denn auch am 24. Dezember 1770 eine lettre de cachet, die ihn aller seiner Ämter entsetzte und nach Chanteloup verwies. La Vrillière wurde, wie wir früher gesehen haben, sein Nachfolger.

Als Choiseul entfernt war, arbeiteten Maupeou und Aiguillon, die durch gemeinsamen Haß verbunden waren, daran, den entscheidenden Stoß gegen das Pariser Parlament zu führen, das einige Tage vor dem Sturz Choiseuls die Behandlung von Zivilprozessen unter dem Vorwande ausgesetzt hatte, daß »die Mitglieder in ihrem tiefen Schmerze die Gedanken nicht frei genug hatten, um über Eigentum, Leben und Ehre der Untertanen des Königs zu urteilen.«

IV

Der alte Hesiod braucht das treffende und bittere Wort:

Πλειη μέν γάρ γαῖα κακῶν πλείη δέ θάλασσα

Falls Voltaire diese Klage gekannt hat, daß Erde und Meer gleichmäßig voll von Bösem sind, so muß sie ihm in diesen Jahren eingefallen sein. Die Erde ist ihm voll von bösen Menschen vorgekommen.

Nachdem La Barre als Opfer der Brutalität und Dummheit des Pariser Parlaments hingerichtet worden, war Voltaires Haß gegen die verschiedenen Parlamente Frankreichs von Tag zu Tag gewachsen. Seine geistvolle Novelle L'Homme aux quarante écus (vom Februar 1768), die der Regierung und dem Volke gesunde staatsökonomische Begriffe einzuprägen versuchte und besonders eine Reform des wahnsinnig ungerechten Steuersystems Frankreichs erstrebte, wurde auf Befehl des Parlaments zur Verbrennung auf dem Scheiterhaufen verurteilt – welches ruhmreiche Urteil in Rom wiederholt und am 29. November 1771 ausgeführt wurde.

Ein armer Krämerlehrling Jean Baptiste Josserand hatte von einem, der ihm etwas Geld schuldete, Bücher zur Bezahlung erhalten, und hatte sie an einen Kolporteur Jean Lecuyer und dessen Frau Marie Suisse verkauft. Da sich unter diesen Büchern außer einem Buch Le Christianisme dévoilé, das Damilaville zugeschrieben wurde, und einer Tragödie von Fontenelle auch Voltaires L'Homme aux quarante écus befand, waren nicht nur diese drei Bücher zur Verbrennung verurteilt worden, sondern alle drei Angeklagten, Josserand, Lecuyer und Marie Suisse wurden am 24. September 1768 verurteilt, drei Tage am Pranger zu stehen, Josserand und Lecuyer außerdem zur Brandmarkung, Josserand weiterhin, neun Jahre und Lecuyer fünf Jahre auf der Galeere zu rudern, während Madame Lecuyer zu fünf Jahren Einsperrung in La Salpêtrière verurteilt wurde. Josserand starb aus Verzweiflung am Tage, nachdem er an den Pranger gestellt worden war. Wenige Tage darauf (5. Oktober) erließ das Parlament den von Diderot besprochenen Haftbefehl gegen Voltaire (der nicht ausgeführt wurde) als Verfasser »eines ruchlosen, gegen die guten Sitten streitenden Buches«.

Wäre das Urteil 1168 und nicht 1768 gefällt worden, würde man sich nicht wundern. So zeigt es, wie tief im Mittelalter das Parlament steckte.

Die kurze Novelle über den Mann mit den 40 Talern Einkommen hat ihren bleibenden Wert durch die unwiderlegbare Kritik an der vernichtenden Weise, auf die das gewöhnliche Volk in Frankreich durch Steuererhebungen ausgeplündert wurde. Sie enthält daneben einige Wiederholungen. Denn Voltaire reitet in ihr einige seiner liebsten Steckenpferde; er behandelt Needhams Versuche, Aale aus Kleister zu erzeugen, wieder satirisch, macht wieder Scherze über Maupertuis' zwanzig Jahre alten Vorschlag, die Gehirne riesengroßer Menschen zu untersuchen, um daran das Wesen der Seele zu studieren. Er spricht wieder seine Ungläubigkeit gegenüber der Entwicklungslehre aus, wie sie damals in ihren ersten Keimen vorlag; er will die Möglichkeit des Überganges der Arten ineinander nicht annehmen, und kommt wieder auf seine lächerliche Mutmaßung zurück, daß Muschelschalen und Conchylien auf Bergen nicht dafür sprechen, daß diese einmal unter Wasser gestanden haben, sondern daß sie von Pilgern verloren sind; er spricht hier auch gegen die Überschätzung Shakespeares.

Doch all derartiges verschwindet vor dem Nachdruck, und der Kraft mit welcher er über das Menschenleben philosophiert, und vor seiner gesunden Logik, wenn er die törichten Theorien bekämpft, die eben in Roussel de la Tours La Richesse de l'Etat und in Lemercier de la Rivières L'Ordre naturel et essentiel des sociétés entwickelt worden waren.

Hier wie stets versteht er es, einleuchtend klarzumachen, was er einprägen will. Als Beweis für den sinkenden Wert des Geldes führt er z. B. an, daß Madame de Maintenon an einer Stelle ihrer Briefe die jährlichen Ausgaben berechnet, die ihr Bruder und seine Frau zu bestreiten hatten. Sie mußten die Miete für ein ganzes hübsches Haus bezahlen, hatten zwei Dienstboten im Hause; sie hatten vier Pferde und zwei Kutscher und speisten jeden Tag sehr gut. Madame de Maintenon rechnet aus, wenn man 3000 Francs für Spiel, Theater, unvorhergesehene Ausgaben für den Herrn und die Dame rechnet, würde das Paar in allem mit 9000 Francs jährlich gut auskommen. Zu Voltaires Zeit, keine hundert Jahre später, konnte ein solches Leben nicht unter 40 000 Francs geführt werden.

Er zeigt, daß damals die Durchschnitts-Lebensdauer in Paris nur 23 Jahr war und sagt, wenn man hiervon zehn Jahre abzieht, die der Kindheit gehören, die eine Vorbereitung auf das Leben sei, kein Genuß des Lebens, und wenn man von den dreizehn Jahren, die übrig bleiben, weiter die Zeit abzieht, in der man schläft oder sich langweilt, was wohl die Hälfte sei, dann bleiben 6½ Jahr übrig, die man in Ärger, Quälereien, einigen Freuden und vielen Hoffnungen verbringt.

Er hat behauptet, daß das Durchschnittseinkommen in Frankreich 40 Taler betrage. In seinem Dialog fragt und antwortet man:

Nur vierzig Taler und nur drei gute Jahre! Was für Hilfsmittel können Sie gegen diese zwei Verfluchungen angeben?

Was das Leben betrifft, so gilt es, die Luft in Paris reiner zu machen, die Menschen dahin zu bringen, weniger zu essen, sich mehr Bewegung zu machen, die Mütter zu veranlassen, ihre Kinder selbst zu säugen, das Volk zu bewegen, seine dumme Furcht vor der Impfung aufzugeben. Was den Vermögenszustand betrifft, so gilt es, sich zu verheiraten, Söhne und Töchter zu bekommen.

Wie? Besteht das Mittel, behaglich zu leben, darin, meine Armut mit der eines andern zu vereinigen?

Fünf oder sechs miteinander vereinte Hilflosigkeiten ergeben eine leidliche Existenz. Habe ein braves Weib, zwei Söhne und zwei Töchter, das gibt 720 Francs für Euren kleinen Haushalt, vorausgesetzt, daß alles richtig zugeht und wirklich jedes Individuum ein jährliches Einkommen von 40 Talern (120 Francs) hat usw.

Manchmal ist Voltaire hier bei seiner Betrachtung des Menschenlebens wehmütig bitter wie Swift:

Der Mann mit den 40 Talern fragte, an welchem Ort sich sein (kürzlich empfangenes) Kind befinde. – In einer kleinen Tasche, antwortete sein Freund, die zwischen der Blase und dem Mastdarm liegt. – Himmlischer Gott! rief er aus, ist die unsterbliche Seele meines Sohnes zwischen Urin und etwas noch Schlimmeren empfangen und untergebracht? – Ja, lieber Nachbar, selbst die unsterbliche Seele eines Kardinals hat keine feinere Wiege. Und dabei sich denken, daß es welche gibt, die dennoch wichtig tun, und sich das Aussehen geben, etwas ganz Außerordentliches zu sein!

Wie im Candide verweilt Voltaire hier bei der Lehre, daß diese Welt die bestmögliche aller möglichen Welten sei:

Es war unmöglich, Syphilis, Pest, Steinschmerzen, Kropfknoten, Steuereinnehmer und Inquisitoren bei der Komposition des Weltalls auszulassen, das ja allein für den Menschen geschaffen ist, den König der Tiere, das Bildnis Gottes, an dem man sofort sieht, daß Gott und er einander wie zwei Wassertropfen ähneln …

Ist es wahr, daß, wenn zwei Heere von je 30 000 Mann mit fliegenden Fahnen gegeneinander marschieren, dann auf jeder Seite 20 000 Syphilitiker sind? – Das ist nur allzu wahr.

Wie man sieht, steckt viel bitterer Humor darin, aber nichts, das Scheiterhaufen und Feuer verdiente.

V

Da Voltaire nicht zu den zahmen Tieren gehörte, die sich treten lassen, solange jemand Lust hat, ihnen Fußtritte zu versetzen, sondern allein in den drei Fingern, mit denen er seine Feder hielt, mehr Kraft hatte, als alle Parlamente Frankreichs zusammen in ihren geballten Fäusten, gab er im Jahre 1769 ein rein geschichtliches Werk heraus, das für die Pariser Parlamentarier ein Schlag vor die Stirn war.

Histoire du Parlament de Paris, par M. l'abbé Big …, das in Amsterdam erschien, machte das Parlament unmöglich, ohne einen einzigen unwahren oder verleumdenden Satz auszusprechen. Die Geschichte des Parlaments zu berichten hieß eben, es zu vernichten.

Das Parlament fühlte sich denn auch so getroffen, daß es dem Verkauf des Buches alle möglichen Hindernisse in den Weg legte. Jeder Buchhändler, der ein einziges Exemplar verkaufte, wurde von den härtesten Strafen ereilt. Nichtsdestoweniger erschien bereits im nächsten Jahre 1770 die achte Auflage, in der der ursprüngliche Verfassernamen ganz ausgeschrieben ist: L'abbé Bigore.

Man wußte natürlich sofort, wie der Verfasser in Wirklichkeit hieß, und man beschloß, mit der nutzlosen Zeremonie, das Buch zu verbrennen, keine Zeit zu verlieren, sondern den Beweis zu suchen, wer der Verfasser war, und einen Prozeß gegen ihn einzuleiten.

Aber Voltaire war für das Parlament zu klug. Er schrieb in einem Brief (vom 5. Juli 1769), der in Le Mercure français abgedruckt wurde: »Um ein solches Buch herauszugeben, muß man mindestens ein Jahr lang die Archive durchwühlt haben, und wenn man erst in diesen Abgrund niedergetaucht ist, dann ist es sehr schwierig, ein lesbares Buch herauszubekommen. Ein solches Werk wird eher ein dickes Protokoll als eine Geschichte. Wenn irgendein Buchhändler das Werk dafür ausgeben will, daß es von mir geschrieben sei, so erkläre ich ihm, daß er dabei nichts gewinnt. Weit davon entfernt, dadurch ein Exemplar mehr zu verkaufen, würde er umgekehrt dem Ansehen des Buches schaden. Die Behauptung würde absurd sein, ich hätte mich in das französische Rechtswesen hineinarbeiten und einen ungeheuren Stoß Material sammeln können, ich, der ich länger als zwanzig Jahre von Frankreich abwesend gewesen bin und vorher fast immer fern von Paris auf dem Lande gelebt habe, einzig mit ganz anderen Dingen beschäftigt.«

Um die Verfolger zu täuschen, schritt Voltaire sogar in einem Briefe an Thiériot vom 9. August desselben Jahres dazu, das Buch niederzureißen und dessen letzte Kapitel als »ein Meisterstück an Irrtümern, Ungezogenheiten und Versündigungen gegen die Sprache« zu bezeichnen.

Voltaire hatte die Archive natürlich nicht selbst durchforscht. Aber er hatte in Paris Freunde genug, die bereit waren, das für ihn zu tun, und außerdem wurde allgemein geglaubt, daß die Regierung, die in einem Kampf aufs Messer mit den Parlamenten lag, ihn heimlich mit dem ganzen Material versehen ließ, das er gebrauchte.

Als der Generaladvokat Séguier Voltaire im Herbst 1770 in Ferney besuchte, sagte er mit gekünstelter Gleichgültigkeit zu seinem Wirt, daß ihn vier Parlaments-Ratsherren ständig quälten, l'Histoire du Parlament verbrennen zu lassen, und daß er genötigt sein würde, im Februar 1771 eine Untersuchung zu eröffnen, um den Verfasser zu entdecken. Voltaire antwortete mit nicht geringerer Ruhe, daß er keinerlei Anteil an dem Geschichtswerk habe, daß er es im übrigen für sehr wahrhaft hielt. Wäre es möglich, daß eine Versammlung Dankbarkeit empfinden könne, dann müßte das Parlament nach seiner Meinung dem Verfasser dankbar sein; denn er habe es mit großer Schonung geschildert. Voltaire hatte tatsächlich eine gewisse (kluge) Schonung gezeigt; er hatte Tatsachen schweigend übergangen, über die er an anderer Stelle gesprochen hatte. So war er an den ihn doch so sehr empörenden Urteilen über La Barre und Lally vorbeigegangen.

Séguiers Untersuchung fand indessen überhaupt nicht statt, weil, wie wir gesehen haben, die Parlamente an anderes zu denken hatten.

VI

Kaum war das Werk veröffentlicht, als Voltaire von einem neuen vom Parlament begangenen Justizmord unterrichtet wurde.

Eines Tages wurde auf der Landstraße bei Bleurville in Lothringen ein Mann gefunden, der ermordet worden war. Der Verdacht lenkte sich auf einen armen Bauern namens Martin, der in der Mordnacht ruhig mit seiner Familie in seinem Hause geschlafen hatte. Der Mörder hatte nämlich Martins Kittel gestohlen und war in diesem gesehen worden; außerdem führten Fußspuren vom Tatort zu Martins Haus. Martin wurde einem Mann gegenübergestellt, der behauptete, von einem Versteck aus Zeuge des Mordes gewesen zu sein; doch erkannte der Mann den Mörder in ihm nicht wieder. Martin, der glaubte, er wäre gerettet, rief in seiner Freude aus: »Gott sei Dank, es gibt doch einen, der den Mörder in mir nicht erkennt!« – Das Gericht war so dumm, diesen Ausruf als ein unfreiwilliges Schuldgeständnis zu betrachten.

Martin wurde gefoltert und in erster Instanz zum Rade verurteilt, obwohl man weder seine Nachbarn noch seine Frau und Kinder verhört hatte, und obwohl keine Hausuntersuchung bei ihm stattgefunden hatte. Natürlich hätte man bei ihm nicht das Geld gefunden, das dem Ermordeten geraubt worden war.

Das Pariser Parlament war die zweite Instanz. Aber, wie Voltaire richtig hervorhebt, es peitschte die Sachen flüchtig durch, weil es mit Prozessen überhäuft war; es hatte nämlich nicht weniger als 22 der damaligen Departements Frankreichs unter sich. Außerdem war das Parlament von der politischen Situation so in Anspruch genommen, daß es sich wenig um das bekümmerte, was rein juristisch war. Es ließ sich denn auf keinerlei ernste Prüfung der Sache ein, und der arme einfältige und unwissende Martin war selbstverständlich schlecht dazu geeignet, sich gegen die furchtbare gegen ihn gerichtete Beschuldigung zu verteidigen, bei der er nach der Ansicht dieser gewissenlosen Juristen mehr als den Schein gegen sich hatte. Und so bestätigte das Parlament in aller Eile das Urteil des Untergerichts.

Der unglückliche Martin wurde gerädert. Als man ihn auf das Andreaskreuz legte, um ihm die Glieder zu zerschlagen, bat er, die Arme zum Zeichen seiner Unschuld zum Himmel erheben zu dürfen.

Bald darauf gestand ein Verbrecher, der hingerichtet werden sollte, daß er den Mord begangen habe, für den Martin auf das Rad geflochten war. Martins Familie war nach Österreich geflohen; sein geringes Eigentum war beschlagnahmt worden; seine Verwandten ahnten nicht einmal, daß seine Unschuld offenbar geworden war.

Sobald Voltaire hiervon Kenntnis erhalten hatte, schrieb er an D'Alembert und an Elie de Beaumont und erbat sich weitere Aufklärung. Elie de Beaumont versagte. D'Alembert gab sich alle Mühe, um, wie er schreibt (15. Oktober 1769) »diese Schurken mit der Schande zu bedecken, die sie verdienten«. Aber Voltaire vermochte nicht, selbst sich des Falles Martin anzunehmen. »Ich kann – schrieb er am 30. August 1769 an d'Argental – unmöglich der Don Quixote aller Geräderten und Gehängten sein.« Aber Damilaville, sein gewohnter Helfer in derartigen Fällen, war tot, D'Alembert eignete sich nicht dazu, die Sache selbst durchzuführen, und so wurde die Ehrenrettung für den armen Martin niemals durchgeführt. Man ersieht dagegen aus Voltaires Briefen (3. März 1770 und selbst noch später aus dem Oktober 1775), daß er nach Kräften dafür sorgte, der unglücklichen Familie zu helfen.

VII

Der Spruch vom 2. Juli 1770, durch den das Parlament versuchte, den Herzog von Aiguillon als ehrlos hinzustellen, und zwar, trotzdem König Ludwig befohlen hatte, das Verfahren einzustellen, wurde vom König nicht ohne Grund als eine persönliche Kränkung aufgefaßt. Aiguillon war nämlich nicht nur der Freund der Madame du Barry, sondern war dadurch auch der Vertraute des Königs geworden.

Maupeou verstand es, König Ludwigs Erbitterung zu benutzen. Er hatte ja selbst seinerzeit die Stellung als erster Präsident des Pariser Parlaments bekleidet, hatte selbst eifrig für eine Berichtigung des ungesetzlichen Prozesses gegen La Barre gekämpft, hatte aber einen so ungünstigen Eindruck von seinen Kollegen bekommen, daß es ihm nur lieb war, ihre Macht zu brechen. Seine Absicht war, ihnen jeglichen politischen Einfluß zu nehmen und sie nur auf die Richtertätigkeit zu beschränken.

Im November 1770 gelang es ihm, Ludwig zu bewegen, seine frühere unsichere und schwankende Haltung gegenüber den Parlamenten aufzugeben und seine Einwilligung zu einem entscheidenden Schlag zu erteilen. Am 27. November wurde dann dem Parlament in Paris ein Edikt überbracht, das in der Einleitung noch einmal alle dessen Verfehlungen aufzählte und unbedingten Gehorsam vor dem königlichen Willen verlangte.

Das Edikt verbot den Parlamenten, jemals mehr zusammenzuhalten und als eine Körperschaft zu sprechen; sie dürften nie mehr nach Verabredung untereinander die Rechtspflege ruhen lassen. Sie durften wohl Vorschläge an den König richten; wurden diese aber nicht berücksichtigt, so sollten sie verpflichtet sein, die vom König gegebenen Gesetze sofort zu registrieren. Natürlich weigerte sich das Pariser Parlament, sogar dieses Edikt zu registrieren.

Der König antwortete mit einem Kabinettsbefehl, in dem er Gehorsam verlangte. Dann legte das ganze Pariser Parlament die Arbeit nieder. Da jedes Parlamentsmitglied darauf in der Nacht vom 19. zum 20. Januar 1771 eine persönliche lettre de cachet mit dem Befehl zur Wiederaufnahme der Amtstätigkeit erhielt und das versammelte Parlament einstimmig bei seinem Beschluß blieb, erhielt jedes einzelne Mitglied in der folgenden Nacht eine neue lettre de cachet, die im Namen des Königs und des Staatsrats dieses Mitglied für verabschiedet erklärte und ihm einen Aufenthaltsort anwies.

Der bisherige Wirkungskreis des Pariser Parlaments wurde durch Errichtung von sechs neuen Obersten Gerichten in verschiedenen Städten eingeschränkt. In Paris wurde ein neues Parlament von 75 Mitgliedern gebildet, und alle Plätze wurden sofort mit gefügigen Männern besetzt. Man konnte Mitglied werden, wenn man über 25 Jahr alt war und fünf Jahre als Advokat oder Unterrichter gewirkt hatte.

Die Provinzparlamente sahen, was sie erwartete, und sie protestierten sofort im voraus. Aber sie schüchterten Maupeou nicht ein. Und als alle für aufgehoben erklärt wurden und neue Parlamente gebildet werden sollten, erschrak ein guter Teil der Mitglieder so, daß sie sich fügten und Aufnahme in die neuen Gerichte suchten.

Obgleich das Geschehene ein Versuch war, die Krone durch Einführung einer Alleinherrschaft zu stärken, die Frankreich noch nicht gekannt hatte, sahen die Parlamentsmitglieder wie die Mehrzahl der Bürger Frankreichs in dem Staatsstreich nicht ohne Grund einen Vorboten des Untergangs der Monarchie. Dafür zeugen zahlreiche politische Lieder jener Zeit:

C'en est donc fait: la monarchie
S'écroule sur ses fondements;
De notre première anarchie
Maupeou fait renaître le temps.

Für die Vielzuvielen erstand das Blendwerk, daß die Parlamente – diese Sammlung bigotter, beschränkter, herrschsüchtiger, blutdürstiger Dummköpfe – Schutz und Wehr der Volksfreiheit gewesen sei. Und ganz Frankreich geriet in eine Gärung, die siebzehn Jahre vor dem Ausbruch der Revolution die Revolution ankündigte.

VIII

Maupeous Staatsstreich brachte gewisse Vorteile mit sich. Es war ein Vorteil, daß die Käuflichkeit der Richterstellen aufhörte, wenn auch das Ziel des Ministers dabei allein die Abhängigkeit der Richter von der Krone war. Es war ein Vorteil, daß durch den geringeren Umfang des Gebiets der juristischen Zuständigkeit sowohl die Prozeßkosten wie die Entfernungen zwischen dem Wohnort des Angeklagten und dem Gericht stark vermindert wurden, wenn auch das Ziel des Ministers allein gewesen war, die Macht des Pariser Parlaments zu beschneiden. Man macht sich in unserer Zeit keinen Begriff von der Höhe jener Prozeßkosten. Für den so schändlich hingerichteten Martin waren die Unkosten für seinen Transport hin und zurück, für die Untersuchung und Hinrichtung – wie Voltaire dargelegt hat – größer als das jährliche Gehalt aller Ratsherren an den sechs neu errichteten Tribunalen.

Maupeou hatte nicht grundlos auf Voltaires Abscheu vor den alten Parlamenten gerechnet, als er sich um Unterstützung der neuen Einrichtungen an ihn wandte.

Obwohl Voltaire alles abgeleugnet hat, was er aus diesem Anlaß schrieb, ist es sicher, daß er der Verfasser von nicht weniger als sieben Schriften war, die die neu gestifteten Gerichte preisen. In ihm steckte ja ein Rest von Naivität. Er gab sich im Ernst der Hoffnung hin, daß diese besser als die alten werden würden. Die Titel der sieben Schriften sind: Lettre d'un jeune Abbé sur la vénalité des charges. Réponse aux remontrances de la cour des Aides, par un membre des nouveaux conseils souverains. Avis important d'un gentilhomme à toute la noblesse du royaume. Sentiments des six conseils établis par le roi et de tous les bons citoyens. Très humbles et très respectueuses remontrances du grenier à sel. Les peuples aux parlements. L'Equivoque.

Voltaire führte die ganze Aufregung, die damals in Frankreich über das Vorgefallene herrschte, auf die verletzte Eitelkeit der Parlamentsratsherren zurück. Das Gebiet ihrer Zuständigkeit war ja vermindert worden, und damit auch ihre Wichtigkeit. Sie hatten kraft der doppelten Bedeutung des Wortes Parlament sich und anderen einzureden versucht, daß ihre Bedeutung der der Parlamentsmitglieder in England entspreche, und hatten sich also besonders mit der Politik beschäftigt. Besonders deshalb waren die Urteile, die sie fällten, so übereilt und schändlich gewesen. Nun würden derartige Justizmorde nicht mehr vorkommen. In allen zweifelhaften Fällen würde man nun freisprechen. Der König trage sich jetzt mit der Absicht, die Folter abzuschaffen usw.

Maupeou ließ nicht nur Voltaires Schriften neu drucken, sondern erweiterte sogar Nr. 2 durch Einfügung von Sätzen, die Voltaire an anderer Stelle gebraucht hatte, wie z. B. durch den Ausfall gegen die Richter, »die in unseren Augen nichts anderes als Mörder im Amtskleid sind«, welcher Ausdruck sogar ursprünglich gegen die Richter im La Barre-Prozeß angewandt wurde, so daß sich Maupeou also nicht entblödete, Worte Voltaires zu benutzen, die, als sie geschrieben wurden, auf ihn selbst gemünzt waren.

Die Verbannung der Parlamentarier konnte Voltaires Herz nicht rühren. Er schrieb am 25. Februar 1771 an den Marquis de Florian: »Sind die, die einen La Barre ermordet haben, zu bedauern, weil sie nun auf dem Lande leben müssen? Ich habe siebzehn Jahr auf dem Lande gewohnt und habe doch niemanden ermordet.«

Natürlich verbreitete sich das Gerücht, daß Beccarias obenerwähnte Schrift über Verbrechen und Strafe gar nicht in Italien geschrieben worden war, sondern aus dem Französischen ins Italienische übersetzt, um dadurch für die französischen Humanitätsbestrebungen eine stärkere Unterstützung abzugeben. Beccaria hatte selbst in einem Briefe 1766 offen erklärt, daß er den französischen Philosophen alles verdankte, was er geworden war; besonders habe Helvetius' De l'Esprit Eindruck auf ihn gemacht. Er schrieb, wie man damals sagte, »französisch in italienischer Sprache«, und er machte in Frankreich solchen Eindruck, daß Roederer, Napoléons späterer Minister, in einem Briefe an Beccarias Tochter 1798 schreiben durfte, alle jüngeren Richter Frankreichs urteilen eher nach dem Buche ihres Vaters als nach den Gesetzbüchern, und das obgleich das Werk in Frankreich verboten worden war »wegen Mangels an Ehrfurcht vor den Gesetzen des Landes.«

Von großer Bedeutung für den Fortschritt war es, daß der Generaladvokat Antoine de Servan im Jahre 1766, erst siebenundzwanzig Jahr alt, eine Rede über die Rechtspflege gehalten und herausgegeben hatte, die Epoche machte. Sie war ganz von der Wirksamkeit Voltaires inspiriert und bereits im selben Jahr hatte Servan Voltaire in Ferney besucht, worauf sie in ständigem Briefwechsel blieben. Servan erfüllte jede Hoffnung, die Voltaire in ihn gesetzt hatte. In den Augen der übrigen Advokaten war das, was er forderte, die vollständige Umwälzung der alten Gesellschaftsordnung. Servan begnügte sich nämlich nicht damit, Folter und Todesstrafe zu verwerfen, sondern auch jede Strafe für Religionsvergehen; ja, er sprach seine Vorliebe für Geschworenengerichte aus. Anstatt zu strafen, kam es ihm darauf an, Verbrechen zu verhindern, und als das beste Mittel hierzu gab er die Erziehung an.

IX

Das neugebildete Parlament in Toulouse fällte am 25. November 1771 das endgültige Urteil im Falle Sirven. Das frühere Urteil über Sirven, das ihn 1769 nur hors de cour gesetzt hatte, wurde umgestoßen und der Angeklagte vollständig freigesprochen. Das gegen die verstorbene Madame Sirven in contumaciam ausgesprochene Urteil wurde aufgehoben und auch dieses durch ihre vollständige Freisprechung von der »falschen und verleumderischen Anklage des Mordes« abgelöst.

Voltaire konnte sich über den errungenen Sieg freuen. Er schrieb: »Man gebrauchte nur zwei Stunden, um diese Familie zum Tode zu verurteilen. Neun Jahre hat es erfordert, daß die Gerichte ihrer Unschuld Gerechtigkeit widerfahren ließen.« Vollkommen war die Gerechtigkeit jedoch nicht. Es wurde zwar die Beschlagnahmung des Vermögens Sirvens aufgehoben, aber der Schadenersatz – ein bescheidener von 20 000 Livres –, den er gefordert hatte, wurde abgelehnt, und was barock ist: man hielt daran fest, daß er die Kosten des ersten Prozesses, der zu seiner Verurteilung in contumaciam führte, bezahlen sollte.

Unmittelbar nach dem Staatsstreich hatte Maupeou Gelegenheit, einen Rechtsfall wieder aufzunehmen, der unter den alten Verhältnissen auf einfach verbrecherische Weise entschieden worden war. Dadurch erweckte er bei Verschiedenen die Hoffnung, daß die neue Form der Rechtspflege eine größere Gerechtigkeit zeitigen würde.

Das Ehepaar Montbailli wohnte im Juli 1770 in einem kleinen Haus in St. Omer, das der Mutter des Mannes gehörte, die eine Tabakfabrik besaß. Die junge Frau war ursprünglich Arbeiterin in der Fabrik gewesen. Das Verhältnis zwischen der Schwiegermutter und dieser Schwiegertochter war nicht gut, da diese der Alten zu arm und unansehnlich war, und eines Tages erwirkte die alte Frau, die eine starke Trinkerin war, eine gerichtliche Verfügung, nach der das junge Paar die Wohnung verlassen sollte. Der Sohn bemühte sich um eine Versöhnung mit der Mutter, die betrunken im Bett lag, und es gelang ihm auch, sie zu erreichen. Sie stand auf, plauderte am 27. Juli 1770 am Abend friedlich mit ihren Kindern, trank wieder tapfer und ging zu Bett, um ihren Rausch auszuschlafen.

Als am nächsten Morgen eine Näherin kam, um mit der Alten zu sprechen, bat der Sohn sie zu warten, bis die Mutter aufgestanden sei. Als er sie aber später wecken wollte, sah er zu seinem Schrecken, daß sie tot war. Alles deutet darauf hin, daß ein Schlaganfall sie getötet hat. Die Nachbarn kamen hinzu und versuchten zu trösten. Die Leiche wurde am 29. Juli in den Sarg gelegt und sollte begraben werden, als man plötzlich in St. Omer davon munkelte, daß die Kinder sicher die alte Frau umgebracht hätten, um nicht aus dem Haus gesetzt zu werden.

Das Ehepaar wurde darauf verhaftet, und obwohl sie jeder für sich in den getrennten Gefängnissen übereinstimmend aussagten, daß die Alte sich anders besonnen hatte, so daß sie von keiner Gefahr bedroht waren, und obgleich die übrigen Hausbewohner aussagten, daß es die ganze Nacht durch ganz ruhig gewesen wäre, stand doch das Gericht in St. Omer unter dem Druck der sogenannten öffentlichen Meinung, die, wie Voltaire sagt, in diesem Falle vom Pöbel gebildet wurde, und beide Eheleute wurden vorläufig im Gefängnis behalten. Der königliche Anwalt appellierte an den höheren Rat der Provinz Artois, der in Arras seinen Sitz hatte, und dieser Rat verurteilte sowohl den Mann wie die Frau zum Tode. Da Madame Montbailli jedoch schwanger war, wurde ihre Hinrichtung ausgesetzt.

Montbailli wurde nach St. Omer gebracht und sofort der schwersten Folter unterworfen, durch die er jedoch nichts bekannte, obgleich zwei Dominikanermönche ihm aufs schlimmste mit den Höllenstrafen drohten, wenn er seine Schuld verschwieg. Er weigerte sich auch bei der kirchlichen Beichte, sich schuldig zu bekennen. Als man ihm die rechte Hand abschlug, sagte er: »Diese Hand hat keinen Muttermord begangen.« Als man ihm die Glieder zerbrach und ihn aufs Rad flocht, hörte er nicht auf, seine Unschuld zu beteuern. Dann warf man ihn lebendig ins Feuer.

Es bestand ja noch eine Möglichkeit, die Frau zu befreien. Voltaire ließ sich von dem Advokaten Hue du Taillis die Akten des Falles zusenden und schrieb seine Arbeit La méprise d'Arras, zählte in der Einleitung alle kürzlich in Frankreich begangenen Justizmorde auf, wies darauf hin, daß Montbaillis Prozeß nur deshalb kein Aufsehen erregt habe, weil es sich um eine arme Familie aus dem gewöhnlichen Volk handle; er hoffte, daß man in Zukunft niemals wieder ähnliche Urteile ohne gewichtige Gründe fällen würde.

Der königliche Rat berücksichtigte seine Bestrebungen, gewährte das Gesuch um Revision, und da der Staatsstreich inzwischen vollzogen und das Gericht in Arras neu besetzt und umgebildet war, wurde Madame Montbailli freigesprochen und der arme Hingerichtete erhielt eine Rehabilitierung. Gleichzeitig richtete der Richter an alle Gerichtsärzte die Aufforderung, in Zukunft keinerlei Mittel, das ihnen die Wissenschaft in die Hand gab, unbenutzt zu lassen, um Todesursachen aufzuklären.

Als die Witwe nach St. Omer zurückkam, war die dumme und leicht bewegliche Volksstimme umgeschlagen, so daß ihre Rückkehr in die Stadt einem Triumphzug glich.

Voltaire gab nun seine zweite Flugschrift in dieser Sache heraus: Fragment sur le procès criminel de Montbailli, roué et brûlé vif à St. Omer en 1770 pour un prétendu parricide; et de sa femme condamnée à être brûlée vive, tous deux reconnus innocents. Second mémoire concernant cette malheureuse affaire.

X

Es konnte aussehen, als wäre es Maupeou gelungen, die ihm und seinen neuen Parlamenten so feindliche öffentliche Meinung zu seinen und ihren Gunsten zu wenden. Die Prinzen der Königsfamilie hatten sich auf die Länge nicht in Opposition zur Krone halten können. Die früheren Parlamentsherren hatten notwendigerweise ihren hochmütigen Widerstand fahren lassen, und viele von ihnen hatten um Aufnahme in die neuen Gerichte ersucht. Besonders wichtig war es, daß der Stand der Advokaten, der zuerst die Arbeit niedergelegt hatte, sich nun fügte. Voltaire, der es mit dem Kanzler hielt, war so zuversichtlich, daß er am 6. Januar 1771 in einem Briefe an Madame du Deffand seine bestimmte Erwartung aussprach, daß man in nur sechs Wochen über den ganzen Staatsstreich nicht mehr sprechen und sich an die neue Ordnung gewöhnt haben würde. Die neuen Parlamente zeigten jedoch hinsichtlich der Finanzbewilligung eine sie beschämende Fügsamkeit gegenüber der Macht der Krone.

Da geschah es, daß zwei ganz verschiedene Rechtsfälle, und zwar jeder an sich, die neue Rechtspflege in das ungünstigste Licht setzten und die öffentliche Meinung gegen die von Maupeou eingerichteten und von Voltaire verteidigten Gerichte erregten.

Der erste dieser Rechtsfälle hat insofern im Leben Voltaires eine Rolle gespielt, als er zugunsten des Angeklagten nicht weniger als zwölf größere und kleinere Schriften herausgegeben hat, die sämtlich gut geschriebene und scharfsinnige Eingaben sind, die er sich aber hätte sparen sollen, da die Angelegenheit, um die es sich dreht, wohl um viel Geld ging, aber übrigens nicht die Bohne wert war, genau wie der Mann, den im besten Lichte zu zeigen er sich anstrengte, wohl schlechte Kerle als Ankläger gegen sich hatte, sonst aber nicht viel mehr wert war als sie.

Voltaires Schriften in der Angelegenheit sind folgende:

Lettre à M. le marquis de Beccaria 1772. Essai sur la probabilité en fait de justice 1772. Déclaration de M. de Voltaire sur le Procès entre M. le comte de Morangiès et les Véron 1773. Réponse à l'écrit d'un avocat 1773. Déclaration de M. de Voltaire 1773. Précis du Procès de M. le comte de Morangiès 1773. Lettre de M. de Voltaire à MM. de la Noblesse de Gévaudan 1773. Seconde lettre aux mêmes 1773. Troisième lettre aux mêmes 1773. Quatrième lettre aux mêmes 1773. Fragment sur la Justice 1773.

Es ist heutzutage unmöglich, zu entscheiden, welche der beiden Parteien am meisten log; wahrscheinlich ist, daß sie beide gelogen haben; was aber tatsächlich vorgegangen ist, ist nicht aufzuklären. Das ist übrigens auch gleichgültig, da der Fall kein Interesse für die Menschheit bietet wie die übrigen, in die Voltaire eingriff.

In der Rue St. Jacques in Paris wohnten eine alte achtundachtzigjährige Pfandleiherin, die Witwe Véron und ihr Enkel François Dujonquai. Dieser war Dr. juris, betrieb das Pfandleihergeschäft, stand in dauernder Verbindung mit Pfandleihern und Wucherern und sparte nach eigener Aussage, um sich eine Stellung als Richter (!) zu kaufen, als Maupeou plötzlich die Käuflichkeit der Richterämter abschaffte. Am 28. September 1771 verklagte die Witwe Véron den vierundvierzigjährigen Brigadegeneral (maréchal de camp) Jean de Molette, Graf von Morangiès; sie hatte dem Grafen – gegen vier von ihm ausgestellte Wechsel – 300 000 Livres geliehen; nun aber fürchtete sie, daß er die Summe nicht zurückzahlen wolle, da er hatte verlauten lassen, daß er den Gegenwert der Wechsel überhaupt nicht bekommen habe, obgleich auf diesen ausdrücklich in der Handschrift des Grafen stand: Wert erhalten.

Die Witwe stellte deshalb den Antrag, bei dem Grafen eine Haussuchung vorzunehmen, um zu erfahren, ob sich die 300 000 Livres noch bei ihm vorfanden. Am 30. September teilte Morangiès der Polizei mit, daß er so unvorsichtig gewesen sei, Madame Véron die vier Wechsel zu überlassen, damit sie versuchte, ihm darauf Geld zu beschaffen; er habe jedoch keins bekommen; sie behauptete nun jedoch, daß er die genannte Summe schon erhalten hätte.

Der Polizeiinspektor Dupuis und der Polizeibeamte Desbrugnières erhielten den Fall zur Bearbeitung. Sie untersuchten zuerst die Verhältnisse der Witwe, fanden, daß sie ein paar elende Zimmer für 250 Francs jährliche Miete bewohnte, was es unwahrscheinlich machte, daß sie 300 000 Francs verleihen konnte. Der Enkel Dujonquai behauptete jedoch energisch, daß er dem Grafen am 23. September 12 425 Louisdore ins Haus gebracht habe, und zwar nicht mit einemmal in einem Wagen; sondern da der Graf verbergen wollte, daß er so viel Geld bei sich liegen hatte, hatte Dujonquai auf seinen Wunsch nicht weniger als dreizehnmal den Weg von seiner Wohnung zu der des Grafen zu Fuß zurückgelegt, wobei er diesem die zwölf ersten Male je tausend Louisdor in Rollen und das letzte Mal die 425 Louisdor gebracht hatte, die noch übrig waren.

Während des Verhörs bei dem Anwalt Lechauve des Châtelet-Gerichts machte Dujonquai dies alles geltend, aber nach seiner Behauptung sei der Polizeibeamte Desbrugnières dem deutlich verwirrten Grafen zu Hilfe gekommen, dadurch daß er ihm, Dujonquai, einen Faustschlag in die Herzgrube versetzt und so zu Boden geworfen habe. Der Polizist habe dann gerufen: »Du Elender, du willst 300 000 Livres besessen haben und hast nicht einmal ein reines Hemd an!«

Dujonquai behauptete, daß man sowohl ihm wie seiner Mutter, Madame Romain, gedroht habe, sie in Eisen legen zu lassen; er selbst hatte sofort Handfesseln anbekommen; die Mutter war so gepackt worden, daß sie blaue Flecken am Körper erhalten hatte, und der Polizist hatte ihr gedroht, ihr seinen Stock in den Mund zu stoßen. Darauf waren Mutter und Sohn getrennt worden, und man hatte jeden für sich fünf Stunden lang bearbeitet, um sie zu einem Geständnis zu bringen.

Am Abend waren sie darauf zum Parlamentsadvokaten Chesnon am Châtelet-Gericht geführt worden, bei dem das Verhör fortgesetzt wurde. Nachdem sie dort noch einige Zeit bei ihren früheren Behauptungen geblieben waren, hatten sie schließlich notgedrungen eine Erklärung unterschrieben, in der sie zugaben, daß Morangiès nur 1200 Livres bekommen hatte. Sie wurden darauf verhaftet und hatten im Gefängnis eine harte Behandlung zu erleiden. In Briefen, die sie von dort aus schrieben, räumten sie jedoch ebenfalls ein, daß Morangiès niemals den Gegenwert für seine Wechsel bekommen hätte.

Darauf faßten sie aber, man weiß nicht unter welchem Einfluß, wieder Mut. Sie zogen alles, was sie gestanden hatten, zurück und erklärten, daß ihr Bekenntnis ihnen durch Gewalt abgezwungen sei; sie hatten es nur unterschrieben, um von den Handeisen und anderen Quälereien freizukommen.

Die achtundachtzigjährige Frau starb während des Prozesses. Die Erklärungen der Tochter und des Enkels, wie sie vom Großvater, den sie als Bankier ausgaben, das bedeutende Vermögen geerbt hatten, von dem sie Darlehen gaben, klingen wie ein Roman. In dem augenscheinlich vom Enkel diktierten Testament der Großmutter wird das Vermögen auf eine halbe Million veranschlagt, das ihnen heimlich von späterhin verstorbenen Personen ins Haus gebracht worden sein soll usw.

Darüber, daß sie logen, konnte kein Zweifel sein.

Andererseits wurde während des Prozesses dargelegt, daß Morangiès ein professioneller Borger und Schwindler war, und besonders, daß er früher einmal geltend gemacht hatte, für einen ausgestellten Wechsel kein Geld erhalten zu haben, was damals nachweislich erlogen war. Außerdem war von dem Advokaten seiner Gegenpartei unwidersprochen behauptet worden, daß er nach dem Tode seiner Geliebten in deren Haus gegangen war und sich ungesetzlich ihren Schmuck angeeignet hatte.

Auf diese beiden Punkte der Anklageschrift machte Voltaire Morangiès aufmerksam, da sie seiner Ansicht nach eine Entgegnung erforderlich machten. Er drückte sich mit Vorsicht aus, aber man fühlt durch das höfliche Anheimstellen deutlich den Zweifel an der Ehrlichkeit des Grafen (Brief vom 6. Juli 1772).

XI

Fragt man sich, warum Voltaire, der doch seine Zeit nötig hatte, sich zum Verteidiger einer so üblen Person wie Morangiès aufwarf, dann lautet die Antwort, daß er anfangs natürlich keinerlei Zweifel an der Unschuld des Grafen hegte und den Eindruck hatte, daß ein anständiger und hochstehender Mann vom Pöbelpack überwältigt werden sollte. Der Hauptgrund war aber, daß die Familien der beiden Männer früher nahe verbunden waren. Der arme Voltaire war nun so alt, daß er des Grafen – Großmutter (die eine Freundin seiner Eltern gewesen war) gekannt hatte, und er betrachtete sich deshalb als der natürliche Verteidiger des dritten Gliedes des Geschlechtes.

Sich darüber klar zu werden, daß die Witwe Véron und ihr Enkel Dujonquai Lumpe waren, dazu gebrauchte Voltaire nicht lange Zeit. Wie die zwölf Verteidigungsschriften für Morangiès beweisen, ist es ihm erst allmählich aufgegangen, daß der Graf selbst kaum ein Haar besser war.

Ein erfahrener Geschäftsmann wie Voltaire mußte bei dem Leichtsinn eines 44jährigen Brigadegenerals stutzen, der eine schriftliche Erklärung, 300 000 Francs erhalten zu haben, von sich gab, wenn er tatsächlich nichts erhalten hatte. Schließlich sah er ein, daß es Morangiès Absicht gewesen war, Dujonquai um diese große Summe zu betrügen und ihn unter falschen Angaben dazu zu bewegen, sie ihm zu übergeben, wobei er wohl wußte, daß er niemals imstande sein würde, sie zurückzuzahlen. Der Graf war mit anderen Worten nichts anderes oder Besseres als ein betrogener Betrüger. (Voltaires Brief an D'Alembert vom 13. Juli und an d'Argental vom 28. August 1772.)

Während Voltaire in seinen veröffentlichten Verteidigungsschriften alle Erzählungen über die Mißhandlungen, denen Dujonquai durch Desbrugnières ausgesetzt gewesen sein soll, als reine Erdichtung ablehnte, gibt er in seinen Briefen zu, daß der Polizist für sein Verhalten den Pranger verdiente. Im Laufe des Prozesses wurde es ihm außerdem klar, daß, wenn auch Dujonquais Zeuge, der Kutscher Gilbert, ein ausgemachter Lügner war, Morangiès seinerseits nicht gezaudert hatte, falsche Zeugen vorzuführen.

Am 28. Mai 1773 fällte le bailli du palais das Urteil, daß Morangiès aus dem Adelsstande ausgestoßen, an den Pranger gestellt und auf Lebensdauer verbannt werden sollte. Er wurde zu verschiedenen Geldstrafen verurteilt, 10 000 Livres an den König, 20 000 an Dujonquai. Aber es wurde Berufung an das Parlament eingelegt, und da Voltaire die Sache dargestellt hatte, als wäre sie die des gesamten Adels, ergriffen alle, die gern zum Adel gerechnet werden wollten, für Morangiès Partei.

Dieser Adel war ihm bereits in erster Instanz zugute gekommen. Wäre er bürgerlich gewesen, so würde er gewiß eine viel härtere Strafe erhalten haben. Vor dem Parlament stand seine Sache sehr zweifelhaft. Da benutzte jedoch der Präsident Château-Giron eine List, um ihn zu retten, indem er trotz der Rechtsordnung zuerst den Fall des Kutschers Gilbert vornahm. Da dieser zur Galeere verurteilt werden sollte, mußten sich alle geistlichen Richter, die keine Stimme bei peines afflictives hatten, erheben und den Saal verlassen. Diese würden wie ein Mann gegen Morangiès gestimmt haben. Nun wurde während ihrer Abwesenheit sein Fall vorgenommen, und infolgedessen wurde der Graf völlig freigesprochen.

Dieser Freispruch hatte für das Ansehen des Parlaments und für die neue Ordnung eine vernichtende Wirkung. Er wurde zu einem der ersten Signalschüsse, die die kommende große Revolution ankündigten.

Hatten die tüchtigen Advokaten der Gegenseite bereits 16 Schriften gegen Morangiès herausgegeben, so gab der Freispruch erneuten Anlaß zu einem wahren Sturm in der Literatur.

Dieser ging auch über Voltaire hin. Einer der begabten Advokaten, die die Lumpenhaftigkeit des Grafen behauptet hatten, setzte den Respekt, mit dem Voltaire in den späteren Jahren durchgehend behandelt worden war, ganz beiseite; er ließ ihn sein Alter hören, versicherte, daß man in den letzten zehn Jahren bereits gewünscht hätte, er möchte nun schweigen, und führte gegen ihn die bekannten Zeilen aus der ersten Epistel des Horaz an:

Solve senescentem mature sanus equum, ne
Peccet ad extremum ridendus …

Brachte das Auftreten für Morangiès Voltaire also keine Beliebtheit beim Volke, so brachte es ihm ebensowenig Dank von dem Schlingel, für den er sich eingesetzt hatte. Erst mehrere Wochen nach seinem Freispruche schrieb Morangiès Voltaire einen kurzen und kühlen Dankesbrief, der diesen so kränkte, daß er 1778 den Grafen nicht empfangen wollte, als dieser sich in Paris bei ihm als Besucher melden ließ.

Was jedoch die Hauptsache ist: in der großen Bevölkerung breitete sich die Überzeugung aus, daß das neue Parlament nicht um ein Haar besser als das alte war, daß der gewöhnliche Mann auch nicht vor ihm gegen einen Adligen zu seinem Recht kommen konnte, und daß Morangiès freigesprochen worden war, obgleich er das war, was man ihm im Justizpalast während der ersten Instanz des Prozesses zugerufen hatte: Betrüger! Dieb!

XII

Der nächste Rechtsfall, der die neue Staatsform in Frankreich erschütterte, so daß die ganze Gesellschaftsordnung ins Wanken geriet, war von anderem Wert und Gewicht, und der Angeklagte jetzt war kein zufälliger, unbedeutender Schwindler, sondern der noch nicht erkannte, viel weniger anerkannte Genius des Augenblickes, der erste geistige Erbe Voltaires, im höheren Sinne sein einziger Sohn, Pierre Augustin Caron de Beaumarchais. Er wurde es, der die neue Rechtsordnung, von der Voltaire soviel erwartet hatte, erschütterte.

Vom Jahre 1764 an hatte Beaumarchais, der damals 32 Jahre alt war, Berührung mit Voltaire gesucht. Leider sind seine Briefe verloren gegangen, und da Voltaire seinerseits über diese frühe Verbindung zwischen ihnen nichts aufgezeichnet hat, kennen wir sie nur aus einem Briefe, den Beaumarchais damals aus Madrid an einen Freund geschrieben hat:

Ich habe einen Brief von Herrn de Voltaire bekommen. Er wünscht mir scherzhaft Glück zu meinen zweiunddreißig Zähnen, meiner lustigen Philosophie und meiner Jugend. Sein Brief ist sehr schön; aber meiner erforderte in einem Grade diese Antwort, daß ich glaube, ich könnte sie selbst geschrieben haben. Er wünscht mehrere Angaben über das Land, in dem ich bin. Ich möchte ihm am liebsten antworten, wie Herr de Caro gestern bei Herrn de Grimaldi der Frau Marquise von Arissa antwortete. Sie fragte ihn, was er von Spanien hielte? – »Madame,« sagte er, »ich bitte Sie, mit der Antwort warten zu dürfen, bis ich außerhalb des Landes bin; ich bin zu aufrichtig und zu höflich, bei einem Minister des Königs die Antwort zu geben.«

Voltaire scheint an Spaniens geistiges Mündigwerden geglaubt zu haben. In einem Brief an D'Alembert vom 25. März 1765 sagt er, daß es auf gutem Wege sei, das Joch des Fanatismus und der Unwissenheit abzuwerfen. Eine schriftliche Äußerung von Beaumarchais an den Herzog von La Vallière zeigt, daß es sich anders verhielt:

Mit den stärksten Eindruck machte auf mich in dem prachtvollen Kloster (San Lorenzo im Escurial) das Verdammungsurteil über fast alle unsere modernen Philosophen, das in der Nähe des Chors der Mönche öffentlich angeschlagen war. Dort werden die verbotenen Werke und ihre Verfasser genannt, und mit Vorliebe Ihr Freund, Voltaire, von dem man nicht nur die Werke, die er geschaffen hat, verflucht, sondern auch die, die er in Zukunft schaffen wird, da nur Böses aus einer so verabscheuenswerten Feder fließen kann. Ich habe ihm aus Bayonne geschrieben, um die Aufträge auszurichten, die mir der Herzog von Laval und Sie, Herr Herzog, gaben. Er hat drei Monate verstreichen lassen, ohne mir zu antworten und hat die Antwort schließlich nach Versailles geschickt, da er annahm, ich wäre zurück, und, wie er sagte, aus Rücksicht, um mich nicht mit der Inquisition zu verfeinden, wenn ich in Spanien einen Brief von ihm bekäme; durch einen Zufall hat mich der Brief aber doch hier erreicht.

Durch die Fügung eines wunderlichen Schicksals kam Voltaire, der vor jedem anderen dazu befähigt war, Beaumarchais sofort zu verstehen und zu schätzen, in die peinliche Lage, daß er sich erst bedenken wollte, bevor er ihm für die ihm zugeschickte geistreiche und überlegene Selbstverteidigungsschrift dankte. Das lag daran, daß der Abscheu Voltaires vor den Parlamenten in ihrer früheren Gestalt, ihn naturnotwendig veranlaßt hatte, die Schaffung der neuen zu unterstützen. Aber gerade gegen das neue Parlament hatte Beaumarchais sich wenden müssen. Und zwar mit einer Wucht und einem Erfolg in seinem Rechtsfall gegen Goëzman, daß in Paris das Wortspiel umlief: Louis Quinze hat das alte Parlament, quinze Louis haben das neue gestürzt. (Es waren die fünfzehn Louisdore, die Madame Goëzman von Beaumarchais empfangen und behalten hatte.)

Man darf aus dieser Zurückhaltung Voltaires gegenüber dem so kräftig auftretenden jüngeren Genie nicht auf eine Kälte bei ihm gegen Beaumarchais schließen. Er beneidete ihn gewißlich nicht um seine Fähigkeiten, über die er sich freute, ja jubelte, sondern um das Recht, in Paris zu sein, von dem er selbst ausgeschlossen war. Darum auch in dem Briefe an Richelieu (vom 11. Juli 1770) diese Worte: »Das ist komisch, daß ein Uhrmacherjunge, gegen den ein Haftbefehl verhängt ist, in Paris sein kann und ich nicht.« An den Marquis de Florian (der eine seiner Nichten geheiratet hatte) schreibt er am 3. Januar 1774: »Beaumarchais' Memoiren (Verteidigungsschriften) sind von allem, was ich gelesen habe, das Stärkste, Kühnste, Interessanteste, Lachen erregend und für die Gegner beschämend. Er schlägt sich mit zehn oder zwölf Personen auf einmal und schlägt sie zu Boden, wie Harlekin, wenn er wild wird, eine ganze Nachtwächterpatrouille umwirft.«

Voltaire wartet mit Spannung auf jede neue Nummer dieser Memoranda, die ja auch auf Goethe einen so tiefen Eindruck machten ( Clavigo). Das vierte Memorandum, das Goethes Phantasie erregte, erscheint, und Voltaire schreibt: »Ich habe Beaumarchais' viertes Memorandum gelesen, ich bin noch ganz bewegt, ganz erfüllt davon, ganz erstaunt. Etwas Ähnliches hat man in einem regulären Prozeß noch nicht gesehen.«

Er faßt denn auch sofort die beste Meinung vom Verfasser, und als die Gegenpartei, wie wir sofort sehen werden, mit verschiedenen groben Verleumdungen antwortete, besonders mit der, Beaumarchais sollte drei Frauen vergiftet haben, weist Voltaire dies ohne einen Augenblick zu schwanken zurück: Niemand könne ihm einreden, daß ein so aufgeweckter und witziger Mann ein Giftmischer sei (Brief an d'Argental).

Jeder Brief, den Voltaire von Ferney sandte, lief sofort nach der Ankunft durch Paris und wurde so bekannt, wie heutzutage ein in vielen tausend Exemplaren gedruckter Zeitungsartikel. Eines Abends, als Beaumarchais' Eugénie im Théâtre Français aufgeführt wurde, sprach sich im Parkett ein Herr mit lauter Stimme nicht nur über die Schwächen des Stückes sehr scharf aus, sondern auch über die Verbrechen des Verfassers. Er erzählte u. a., daß er am selben Tage beim Grafen d'Argental mit Erstaunen einen Brief habe verlesen hören, in dem Voltaire – man wußte nicht recht warum – behaupten wollte, daß dieser Beaumarchais nicht seine drei Frauen vergiftet habe. »Aber,« schloß er, »das ist eine Tatsache, die die Herren Parlamentsmitglieder mit Bestimmtheit kennen.«

Der, an den er die Rede zuletzt gerichtet hatte, erhob sich von seinem Platz im Parkett und sagte kaltblütig:

Mein Herr, es ist wahr, daß dieser Schurke seine drei Frauen vergiftet hat, obgleich er nur zweimal verheiratet gewesen ist. Im Parlament Maupeous weiß man außerdem, daß er seinen Schwiegervater als Ragout gegessen hat, nachdem er seine Mutter zwischen zwei Stück Butterbrot zerquetscht hat, und ich weiß das um so besser, als ich selbst dieser Beaumarchais bin. Ich würde Sie auf der Stelle verhaften lassen, da ich eine ganze Anzahl Zeugen für ihre Worte habe, wenn ich an Ihrer verwirrten Miene nicht sähe, daß Sie keiner der hinterlistigen Burschen sind, die derartige Scheußlichkeiten erfinden, sondern einer von den Blödianen, die man benutzt, um sie zu verbreiten – übrigens mit nicht geringer Gefahr für Ihre Person.

XIII

Der Ursprung zu dem Beaumarchaisprozeß, der den Haß gegen den Kanzler zur Flamme entfachte, war der folgende ganz unpolitische:

Pâris-Duverney, der dritte der vier in dem Vorhergegangenen so oft erwähnten Brüder, war am 17. Juli 1770 gestorben. Beaumarchais hatte ihm den großen Dienst erwiesen, Ludwig den Fünfzehnten zu bewegen, die von ihm und Madame de Pompadour errichtete Militärschule zu besuchen. Dafür hatte der Bankier Beaumarchais' Glück machen wollen; er hatte sich seiner angenommen und hatte ihm für seine vielen Unternehmungen und Spekulationen großen Kredit gegeben.

Beaumarchais besaß darüber ein unzweifelhaft von Pâris-Duverney unterzeichnetes Dokument, das einen Überblick gab über die verwickelten Geschäfte, die zwischen dem großen Bankier und dem jungen Geschäftsmann stattgefunden hatten, und das einen Saldo von 15 000 Livres zugunsten Beaumarchais' auswies. Außerdem hatte sich aber Pâris-Duverney in diesem Aktenstück verpflichtet, dem zukünftigen Dramatiker ein zinsfreies Darlehen von 75 000 Livres auf acht Jahre zu geben.

Der Graf de la Blache, der der Universalerbe des Bankiers war, erkannte zwar an, daß die Unterschrift echt war, behauptete aber, das Blatt wäre leer gewesen und Beaumarchais hätte es in betrügerischer Weise ausgefüllt, wollte deshalb weder das Darlehen geben noch die Summe bezahlen, die Beaumarchais gut hatte. Er berief sich darauf, daß das Dokument in zwei Exemplaren ausgefertigt sein sollte, daß das andere Exemplar unter Duverneys Papieren aber nicht zu finden war. Wahrscheinlich hatte der Graf selbst es verbrannt.

Da Beaumarchais außer seinen sonstigen Würden und Ämtern auch ein Amt im königlichen Hofhalt hatte, sollte das Urteil gegen ihn in erster Instanz von les requêtes de l'hôtel gefällt werden. Der Graf tat alles, um les maîtres des requêtes gegen ihn aufzuhetzen. Nichtsdestoweniger wurde sein Dokument am 22. Februar 1772 für gültig und echt erklärt.

La Blache legte Berufung bei der Grand'chambre des Pariser Parlaments ein, wo der Prozeß im März 1773 verhandelt wurde.

Zum Schaden für Beaumarchais hatte der Minister Graf Saint-Florentin ihn gerade wegen eines unseligen Streits, in den er mit dem Herzog von Chaulnes anläßlich eines Liebesverhältnisses geraten war, ins Gefängnis werfen lassen. Diese Verhaftung war um so ungerechter, als er wegen derselben Sache mit dem Herzog von den Marschällen von Frankreich, vor deren Gericht ein Streit zwischen Edelleuten gehörte, freigesprochen worden war. Durch die willkürliche Einkerkerung wurde er verhindert, seinen Prozeß vor dem Parlament persönlich zu führen.

Dadurch hatte der Graf de la Blache Gelegenheit, Beaumarchais rücksichtslos zu verleumden und das oben erwähnte Gerücht aufzubringen. Er sollte nicht nur ein Fälscher, sondern, wie wir gesehen haben, auch ein Giftmörder sein.

Auf seine Anfrage an den Minister, warum er verhaftet worden war, gab man ihm keine Antwort. Er sah sich deshalb genötigt um die Erlaubnis einzukommen, das Gefängnis mehrfach zu verlassen, um nach französischer Sitte seine Richter zu besuchen. Er erhielt die Erlaubnis, doch sollte er stets von einem Polizisten begleitet sein.

Am 6. April 1773 hob das Parlament das zu seinen Gunsten gefällte Urteil vom 22. Februar 1772 auf, erklärte das von Duverney unterschriebene Dokument für ungültig, also für gefälscht, und verurteilte Beaumarchais zur Bezahlung einer Geldstrafe, die weit überstieg, was er überhaupt besaß.

Als er im Mai als ein in Grund und Boden ruinierter Mann aus dem Gefängnis entlassen wurde, drohte ihm noch ein dritter Prozeß, dessen unglücklicher Ausgang für ihn der wahre Untergang gewesen wäre, die Galeerenstrafe, und bei dem es für ihn also um Tod oder Leben ging.

XIV

Da er Erlaubnis erhalten hatte, seinen Richtern Besuche abzustatten, war es für ihn von besonderer Wichtigkeit, mit dem Richter zu sprechen, der über seinen Prozeß zu referieren hatte. Das war der Parlamentsratsherr Louis Goëzman, der in zweiter Ehe mit einer jungen hübschen Frau verheiratet war, die sich ohne Scheu in Gegenwart von Zeugen gern vernehmen ließ, daß ein freigebiger Klient, dessen Sache gut war und der nichts Unrechtes verlangte, ihr Feingefühl nicht durch ein Geschenk verletzte; sie behauptete, daß sie ja unmöglich mit dem Gehalt ihres Mannes allein auskommen konnte und daß sie die Kunst verstand, ein Huhn zu rupfen, ohne daß es schrie.

Goëzmans Verleger, der Buchhändler Lejay, der die Frau öfter so hatte sprechen hören und erfahren hatte, daß Beaumarchais verzweifelt war und wieder und wieder seinen Richter vergebens aufgesucht hatte, gab denn durch einen gemeinschaftlichen Bekannten Beaumarchais den Wink, daß es, um sich Goëzmans »Liebe zur Gerechtigkeit« zu sichern kein anderes Mittel gab, als der jungen Frau eine Aufmerksamkeit zu erweisen, die in der Regel auf hundert Louisdor veranschlagt wurde. Diese erhielt Lejay von Beaumarchais zur Weiterbesorgung, und sie wurden Madame Goëzman übergeben. Trotzdem erreichte der Angeklagte nur mit großer Mühe eine ganz kurze Audienz.

Um zu einer zweiten und längeren Unterredung vorgelassen zu werden, mußte sich Beaumarchais von neuem an die Frau des Ratsherrn wenden, die diesmal eine diamantenbesetzte Uhr zum Werte von weiteren hundert Louisdor forderte und erhielt, dazu fünfzehn Louisdore für »den Sekretär ihres Mannes«. Doch hatte sie Lejay versichern lassen, wenn keine erneute Audienz gewährt wurde, sollte Beaumarchais sowohl die hundert Louisdor wie die Uhr zurückbekommen.

Da die zweite Audienz verweigert wurde und da sich Goëzman vor dem Parlament nur zu Gunsten des Grafen de la Blache aussprach, wurden diese Geschenke nach der Verabredung zurückgegeben; nur die fünfzehn Louisdor für den Sekretär wurden zurückgehalten.

Diese fünfzehn verlangte Beaumarchais jedoch auch zurück, da er bereits früher aus eigenem Antrieb dem Sekretär zehn Louisdor gegeben hatte und nun von ihm erfuhr, daß er von den fünfzehn keinen einzigen gesehen.

Madame Goëzman schlug es nichtsdestoweniger ab, das Geld herauszugeben, und Beaumarchais beschuldigte sie in einem Briefe ohne weiteres, sie sich angeeignet zu haben. Der Schritt war kühn; aber Beaumarchais setzte nun alles auf die eine Karte. Er hoffte, die Wahrscheinlichkeit dartun zu können, daß Goëzman von La Blache bestochen worden war, und sah eine Möglichkeit, auf diesem Wege die Aufhebung des Urteils zu erreichen.

Madame Goëzman leugnete, die fünfzehn Louisdor überhaupt erhalten zu haben: der Angeklagte hätte ihr vergeblich Geld angeboten, um dadurch ihres Mannes Stimme für sich zu gewinnen, aber er war mit Spott abgewiesen worden.

Beaumarchais konnte sich jetzt nur dadurch retten, daß er an die öffentliche Meinung appellierte und darlegte, wie die Dinge sich wirklich ereignet hatten, was er denn auch auf glänzende Weise tat.

Selbst wenn Goëzman im Beginn nichts von der Handlungsweise seiner Frau gewußt hatte, mußten ihm doch sehr schnell die Augen darüber aufgegangen sein. Nun fühlte er seine Existenz als Richter und Ehrenmann bedroht, und ließ deshalb kein Mittel unbenutzt. Zuerst wandte er sich an die Polizei; da sich aber der Leiter der Polizei weigerte, eine lettre de cachet gegen Beaumarchais auszustellen, gewann er den Buchhändler Lejay zu der ehrlosen Veröffentlichung eines von Goëzman selbst verfaßten Berichts, wie der Angeklagte Lejay angefleht habe, sich an Madame Goëzman mit der Bitte zu wenden, sich durch Geschenke bestechen zu lassen, was sie sofort entrüstet abgewiesen hatte.

Auf Grund dieser falschen Zeugenaussage zeigte Goëzman in einer Eingabe an das Parlament nun Beaumarchais wegen versuchter Bestechung und Verleumdung an. Daß seine Frau die fünfzehn Louisdor behalten hatte, verschwieg er natürlich; aber gleichzeitig versuchte er, die Geschichte dieser fünfzehn Goldstücke aus der Welt zu schaffen. Er sandte deshalb seinen Freund François Marin, den Vertrauensmann des Ministeriums für Buchwesen und königlichen Zensor (secrétaire de la librairie et censeur royal) zu Beaumarchais, um diesen zu überreden, von den elenden fünfzehn Louisdor, auf die es ja nicht ankam, kein Wesen mehr zu machen.

Beaumarchais war klug genug, die Frage um die geringe Summe von 360 Francs nicht fallen zu lassen. Er sah wohl ein, daß er mit dieser Frage selbst stand oder fiel. Seine Stellung war von vornherein elend genug, da das Urteil im La Blache-Prozeß für ihn entehrend gewesen war. Die Richter würden natürlich außerdem alles tun, um ihren Kollegen zu retten. Beaumarchais konnte nicht einmal einen Advokaten finden, der seine Sache freiwillig führen wollte, so daß der Gerichtspräsident gezwungen war, einen zu bezeichnen. Da Beaumarchais also kein Vertrauen zum Parlament haben konnte, setzte er sein ganzes Genie daran, seinen Fall dem Urteil des lesenden Publikums zu unterbreiten, und hier gewann er den Prozeß so glänzend, daß er der erklärte Liebling des französischen Volkes wurde.

XV

Es ist nötig, hier einige Worte über den königlichen Zensor Marin einzufügen, den Goëzman als Werkzeug zu gebrauchen versuchte, und den der Prozeß gründlich bloßstellte; denn dieser Mann stand lange in freundschaftlicher Verbindung mit Voltaire, der ihm vertraute, ihn mit zu den »Brüdern« zählte, danach strebte, ihm große Dienste zu leisten, und dem erst ungefähr um diese Zeit die Augen für seine Verlogenheit aufgingen, obschon er nichts davon merken ließ.

Voltaire durfte mit einem Zensor nicht auf gespanntem Fuße stehen, falls es sich vermeiden ließ, und er hatte Gründe, sich auf Marin zu verlassen. Dieser benahm sich ihm gegenüber in vollendeter Heuchelei so, daß er annehmen mußte, in ihm einen Bundesgenossen zu haben.

Wie vertraulich der Ton zwischen ihnen war und welche freie Sprache Marin dem Patriarchen gegenüber führte, zeigt z. B. das folgende Bruchstück aus einem Brief.

Warum muß ich Sie immer wieder schelten? Warum zeigen Sie mir gegenüber eine ganz unangebrachte Geheimkrämerei? In größter Heimlichkeit senden Sie eine Tragödie an den Marquis de Thibouville; dieses Geheimnis wird von ihm Herrn d'Argental, Herrn Pont de Vèles (Veyle), Herrn de Duras, dem Herrn Herzog von Aumont, Le Kain, den Schauspielern mitgeteilt, und nun ist es also unterwegs. Das Stück wird zum Druck gegeben; der Unterzensor, der Buchhändler, der Herausgeber verraten das Geheimnis der anderen Hälfte von Paris. Zuletzt kommt man zu mir, denn man gebraucht mich, und so bin ich die 1145ste Person in Paris, die erfährt, daß es eine Tragödie Die Gesetze des Minos gibt, und daß diese Tragödie von Herrn de Voltaire ist; daß sie vom Theater angenommen ist; daß sie gespielt werden soll; daß sie dem Sekretariat für das Buchwesen vorgelegt ist, daß dieses einen Zensor ernannt hat, der es für unmöglich erklärt, den Druck zu gestatten. Die Verwaltung erschrickt und schickt mir das Stück mit Anmerkungen, mit Streichungen, und nun habe ich die Aufgabe, wiedergutzumachen, was andere verdorben haben.

Wie man sieht, ist der Ton überaus derb, biedermannartig, vorwurfsvoll, scheinbar mit Grund. Das war jedoch nur ein Kniff, Voltaire irrezuführen.

In gewisser Hinsicht war ja Ferney für Voltaire dauernd geblieben, was Tomi für den verbannten Ovid gewesen war. Es verging kaum ein Tag, an dem er sich nicht grämte, daß ihm der Zugang zu Frankreich, zu Paris verwehrt war. Von den Gesetzen des Minos hatte er bestimmt gehofft, daß die Erlaubnis, sich auf französischem Boden frei zu bewegen, die Folge sein müsse, sobald das Stück gespielt und gedruckt wurde. Wenn er mit Wärme die Annäherung der Madame du Barry vergalt, dann deshalb, weil er danach darauf rechnen durfte, daß die Favoritin den letzten Widerstand des Königs überwinden würde. Pflegte er die Freundschaft mit Marin, le monstre Marin [Seeungeheuer], wie ihn die Damen nannten, so hatte dies den tieferen Grund, daß ohne ihn sein Schauspiel nicht aufgeführt werden konnte, und von dessen Erfolg, von dem Publikum, das es gewann, von der Stütze, die ganz besonders Die Gesetze des Minos den augenblicklichen Machthabern gewährte, hing die Erfüllung seines Wunsches ab, Paris wiedersehen zu dürfen.

Was hatte er nicht für Marin getan! Als er seine Tragödie Les Guèbres, diese warm empfundene Eingabe für die Toleranz, vollendet hatte, schrieb er an d'Argental am 23. Mai 1769: »Die Pariser Ausgabe muß Paris zugute kommen, die Einnahmen sollen redlich geteilt werden zwischen Herrn Marin und le Kain«. Als in der Académie française 1770 ein Platz frei wurde, setzte er – so erstaunlich es klingen mag – seinen ganzen Einfluß dafür ein, daß Marin gewählt wurde, der fast nichts geleistet hatte. Er schrieb an D'Alembert (19. Dezember 1770): »Wenn man keinen Bischof oder Straßenfeger nehmen will, sondern einen Literaten, dann scheint mir, muß man einen nehmen, der Literatur und Akademie nutzen kann. Und diese Aufgabe zu erfüllen, dürfte keiner geeigneter sein als Herr Marin«. Er wurde trotzdem nicht gewählt; die Ungerechtigkeit, ihn den übrigen Bewerbern vorzuziehen, wäre zu groß gewesen.

Nun aber stellte es sich heraus, daß der Grund, warum die Aufführung von Les Lois de Minos in Wirklichkeit scheiterte, nämlich die Raubausgabe mit Umdichtungen und zahlreichen gefälschten Stellen, die der Buchhändler Valade heimlich veröffentlicht hatte, bei Marin lag, der vor jedem anderen im Besitz des Manuskriptes gewesen war und aus Geldgier diese Ausgabe selbst veranstaltet hatte.

Voltaire war außerstande gewesen, zu begreifen, wie das Manuskript zu dem Buchhändler-Piraten hatte kommen können, hatte seine besten, verläßlichsten Freunde in Verdacht gehabt, Le Kain, Thibouville, sogar d'Argental. Und dann war es der oberste Zensor selbst, der seine Stellung benutzte, um ihn zu begaunern, und der noch dazu die Aufführung unmöglich machte und die Hoffnung zerstörte, die Voltaire daran geknüpft hatte, die Hoffnung, die von vornherein nur so schwer gedeihen konnte gegenüber dem bekannten Abscheu, den Ludwig der Fünfzehnte aus tief religiösen Gründen gegen ihn hegte, und der sich als unüberwindlich herausstellte.

XVI

Das Bedeutsame der vier Mémoires, die Beaumarchais aus Anlaß seines Prozesses (1774-1778) herausgab, lag nicht darin, daß sie hohe und würdevolle Beamte wie Marin und Goëzman mit Lächerlichkeit bedeckten und unmöglich machten, sondern darin, daß der zukünftige Dichter Figaros hier die entscheidende Frage erhob, ob der einzelne Bürger, wenn er ohne mächtige Beschützer war, wehrlos der Willkür und der Parteilichkeit der Gerichte ausgeliefert sei. Und er würdigte die Frage, ob die neuen Parlamente besser waren als die alten, kaum einer Antwort. Beaumarchais enthüllte, wie es Voltaire vor ihm getan hatte, die Kniffe und Ränke, aus denen das Rechtswesen bestand, und er erschütterte – wie Voltaire vor ihm – die Tyrannei, unter der die Bevölkerung litt. Das Parlament war in seinem Hochmut so unvorsichtig gewesen, sich nicht die Möglichkeit zu denken, daß unter denen, die es mit Füßen trat, ein Genie sein konnte, das imstande war, Rache zu nehmen und die Machthaber zu stürzen, wie hoch sie auch standen.

Zum erstenmal enthüllte in Beaumarchais' Mémoires ein Angeklagter die Mysterien der heimlichen Untersuchung und erzählte dem großen Publikum alles, was ihm passiert war. Die Geschicklichkeit des späteren Komödiendichters war jedoch so groß, daß es unmöglich war, ihn zu verhaften oder für den Hohn zu bestrafen, mit dem er seine Richter überhäufte. Anscheinend war er von größter Ehrfurcht für sie erfüllt. Kniend verteilte er mit einer Kunst und Geschwindigkeit, die seine Schläge unsichtbar machte, solche Boxerstöße, daß die Getroffenen hinstürzten.

Er wies unter anderem von diesen Männern, die ihn des Giftmords an seinen Ehefrauen hatten beschuldigen lassen, nach, daß der eine, Goëzman, ein Fälscher war, der, um seine Vaterschaft an einem unehelichen Kind leugnen zu können, einen Taufschein gefälscht hatte; daß der andere, Marin, der Beaumarchais in eine vernichtende Falle hatte locken wollen, in seiner Amtsstellung der frecheste Betrüger war. Es war seine Aufgabe, Flugschriften, die Maupeou und seinen Staatsstreich verteidigten, verfassen und verbreiten zu lassen; nichtsdestoweniger ließ er, wenn er ein Geschäft für sich dabei sah, gerade Flugschriften gegen den Kanzler verkaufen. Er ließ häufig einen armen Kolporteur, der solche Schriften herumtrug, auf die Galeeren schicken, zog aber selbst Vorteil daraus, daß er beschlagnahmte politische oder philosophische Bücher heimlich verkaufte.

Im Anfang zeigte sich Voltaire wegen seiner Stellung zu Maupeou und seinen neuen Parlamenten und wegen seines guten Verhältnisses zu Marin etwas zurückhaltend in seinen schriftlichen Äußerungen über Beaumarchais. Ja, er dankte ihm, wie erwähnt, nicht einmal für die Übersendung seiner Memoranda, damit ihm Marin nicht den Briefwechsel mit einem seiner Feinde vorwerfen konnte. Wahrlich eine überflüssige Rücksicht! Doch bereits nach Veröffentlichung des zweiten Memorandums schrieb Voltaire: »Welch ein Mensch! Er vereint alles in sich: Geist, Ernst, Verstand, Humor, Energie. Er versteht es zu rühren. Kurz gesagt: jeder ungekünstelte Vortrag gelingt ihm. Er vernichtet seine Gegner und jagt seine Richter; ich verzeihe ihm alle seine Unvorsichtigkeiten und all' seine Heftigkeit.« Und nach dem vierten Memorandum schreibt Voltaire am 26. Februar 1774 an den Marquis de Florian: »Es gibt keine lustigere Komödie, keine Tragödie, die stärker ergreift, keine besser erzählte Geschichte … Goëzman ist in den Kot gezogen; aber Marin steckt noch tiefer drin.«

Beaumarchais war fest entschlossen, Selbstmord zu begehen, falls ihn das Parlament zu der Strafe verurteilte, die zu erwarten war, der Galeere. Das Parlament konnte ihn nämlich nach eigenem Gutachten zu einer der folgenden Strafen verurteilen: Verweis, entehrender Verweis, Geldstrafe, Pranger, Brandmarkung, lebenslänglicher Aufenthalt auf der Ruderbank einer Galeere. Die Erbitterung der Parlamentsräte war so groß, daß sie ihn am liebsten zur härtesten Strafe verurteilt hätten. Aber sie waren genötigt, die deutlich ausgesprochene öffentliche Meinung in Betracht zu ziehen.

Man entschloß sich denn, Beaumarchais mit einem »entehrenden Verweis« zu bestrafen, was ihn ehrlos machte, so daß er nicht nur seine Ämter und Würden, sondern auch alle bürgerlichen Rechte verlor. Seine vier Memoranda sollten »wegen ihres frechen und anstößigen Tones, der den Richterstand als Ganzes und einzelne seiner Mitglieder im besonderen beleidigte«, vom Henker zu Füßen der großen Treppe des Justizpalastes zerrissen und auf den Scheiterhaufen geworfen werden.

Jedoch das Ansehen des Gerichts war so gesunken, daß man zwar die Bücher verbrannte, es aber nicht wagte, das Urteil gegen Beaumarchais selbst zu vollstrecken. Er wurde weder verhaftet noch der Schande unterworfen, die er nach dem Gesetz zu erleiden hatte, kniend den über ihn ausgesprochenen Verweis (blâme) anzuhören. Als die Anwesenden im Parlamentssaal sein Urteil verkünden hörten, spien sie auf die Richter und gingen ihnen so zu Leibe, daß diese auf heimlichen Wegen aus dem Palast flüchten mußten, um sich der Raserei der Bevölkerung zu entziehen.

Der Herzog von Chartres gab Beaumarchais ein glänzendes Fest.

Der Prinz von Conti, Abkömmling des großen Condé, der, seit wir ihn im Lager von Philippsburg trafen, in Italien befehligt, sich den Übergang über die Alpen erzwungen, Château-Dauphin eingenommen, die Schlacht bei Coni gewonnen und die damals österreichische Festung Mons erobert hatte, über den Voltaire 1741 geschrieben hatte:

Conti, qu'on censurait et que l'univers loue,
Est un autre Annibal qui n'a point de Capoue.

– dieser Prinz schrieb an Beaumarchais: »Ich glaube, aus hinreichend guter Familie zu sein, um Frankreich ein Beispiel dafür zu geben, wie man einen großen Bürger ehren soll«, und er lud den zukünftigen Dichter des Barbiers und Figaros, den ersten Herausgeber der Gesammelten Werke Voltaires ein, um ihn in einer festlich gekleideten Gesellschaft zu ehren.

XVII

Voltaire stand nun in den Achtzigern; aber niemals war er tätiger gewesen, niemals hatte er mehr Unternehmungen vorgehabt. Seine Geisteskraft war durch die Jahre nicht nur nicht geschwächt worden, sondern sie hatte sich niemals als so mächtig erwiesen wie jetzt. Es wirkt wie eine Erinnerung an Voltaires Jugend, wenn Friedrich, den im Laufe der Jahre immer neue Anfälle der Liebe und Bewunderung für den Abgott seiner jungen Jahre ergriffen, ihn in seinen Versen den Gott des Geschmacks, den Gott des Pindos (d. h. des Berges der Musen) nannte. Voltaire war nun in erster Linie ein Mann der Tat, ein Verteidiger und Führer. Trotzdem verdient Friedrichs Brief aus dem Februar 1773 hier angeführt zu werden.

Ich habe Ihren Brief und Ihre entzückenden Verse (vom 1. Februar) erhalten, die im Widerspruch zu Ihrem Alter stehen. Nein, ich kann Ihren Worten nicht glauben. Sie sind noch jung, oder Sie haben es verstanden, der Zeit die Flügel zu beschneiden.

Es gehört Tollkühnheit dazu, Ihnen in Versen zu antworten; aber Sie wissen, daß sich Leute meiner Art oft erlauben, was man bei anderen mißbilligt. Ein gewisser Cotys, König eines höchst barbarischen Landes, stand im Briefwechsel mit Ovid, als dieser nach Tomi verbannt war. Es muß deshalb einem jetzt lebenden Herrscher über ein weniger barbarisches Land gestattet sein, an den Apollo in Ferney in der welschen Sprache zu schreiben, trotz des Abbés Olivet und der übrigen Puristen der Akademie.

Non, je ne veux plus à Paris
Avoir de courtier littéraire;
Je n'y vois plus ces beaux-esprits
Dont nombre d'immortels écrits
En m'instruisant savaient me plaire,
Je ne veux de correspondants
Que sur les confins de la Suisse,
Province qui jadis était très fort novice.
En arts, en esprits, en talents,
Mais qui contient des bons vieux temps
Le seul auteur qui me ravisse.
Les Grecs, vos favoris, cherchèrent en Asie
La science et la vérité;
Platon jusqu'en Egypte avait même tenté
D'éclairer sa philosophie;
Désormais nos cantons, de ses charmes épris,
Sans chercher pour l'esprit des aliments dans l'Inde,
Trouvent le dieu du goût comme le dieu du Pinde,
Tous deux à Ferney réunis.

Voltaire glich damals weniger einem Apollo als einem modernen Herakles, der den Augiasstall reinigte, der Lernäischen Schlange die Köpfe abschlug und sich mit dem Höllenhund Cerberus in einen siegreichen Kampf einließ.

Von 1770-1777 kämpft Voltaire mit kluger Beschränkung, aber hartnäckig und mit überzeugender Klarheit für die Aufhebung der Leibeigenschaft in der Gegend, die er am Fuße des Juragebirges bewohnte. Beaumarchais veranstaltete zusammen mit Condorcet in den Jahren 1784-1789 eine Ausgabe der Schriften Voltaires in 70 Bänden (in Kehl, da Voltaire in Frankreich nicht herausgebracht werden durfte), eine Ausgabe, an der er durch die Ungunst der Zeitverhältnisse eine Million Francs verlor. Hierin hat er eine Einleitung zu einigen der Schriften Voltaires, die den Kampf für die Leibeigenen führen, geschrieben, aus der man ersieht, daß trotz der Beredsamkeit des alten Meisters zu seinen Lebzeiten alles blieb, wie es war. Erst die Revolution machte diese armen Sklaven frei.

Voltaires Schriften in dieser Sache sind die folgenden:

Au Roi et son conseil 1770. Nouvelle requête 1771. Coutume de Franche-Comté 1771. Supplique des serfs de Saint-Claude 1771. La voix du curé 1772. Extrait d'un mémoire 1775. Supplique à M. Purgot 1776. Lettre du R. P. Polycarpe 1776. Lettre d'un bénédictin de Franche-Comté 1776. Requête 1777.

Durch die Benutzung alter, gefälschter Dokumente hatten die Benediktiner-Mönche, die Eigentümer des Bodens am Juragebirge bis zu Saint-Claude geworden waren, die Bewohner der Gegend zu ihren Sklaven gemacht. Als die Güter dieser Mönche 1742 weltliches Eigentum wurden, waren die Domherren in Saint-Claude deren Erben, und die Bewohner der Dörfer waren nun in verschiedener Hinsicht Leibeigene:

Persönlich insofern, als sie außerstande waren, über ihr Eigentum zugunsten ihrer Kinder zu verfügen, wenn diese Kinder nicht stets im Hause ihres Vaters gelebt und immer an seinem Tisch gegessen hatten. Sonst gehörte alles den Mönchen, und der Sohn hatte zu betteln vor dem Haus, das sein Vater erbaut hatte; denn die Mönche, die dem Sohn das Vermögen des Vaters nahmen, bezahlten nicht die Schulden des Vaters.

Sachlich, insofern sich die Leibeigenschaft an einen Wohnsitz knüpfte. Irgend jemand, der innerhalb des Gebietes der Mönche ein Haus mietete und sich dort ein Jahr und einen Tag aufhielt, blieb dauernd ihr Leibeigener. Es geschah, daß ein französischer Kaufmann, ein Familienvater, geschäftlich in die Gegend kam und sich auf die Dauer eines Jahres ein Haus mietete; wenn er dann später in einer ganz anderen französischen Provinz, seiner Heimat, starb, sahen seine Witwe und seine Kinder zu ihrer Verwunderung eines Tages Gerichtsbeamte auf Grund einer königlichen Verordnung sich der Möbel bemächtigen, sie im Namen Saint-Claudes verkaufen und die Kinder aus dem Hause des Vaters jagen.

Es galt für Voltaire zuerst den Nachweis, daß sich das Recht der Mönche auf falsche Urkunden stützte, also aufzuheben war, dann bei der Krone die Abschaffung der Leibeigenschaft durchzusetzen. Seine Beweisführung, daß der Tyrannei der Domherren jeder Rechtsgrund fehlte, war unwiderleglich; aber sie prallte an dem zähen Konservatismus des Bestehenden ab; seine Bestrebungen, die Leibeigenschaft aufzuheben, scheiterten an dem Felsen der geistlichen Macht.

Er sprach nicht im eigenen Namen, sondern (wie Paul Louis Courier ein Menschenalter später) im Namen der armen Bewohner, und nicht sein Name, sondern die ihrer Vertreter stehen unter seiner Eingabe.

Es waren 12 000 arme Menschen, diese Leibeigenen in Longchaumois, Morez, Morbier, Belle-Fontaine, Les Rousses, Bois d'Amont; sie hatten Jahrhunderte stumm gelitten. Nun gab ihnen die Stimme Voltaires ein Organ, und diese Stimme verhallte in einer Wüste.

Das Ordenskapitel der Mönche war verpflichtet, Arzt und Apotheker für diese armen Sklaven zu bezahlen. Ein Chirurg in Morez, namens Nicod, ersuchte das Ordenskapitel im April 1770 um sein Honorar, und er erhielt von dem Agenten des Kapitels die Antwort: »Anstatt Sie zu bezahlen, sollte das Ordenskapitel Sie bestrafen; Sie haben im vergangenen Jahre zwei Leibeigene geheilt, deren Tod meinem Herren tausend Taler eingebracht hätte.«

In der Hälfte der Franche-Comté, die ja erst 1678 Frankreich einverleibt worden war, gebot die tote Hand. Die Bewohner waren, wie sie genannt wurden, mainmortables. Wenn ein freier Mann mit einer Ehefrau zusammen wohnte, die mainmortable war, dann wurde er selbst wie sie Leibeigener. Wenn eine freie Frau einen leibeigenen Mann heiratete, wurde sie Sklavin, wie er Sklave war. Wenn ein Vater und ein Sohn nicht gut miteinander auskamen und sich trennten, so daß sie an verschiedenen Plätzen wohnten, oder nur, wenn sie im selben Hause gesondertes Eigentum besaßen, dann war bei ihrem Tode das Kapitel ihr Erbe.

Voltaire schrieb vergeblich: »Die Gespenster fliehen, wenn der Tag graut; die tote Hand sollte verschwinden, wenn Vernunft und Gerechtigkeit erwachen.«

Besonders gut geschrieben und eindringlich ist seine Schrift La voix du Curé, in der der Gemeindepriester erzählt, wie die Domherren eine weinende Frau, Jeanne Marie Mermet, um das ganze Erbe ihres Vaters beraubten mit der Begründung, sie habe ihre Brautnacht in dem Logis ihres Mannes zugebracht.

Hier entwickelt er, wie es längst aufgeklärt worden, daß sich die ganze Legende von dem Eigentumsrecht des Kapitels in Saint-Claude auf falsche Urkunden stützt, auf einen Haufen grober Lügen, die im zwölften und dreizehnten Jahrhundert erfunden wurden.

Erzeugnisse der dramatischen Fähigkeit Voltaires sind die beiden köstlichen Eingaben des ehrwürdigen Vaters Polycarpe und eines Benediktinermönches in der Franche-Comté, die beide mit Begeisterung für die bestehenden Verhältnisse sprechen und die Wohltaten der Leibeigenschaft preisen, während sie mit Entsetzen Sprüche, wie den folgenden des Historikers Mézerei über Frankreich anführen: »Die Freiheit in dieser edlen Monarchie ist so groß, daß dort sogar die Luft sie jedem mitteilt, der sie einatmet. Unserer Könige Majestät ist so edlen Sinnes, daß sie sich weigern, an der Spitze von Menschen zu stehen, die nicht frei sind.«

Ach, diese Phrase von der hochherzigen Majestät der Könige!

Wie der fünfzehnte Ludwig taub geblieben war gegen alles Flehen Voltaires um Freigabe der armen Leibeigenen, so blieb es nach ihm auch Ludwig der Sechzehnte, obgleich die Zahl der Leibeigenen gestiegen war.

An diesen König wendet sich Voltaires letztes Gesuch, noch im Jahre 1777, ein Jahr vor seinem Tode. Requête au Roi pour les serfs de Saint-Claude beginnt:

Zwanzigtausend Familienväter, die den Boden in Ihren beiden Provinzen Bourgogne bestellen oder in Eurer Majestät Heer dienen, werfen sich Ihnen zu Füßen. Besonders diejenigen unter uns, die Sklaven einiger Abteien und Ordenskapitel sind, kraft eines Mißbrauchs, der sich auf falsche Urkunden stützt, bitten mit Klagen und Tränen, Eurer Majestät gehören zu dürfen. Wir wünschen, unter Ihrer Krone zu stehen, deren Rechte sich Mönche in barbarischen Zeiten mit Hilfe von Fälschungen angeeignet haben.

Dies letzte Gesuch ging wie alle anderen in den Papierkorb. Aber da fehlten nur noch elf Jahre, bis das Jahr anbrach, in dem es sich blutig strafte, nicht beizeiten auf die Stimme der Vernunft und der Gerechtigkeit gehört zu haben.

XVIII

Unter den vielen Fällen, in denen Voltaire in seinen letzten Jahren seine Stimme für die aus Gemeinheit angeklagte, aus Brutalität und Dummheit zum Tode verurteilte Unschuld erhob, darf der Fall des Generals Lally nicht übergangen werden.

Im Frühjahr 1773 wandte sich der junge Graf de Lally-Tollendal als Sohn des 1766 hingerichteten Generals mit der Bitte an Voltaire, ihm darin beizustehen, eine Ehrenrettung seines Vaters durchzusetzen.

Voltaire hatte den General persönlich gekannt, hatte 1746 mit ihm bei dem Herzog von Richelieu verkehrt, zu dessen Kreis er gehörte. Er war durch das Urteil und die Hinrichtung des Grafen de Lally schmerzlich überrascht worden, konnte nicht glauben, daß er ein Verbrecher gewesen, prüfte daher alle über den Prozeß des Generals erschienenen Schriften und schrieb bereits, ehe er den Fall gründlich kannte, am 13. Juni 1766 an Damilaville:

Was Lally betrifft, so bin ich durchaus sicher, daß er kein Verräter war und daß er außerstande war, Pondichéry zu halten. Das Parlament hat ihn nur wegen Unterschlagung zum Tode verurteilen können. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn man bekanntgegeben hätte, welcher Art Unterschlagung er sich schuldig gemacht habe. Frankreich ist, wie ich Ihnen kürzlich schrieb, das einzige Land, in dem man keine Gründe für ein Urteil angibt, wie es auch das einzige Land ist, in dem man sich das Recht kauft, seine Mitmenschen zu richten.

Graf Thomas Arthur de Lally stammte von einer irischen Familie, die mit Jakob dem Zweiten nach Frankreich gekommen war. Er hatte mit größter Auszeichnung im französischen Heere gedient. Beim Ausbruch des Siebenjährigen Krieges fürchtete man in Frankreich, die Engländer würden die französischen Kolonien in Ostindien überrumpeln, und sandte der Ostindischen Kompagnie Truppen zu Hilfe. Diese wurden Lallys Befehl unterstellt; außerdem erhielt er unbeschränkte Macht über die Beamten und Streitkräfte der Kompagnie. Er landete im April 1758 in Pondichéry, und da er hörte, daß die Engländer Chandernagor eingenommen hatten, marschierte er gegen sie, eroberte und schleifte das Fort St. David, nahm Devicottah ein und hatte bereits achtunddreißig Tage nach seiner Ankunft die Engländer von der Koromandelküste vertrieben.

Man hatte ihn jedoch (wie die Kriegsführung unter Ludwig dem Fünfzehnten nun einmal war) weder mit Truppen noch mit Geld hinreichend versehen. Seine Hauptmacht bestand aus ganz und gar unzuverlässigen Eingeborenen; er besaß keine Kriegsvorräte, und der Admiral der französischen Flotte, der ihn unterstützen sollte, Graf d'Aché, ließ ihn immer wieder aus Neid und Haß im Stich. Die Direktoren der Kompagnie in Frankreich hatten ihn eindringlich gebeten, alle Mißstände abzuschaffen, die sich durch die Habgier und Unredlichkeit der Beamten in Indien eingeschlichen hatten. Man begreift, daß alle diese Beamten, als er nun eingriff, seine Hasser und Feinde wurden. Sie legten seinen Plänen und Untersuchungen so viele Hindernisse in den Weg, wie sie vermochten.

Bei seinem heftigen Charakter hatte Lally auch dem Gouverneur Duval de Leyrit offen seine Unzufriedenheit gezeigt und Klagen über ihn an den König geschickt, weil er ihn völlig im Stich ließ. Natürlich wurde der Gouverneur dadurch sein Todfeind. Lally belagerte die Stadt Tanjur vergebens, deren Rajah sich weigerte, der Kompagnie dreizehn Millionen, die er ihr schuldete, zu zahlen. Er mußte einen Rückzug nach Pondichéry vornehmen.

Obwohl die Flotte ihre Mitwirkung verweigerte, galt es für den General, Madras einzunehmen, und da es die Ostindische Kompagnie auf Betreiben des Gouverneurs ablehnte, dafür Geld zu bewilligen, schoß er aus eigenen Mitteln 156 000 Livres zu. Er nahm alle Plätze ein, die von den Engländern in der Gegend von Arcot besetzt waren, und darauf die Stadt selbst.

Nun erklärte der Marquis de Bussy, der die Truppen der Kompagnie befehligte, Lally nicht mehr gehorchen zu wollen. Ihm blieben also nur die königlichen Truppen treu. Nichtsdestoweniger marschierte er gegen Madras und nahm die sogenannte schwarze Stadt ein, die von Händlern aller Volksstämme bewohnt war. Die Engländer zogen sich in das Fort St. George zurück. Als aber Lallys undisziplinierte Truppen nach dem Siege in der eroberten Stadt plünderten, brannten und schändeten, mordeten und tranken, fielen die Engländer über sie her. Lally brachte es jedoch fertig, sie wieder zu sammeln und zu ermannen; er stand sogar im Begriff, den Engländern den Rückzug zum Fort abzuschneiden, als Bussy ihn im Stiche ließ. Lally unternahm einen Sturm auf das Fort; dann kamen aber sechs englische Linienschiffe an, die der Graf d'Aché hatte hindurchschlüpfen lassen, so daß die Belagerung von St. George aufgehoben und ein neuer Rückzug nach Pondichéry angetreten werden mußte, wo Hungers- und Geldnot alles vernichteten.

Die Truppen, die keinen Sold erhielten, meuterten; Lally gab alles, was er besaß, hin um sie zu löhnen, aber es war umsonst. 1760 schlossen die Engländer die Stadt zu Lande und zu Wasser ein; im Januar 1761 mußte sich Lally ergeben, und die Erbitterung der Einwohner gegen den gerade kranken und zu Bett liegenden General war so groß, daß die Engländer ihn gegen die Wut seiner eigenen Landsleute schützen mußten. Auf dem Schiff, das ihn als Kriegsgefangenen nach England brachte, erlitt er eine unwürdige Behandlung.

XIX

Als er in London erfuhr, daß seine Feinde ihn durch grobe Verleumdungen beim französischen Ministerium angeschwärzt hatten, bat er (gegen das Ehrenwort, zurückzukehren) nach Frankreich übersetzen zu dürfen, um sich von den Anklagen zu reinigen.

Hier fand er die Allgemeinheit gänzlich voreingenommen gegen sich. Nicht nur Haß und Rachsucht und Erbitterung über die erlittenen Geldverluste beseelten seine Feinde. Es herrschte ganz besonders das Gefühl, daß es nun ihn oder sie galt. Gelang es Lally, darzutun, daß nicht er sondern seine treulosen, pflichtvergessenen Untergebenen Schuld am Verluste Pondichérys hatten, dann standen die anderen in der Gefahr, durch den Ausgang des Prozesses Lally um einen Kopf kürzer gemacht zu werden. Deshalb wurde alles aufgeboten, was menschliche Niedertracht, wenn sie um ihre Existenz kämpft, ins Werk setzen kann, um einen Mann zu vernichten.

Er wurde beschuldigt, Erpressung gegen französische Untertanen in Indien verübt und öffentliche Gelder unterschlagen, endlich Hochverrat begangen zu haben, und das von Richtern, die so wenig von indischen Verhältnissen wußten, daß sie häufig eine Stadt für eine Person und eine Person für eine Stadt hielten. Mit Recht hat Voltaire gesagt, daß doch jeder verstehen müsse, in wie hohem Maße Lallys freiwillige Rückkehr nach Frankreich für seine Unschuld spräche. Aber er war von vornherein verurteilt.

Vergebens bat er, einen Advokaten angewiesen zu erhalten; seine Verteidigung wurde ausschließlich ihm selbst überlassen, obgleich er vorbrachte, daß es sich hier doch nicht um eine einzelne Tat wie Mord oder Diebstahl drehte, sondern um eine Unzahl von Tatsachen, mit deren Hilfe er seine Verwaltung in Indien rechtfertigen wollte, und die er unmöglich ohne Hilfe sofort bei der Hand haben konnte.

Der General schrieb eine erste Abhandlung zu einer Rechtfertigung. Um ihm die Möglichkeit abzuschneiden, mehrere herauszugeben, trieb Pasquier die Gerichtsverhandlungen mit unanständiger Hast vorwärts, so daß er von vier Sitzungen in der Woche auf nicht weniger als zwei an einem Tage gelangte.

Die Richter waren sich nicht sofort einig, zwei waren für das Todesurteil, drei dagegen. Lange stritten sie; einer der drei gab mit den Worten nach: »Laßt ihn doch sterben, damit wir mit der Sache zu Ende kommen!«

Der General wurde schuldig erklärt, die Interessen des Königs, des Staates und der Indischen Kompagnie verraten, die Untertanen des Königs in Pondichéry unterdrückt und von ihnen Geld erpreßt zu haben. Sein Vermögen fiel dem König zu, der das Parlament sofort wissen ließ, daß er nicht gedachte, von seinem Begnadigungsrecht Gebrauch zu machen.

Man benutzte einen mißlungenen Selbstmordversuch, den Lally beging, ihm die Arme auf dem Rücken zusammenzuschnüren, damit er ihn nicht wiederholen konnte, und man ließ ihn rückwärts in einem Karren zum Schafott fahren. Aus Furcht, er würde der Menge seine Unschuld beteuern, steckte man ihm einen Knebel in den Mund. Wie oben erwähnt, schlug der Scharfrichter das erste Mal fehl; das Haupt fiel beim zweiten Schlage. Von den Feinden des Generals, die das Schafott umgaben, erscholl der Ruf: »Wäre doch zwanzigmal fehlgeschlagen worden!«

Im 34. Kapitel seines Buches Précis du siècle de Louis XV hatte Voltaire bereits 1768 eine Schilderung des Prozesses und der Hinrichtung Lallys gegeben, die das Parlament unzweideutig des Justizmordes beschuldigte. Damals konnte er bei der allgemeinen Erbitterung, die diese Schilderung erregte, an eine Ehrenrettung des Generals nicht denken. Nun stellte er trotz seiner achtzig Jahre und seiner geschwächten Gesundheit alle seine Kräfte dem Sohne zur Verfügung. Es bestand jedoch wenig Aussicht, daß Maupeou, der an dem Todesurteil über den Vater tätig teilgehabt hatte, nun dem Sohne als dem Verteidiger der Wahrheit ein williges Ohr leihen würde. Mit seiner großen Erfahrung erklärte Voltaire deshalb dem Grafen Lally-Tollendal, daß es vor allem galt, sich das Wohlwollen des Kanzlers zu sichern, keinen der noch mächtigen Feinde des Vaters anzugreifen, sondern nur den Toten zu rechtfertigen.

Im April 1773 hatte der junge Graf Voltaire um seine Hilfe gebeten. Bereits im August 1773 verschickte der Achtzigjährige an seine Freunde die ersten Exemplare seines bewunderungswürdigen Buches Fragments historiques sur l'Inde et sur le général Lally.

Er hatte eingesehen, daß sich kein Mensch in Frankreich für einen vor sieben Jahren hingerichteten Mann interessierte, dessen Ruf dazu noch ganz in der Macht seiner Feinde lag. Er halte begriffen, daß es einzig darauf ankam, statt eines juristischen Beitrags eine Schrift zu liefern, die das Interesse des großen Publikums reizen und wecken konnte. Er fesselte die Leser durch eine wahre und malerische Art der Geschichtsschreibung, durch Schilderung des Handels in Indien, des wunderbaren Klimas und der Naturverhältnisse, der Religionsarten, der Bevölkerungsstämme, des ganzen Zustandes zu der Zeit, als der General Lally dort ankam.

Kein Roman konnte für die Franzosen der damaligen Zeit neuartiger und spannender sein; aber keine ethnographische Beschreibung konnte zugleich wahrer sein. Voller Geist und Leidenschaft widerlegte Voltaire die Lügen und dummen Sagen, die über die Bewohner des fernen Osten und über ihre Sitten in Umlauf waren. In seinem Buch kommt alles vor: Brahmanen und Krieger, persischer, arabischer, mongolischer Einfluß, die lange Reihe indischer Revolutionen, die Begründung von Kolonien durch die Europäer, Portugiesen, Holländer, Engländer, Franzosen, der Kampf der Engländer mit den eingeborenen Fürsten in Bengalen, deren Siege und Niederlagen.

Man hat mehr als vier große Bogen des Buches gelesen, ehe der General Lally überhaupt nach Pondichéry kommt. Dann werden seine Kämpfe, seine Verdienste, sein Unglück, an dem er selbst ohne Schuld ist, und zum Schluß der ungerechte Prozeß gegen ihn geschildert. Aber gerade, als wäre es Voltaire darauf gar nicht angekommen, folgen noch beinah hundert Seiten, die indische Verhältnisse beschreiben, Mitteilungen über indische Mythologie und den indischen Glauben an die Seelenwanderung bringen, und die Geschichte Indiens von Tamerlan (Timur Lenk) bis zur damaligen Zeit erzählen.

Voltaire machte sein Werk zu einem Unterhaltungsbuch für die Gebildeten Frankreichs, und brachte ihnen gleichzeitig, ohne daß sie es merkten, die Überzeugung bei, daß Lallys Urteil und Todesart eine einzige Schändlichkeit gewesen waren.

XX

Von dem Augenblick an, da Maupeou mit dem früheren Pariser Parlament Schluß gemacht hatte, trug sich Voltaire mit dem Gedanken, den La Barre-Prozeß von dem neuen Parlament revidieren zu lassen. Er wußte von einem preußischen Offizier, der ihn in Ferney besucht hatte, daß sich der junge Gaillard d'Etallonde unter dem Namen Morival für das Heer Friedrichs des Großen hatte anwerben lassen und sich in Wesel aufhielt.

Damals, als er den Plan hatte, die Philosophen zu bewegen, sich in Cleve niederzulassen, war es seine Absicht gewesen, d'Etallonde eine Stelle in der Kolonie zu geben. Nun trat er in Briefwechsel mit ihm zuerst ohne seinen Namen zu verraten unter einer niederländischen Adresse, nur um zu fragen, was man für den jungen Mann tun könnte. Darauf empfahl er ihn angelegentlich dem Wohlwollen König Friedrichs. Der König wußte ja, wie Voltaire sich zu d'Etallonde ausdrückte, daß dieser »nichts anderes verbrochen hatte, als im Affenlande über die Grimassen der Affen zu lachen, und daß ihn die Affen deshalb hatten zerreißen wollen.« Der König beförderte denn auch Morival vom Fähnrich zum Offizier und versprach außerdem, sich weiterhin seiner anzunehmen.

Durch das Urteil in Frankreich war d'Etallonde bürgerlich tot; man hatte sein mütterliches Erbe beschlagnahmt. Sollte er wieder Bürgerrechte erhalten, war zu allererst ein königlicher Gnadenbrief nötig. Aber um den zu erlangen, waren wieder mehrere Monate Aufenthalt in Frankreich erforderlich. Voltaire bat daher zuerst König Friedrich um Urlaub für den jungen Offizier, damit dieser nach Ferney gehen und mit seinem Beschützer Pläne für die richtige Art des Vorgehens fassen konnte.

Friedrich fand – nicht mit unrecht – Voltaires Hoffnung phantastisch. König Ludwig, der La Barre hatte hinrichten lassen, konnte ohne sich selbst zu widersprechen d'Etallonde nicht begnadigen, da er wegen desselben Vergehens wie La Barre verurteilt war: »Oder Sie müßten von Ferney aus Frankreich regieren.«

Inzwischen kam der junge Mann im April 1774 nach Ferney und Voltaire war von ihm hingerissen. Er sandte Friedrich eine ganz begeisterte Schilderung. Je mehr Voltaire über den Fall nachdachte, desto erstaunter war er über das Urteil gegen d'Etallonde. Er schrieb am 26. April 1774 an den König: »Nichts liegt gegen ihn vor, als daß er in einem Abstand von vierzig Schritt sehr schnell mit dem Hut auf dem Kopf an einer Kapuzinerprozession vorbeigegangen ist und zusammen mit anderen jungen Menschen ein hundert Jahr altes schlüpfriges Lied gesungen hat.« Falls d'Etallonde nicht zur Erlangung des Erbrechts einen königlichen Gnadenbrief gebrauchte, würde ihm Voltaire niemals geraten haben, »sich so tief zu erniedrigen, wahnsinnige Barbaren um Gnade zu bitten.«

Friedrich sah schärfer als Voltaire. Er sah ein, daß Genugtuung für d'Etallonde Morival unter der damaligen Regierung nicht zu erlangen war. Er schrieb am 15. Mai 1774 aus Potsdam:

Morival ist Ihnen im höchsten Grade verpflichtet. Ohne ihn zu kennen, haben Sie seine Unschuld allein für ihn sprechen lassen, und da Sie sich der Barbarei der Urteile schämen, die in Ihrem Vaterland wegen nicht verbrecherischer Leichtsinnigkeiten gefällt sind, haben Sie ihn edelmütig in Schutz genommen. Sie sind als Beschützer der Unterdrückten und als Rächer der Ungerechtigkeit aufgetreten. Jedoch wird es trotz all Ihres guten Willens schwer sein, die Begnadigung des jungen Mannes zu erreichen. Welche Fortschritte die Philosophie auch macht, Dummheit und falscher Glaubenseifer werden sich stets in der Kirche halten, und der Name der Infamen ist dauernd der sammelnde Feldruf für alle die Armen im Geist und für die, die von der Raserei ergriffen sind, die Seelen ihrer Mitbürger zu erlösen. In dem allerchristlichsten Königreich müssen die Untertanen notwendigerweise allerchristlichst sein; und man wird sich niemals darin finden, daß man es unterläßt, den Teig, den man als Gott anbetet, zu grüßen und davor zu knien. Das einzige Mittel, für Morival Gnade zu erlangen, besteht darin, daß er vor einer Kirchentür Buße tut, daß man ihn von Mönchen am Fuße des Hauptaltars auspeitschen läßt und daß er zum Schluß selber Mönch wird.

XXI

Ludwig der Fünfzehnte hatte die Parlamente seinerzeit nicht aus eigenem Entschluß aufgehoben. Man hatte Madame du Barry abgerichtet, jedesmal, wenn ein Provinzparlament Deputierte mit Vorstellungen zum König sandte, diesem zu sagen: »Wieder Leute, die nach und nach mit der königlichen Gewalt Schluß machen wollen, und die von weither reisen, um Sie abzusetzen.« Man kaufte für 24 000 Francs Van Dycks lebensgroßes Porträt Karls des Ersten von England für Madame du Barry, damit sie es in ihrer Wohnung aufhängen konnte, wo es der König täglich vor Augen hatte. Wieder und wieder sagte sie zu Ludwig: »Frankreich! Siehst du das Bild? Wenn du dein Parlament entscheiden läßt, so schlägt es dir eines Tages den Kopf ab, wie das englische Parlament es mit dem da tat.«

Es schadete Maupeou und dem neuen Parlament in der allgemeinen Beurteilung, daß der Kanzler sich auf diese Frau stützte, die aus dem Punschlöffel trank und ihn in die Bowle zurücklegte. Als der König ihr eines Tages Vorwürfe machte, daß sie den anderen ihren Speichel zu trinken gab, antwortete sie: »Gerade! Ich will, daß sie alle zusammen meinen Speichel trinken.«

Die Krone war in den letzten Lebensjahren Ludwigs in den Augen freierer Nationen, wie denen der Engländer, nur die gemeinsame Nachthaube für ihn und seine Freundin, die sich übrigens (wie Madame de Pompadour) dadurch in ihrer Machtstellung hielt, daß sie dem König verschiedene kleine erotische Zerstreuungen verschaffte.

In den letzten Tagen des April 1774 ging Ludwig mit der Gräfin in der Umgebung von Trianon spazieren. Da sahen sie eine kleine Kuhhirtin, die Gras für ihre Kuh pflückte, und sie fanden ihre Augen auffallend schön. Sie näherten sich ihr, nahmen ihre Haube ab, strichen ihr Haar zurück und waren sich einig, daß sie sehr anziehend sein würde, wenn sie wie eine Dame angezogen wäre. – Dann wollen wir sie anziehen! – Das kleine Bauernmädchen wurde dem König mit Schminke und Schönheitspflastern vorgeführt. Sie war entzückend. – Sie soll zu Abend mit uns essen. – Man speiste zu Abend, scherzte, trank, nur zuviel. Das Mädchen wurde ins Bad und darauf ins Bett gebracht.

Inzwischen starb ihr Bruder an den Pocken; am Tage darauf bekam sie ebenfalls die Krankheit und starb. In der Gegend herrschte eine Pockenepidemie.

Am 28. April fühlte sich der König nicht wohl. Am nächsten Tage wurde er mehrfach zur Ader gelassen, ohne daß sich seine Kopfschmerzen dadurch verloren. Am 30. April entdeckte man, daß er an den Pocken erkrankt war. Am 3. Mai abends sagte der König – nach einer Unterredung mit dem Erzbischof von Paris – zu Madame du Barry: »Madame, ich bin krank; ich weiß, was ich zu tun habe. Ich will solche Szenen wie in Metz nicht wieder erleben. Wir müssen uns trennen. Gehen Sie nach Ruel zum Herzog von Aiguillon. Seien Sie versichert, daß ich stets die herzlichste Freundschaft für Sie hegen werde.«

Am 10. Mai starb Ludwig der Fünfzehnte, und dieser Todesfall schien im ersten Augenblick Voltaire der Schwarzseherei Friedrichs gegenüber recht zu geben. Denn Ludwig der Sechzehnte war zwar so rechtgläubig wie sein Großvater und sein Ururgroßvater, der fünfzehnte und der vierzehnte Ludwig, aber gewisse Forderungen zur Verträglichkeit und zur Menschlichkeit, die von Voltaire und den Enzyklopädisten aufgestellt waren, schienen bei seiner Thronbesteigung doch durchzudringen. Der König machte einen so verdienstvollen Mann wie Turgot zum Minister, und als die Mucker am Hofe ihm entsetzt mitteilten, daß Turgot Enzyklopädist war, antwortete er: »Gleichviel, er ist ein rechtschaffener Mann, und das genügt mir.«

Im Anfang August 1774 richtete Voltaire voller frischer Hoffnung ein Gesuch um einen Gnadenbrief für d'Etallonde an Maupeou, bat den Kanzler jedoch zugleich, den Namen Voltaire nicht zu nennen, da dieser zum Widerstand reizen würde.

Aber bereits am 24. August wurde Maupeou gestürzt, und was für Voltaires Plan noch ungünstiger war: dieser Sturz war die Ankündigung, daß sein Parlament aufgehoben und die alten Parlamente wieder errichtet werden würden. Die Jansenisten hatten den König zu dem Glauben überredet, daß sich die Bevölkerung einmütig nach den alten Parlamenten sehnte. Am 22. Oktober 1774 wurde dann auch ein Edikt erlassen, das diese wieder ins Leben rief.

Zwar wurden durch das Edikt einige wenige Einschränkungen der willkürlichen Macht der alten Parlamente eingeführt; diese bedeuteten aber nichts gegenüber dem Übermut, mit dem die Parlamentarier wieder ihre Plätze einnahmen. Maupeou sah die kommende Revolution voraus, als sein Werk zerstört wurde. Er rief aus: »Wenn der König seine Krone aufs Spiel setzen will, kann er das natürlich tun.« Nun war das Richteramt wieder käuflich, das Sportelwesen wieder anerkannt. Auch die Abschaffung der Folter und die Milderung des Strafsystems, die man von dem Thronwechsel erwartet hatte, erfolgten nicht.

XXII

Voltaire war so vernünftig, einzusehen, daß das vom Tode erstandene Pariser Parlament sich seinen Bemühungen für d'Etallonde widersetzen würde. Trotzdem war er zu hartnäckig, um die Sache aufzugeben. Er gewann die Herzogin von Enville, bei dem Minister Maurepas für den unschuldig Verurteilten zu wirken. Er veranlaßte Friedrich, durch den Regimentschef dem jungen Manne ein glänzendes Zeugnis auszustellen. Da er selbst in Paris nicht wirken konnte, wohin ihm der Zugang ständig verwehrt war, und da sein treuer Freund und Anhänger Damilaville wie auch sein höchst unzuverlässiger Freund Thiériot durch den Tod abberufen waren, bat er D'Alembert, in der Angelegenheit etwas zu tun. Er versprach es, eignete sich aber schlecht dazu; D'Alembert war, wie Grimm von ihm sagte, zwar ein Menschenfreund, hatte aber keine Freude daran; richtete deshalb auch nichts aus.

Aus Furcht, etwas zu übersehen, das späterhin störend wirken könnte, wollte Voltaire nun alle Akten des Falles lesen. Der Marquis de Condorcet, der später so berühmte Gelehrte, der Voltaires Biographie schreiben sollte, verschaffte als begeisterter junger Mann von 30 Jahren eine vollständige Kopie der Urkunden.

Friedrich, der sich bei dieser Gelegenheit als willig erwies, jedes vernünftige Verlangen Voltaires zu erfüllen, beauftragte nach Empfang des Entwurfs zu dem Gesuch, das Ludwig dem Sechzehnten überreicht werden sollte, seinen Kanzler, preußische Rechtsgelehrte ein Gutachten über den Fall abfassen zu lassen. Dies geschah. Als sich aber Voltaire deshalb auch an die angesehensten Pariser Advokaten wandte und, ohne die Ungerechtigkeit des Parlaments mit einem Wort zu berühren, sich nur eine Erklärung darüber erbat, daß das ganze Verfahren im La Barre-Prozeß gesetzwidrig gewesen war, da der elende Schweinehändler Broutel als Richter aufgetreten war, gaben alle ohne Ausnahme eine abschlägige Antwort. Sie fürchteten, trotz aller Vorsichtsmaßnahmen das Parlament gegen sich aufzubringen. Voltaire schrieb (am 16. April 1775) an d'Argental:

Das unschuldig vergossene Blut schreit zum Himmel, und auch ich schreie, und will es bis zu meinem Tode tun. Ich flehe Sie an und beschwöre Sie, der Sie ein Freund Turgots und Elie de Beaumonts sind, ihnen zu sagen, daß ich vor Verzweiflung außer mir bin. Wie! Der vernünftige, vortreffliche d'Etallonde soll im Jahre 1775 nicht einen Advokaten finden können, während im Jahre 1766 die mit ihm angeklagten jungen Menschen acht Advokaten fanden. Das ist furchtbar; das ist unfaßbar. Es gibt also weder Vernunft noch Menschlichkeit mehr in der Welt!

Die Advokaten ließen sich nicht rühren. Im Juni 1775 gab Voltaire seine Schrift Cri du sang innocent heraus, in der er versucht, Ludwig dem[*] Sechzehnten die Sache d'Etallondes ans Herz zu legen, und den jungen Mann anscheinend selbst das Wort führen läßt: »Obwohl die Krönung der Herzensgüte eines Königs und seiner Liebe zur Gerechtigkeit nichts hinzufügen kann, ist sie doch der Augenblick, da sich jeder Unglückliche an ihn wenden darf.« Deshalb wendet sich d'Etallonde, der ohne Advokat, ohne Helfer, ohne Stütze ist, aus einem fremden Lande an ihn.

Von Interesse an der Schrift Voltaires ist besonders seine Beweisführung. Man ersieht daraus, mit welcher Liederlichkeit seinerzeit die Akten niedergeschrieben wurden und mit welcher Böswilligkeit die blutdürstigen Richter damals d'Etallonde verurteilt hatten. Er erklärt hier z. B., niemals das Kruzifix auf dem Pontneuf in Abbeville berührt zu haben, weder mit einem Jagdmesser noch mit einem Stock: »Darauf erwidere ich, daß diese Beschuldigung nicht nur falsch ist sondern etwas Unmögliches betrifft. Ich trug damals niemals einen Stock, nur eine ganz leichte Gerte. Das Kruzifix stand, wie ganz Abbeville weiß, sehr hoch, auf einem schweren, acht Fuß hohen Piedestal; es war also nicht möglich, so hoch zu reichen, daß jemand auf die Figur losschlagen konnte.«

Alle Schuld wird aus Klugheit dem Parlament gegenüber auf die Schultern Duval de Soicourts und Broutels gelegt. Aber weder Klugheit noch Empörung machten auf Ludwigs des Sechzehnten stumpfes Gemüt irgendwelchen Eindruck. Das einzige, das man vielleicht als Resultat der Schrift bezeichnen kann, ist die Begnadigung, die d'Etallonde dreizehn Jahre später, 1788, im Jahre vor dem Ausbruch der Revolution, zuteil wurde.

XXIII

War der Sturz des neuen Parlaments Voltaire ungelegen gekommen, so war die Einberufung des alten ein Glück für Beaumarchais. Trotz des entehrenden Urteils über ihn, das zu vollstrecken man doch keinen Mut hatte, hatte er in den letzten Lebensjahren Ludwigs des Fünfzehnten und in den ersten Regierungsjahren Ludwigs des Sechzehnten das außerordentliche Vertrauen beider Könige genossen, war beider Agent im Ausland gewesen. Er fand, daß nun der Augenblick zu einer Wiederherstellung seiner Ehre für ihn gekommen war, denn er hatte ja mehr als ein anderer dazu beigetragen, Maupeou und sein neues Parlament zu stürzen.

Das alte Parlament war trotz des Widerstandes vieler einflußreicher Persönlichkeiten durchaus geneigt, das abgeschaffte neue in der Person Goëzmans entehrend zu verurteilen, und da Beaumarchais so schlau war, den Advokaten Target zu nehmen, den einzigen Advokaten, der niemals einen Prozeß vor Maupeous Parlament hatte führen wollen, erreichte er im September 1776 die vollständige Wiedereinsetzung in seine bürgerlichen Rechte.

Einen ähnlichen Triumph für einen der ungerecht Verurteilten, deren Anwalt Voltaire gewesen war, erreichte er anderthalb Jahr später, also sehr spät. Den heftigsten Widerstand des Parlaments mußte natürlich das Gesuch erregen, das der Conseiladvokat Voilquin um Aufhebung des Todesurteils über General Lally dem Conseil einreichte, in dem dargelegt wurde, daß man dem General jede Verteidigung abgeschnitten hatte, und nicht weniger das gut geschriebene Memorandum, das Lally-Tollendal gleichzeitig überreichte. Aber der Führer des Parlaments Pasquier hatte sich durch Voltaires Fragments historiques sur l´Inde so vernichtet gefühlt, daß er sich demütigte, in einem Briefe an den Patriarchen eine Rechtfertigung zu versuchen. Dieser antwortete weise: »Das Beste, was wir beide in unserem Alter tun können, besteht darin, daß wir verzeihen;« aber er wich deshalb nicht um einen Zoll von seiner Absicht, die Freisprechung des Generals zu erreichen; er wußte außerdem gut, daß Pasquier beim König die größten Anstrengungen gemacht hatte, damit das Cassationsgesuch abgewiesen wurde. Es geschah nichts, bevor der Sturm, den Voltaires eigene Ankunft in Paris 1778 in den Gemütern erregte, den Conseil mitriß und weiteren Widerstand unmöglich machte. Die Verhandlungen hatten 32 Sitzungen erfordert. Schließlich hob der Conseil einstimmig mit 72 Stimmen das Urteil über Lally auf. Das geschah am 26. Mai. Voltaire lag auf seinem Sterbelager. Er diktierte einen Brief an den Grafen de Lally-Tollendal, die letzten Zeilen, deren Urheber er überhaupt war:

26. Mai.

Der Sterbende erwacht wieder zum Leben, da er die große Neuigkeit erfährt. Zärtlich umarmt er Herrn de Lally. Er sieht, daß der König der Verteidiger der Gerechtigkeit ist, und stirbt zufrieden.

Vier Tage darauf war er nicht mehr.

XXIV

Man könnte Bände füllen, wollte man alles schildern, was der zweiundachtzigjährige Mann in diesen seinen letzten Lebensjahren wirkte und schrieb, um Gerechtigkeit für die Unterdrückten zu erlangen. Aber jeder kann ohne Anleitung sein an Turgot gerichtetes Memorandum für die vollständige Abschaffung der Leibeigenschaft in Frankreich lesen, seine übrigen zahlreichen Eingaben an Turgot, um die Landschaft Gex in seiner Nähe von der furchtbaren Aussaugung zu befreien, der die arme Gegend unterworfen war, seine wiederholten Klagen über die Sklaverei, in der die Bewohner der beiden Juragebirgstäler, Chézeri und Lelex, gehalten wurden, seinen Angriff auf die grausamen Torheiten bei der Steuerverpachtung, die nutzlose Schar von Beamten, die sie mit sich führte, die Ungerechtigkeit, die durch das Mißverhältnis zwischen Steuerfähigkeit und Steuerleistung stattfand usw.

XXV

Am lehrreichsten und wertvollsten ist Voltaires großes, Epoche machendes Buch Prix de la justice et de l'humanité 1777.

Die Gazette de Berne vom 15. Februar 1777 hatte folgende Notiz enthalten: Ein Menschenfreund, der unbekannt zu bleiben wünscht, hat der ökonomischen Gesellschaft in Bern 50 Louisdore als Preis für die beste Schrift über die Gesetzgebung in Strafsachen zugestellt; sie soll den dreifachen Gesichtspunkt vor Augen haben: Verhältnis zwischen Verbrechen und Strafe, Stärke der Beweise und der Mutmaßungen, die Art, wie sich die Erleichterung der Voruntersuchung und der Strafe mit schneller und wirksamer Sühne vereinigen läßt, damit die Gesellschaft die größtmögliche Sicherheit findet, Freiheit und Menschlichkeit geachtet werden.

Ein anderer Unbekannter, Voltaire, fügte weitere fünfzig Louisdore dem ausgesetzten Preis hinzu, begnügte sich aber nicht damit. Nach Verlauf von nur acht Monaten gab er das Werk heraus, dessen formelle Bestimmung eine Anleitung für diejenigen war, die sich um den Preis bewerben wollten, dessen Bedeutung aber in seiner vernichtenden Kritik des damals geltenden französischen Strafrechts liegt.

Er zeigt sich überraschend modern, wünscht z. B. mündliche Verhandlung vor Geschworenengerichten statt der nicht begründeten Entscheidungen durch Parlamente. Er verabscheut das Prinzip der Vergeltung im Strafrecht. Für ihn ist es wichtiger, Verbrechen zu verhindern, als sie zu bestrafen. Bezüglich der Eigentumsverbrechen macht er darauf aufmerksam, daß diese am häufigsten von den Armen begangen werden, während die Gesetze von den Reichen gemacht werden, und daß es besser wäre, der Bettelei vorzubeugen als die Bettler dem Henker zu überliefern. Was Sittlichkeitsvergehen betrifft, so sollte man es vorziehen, das Leben der Neugeborenen durch Errichtung von Findelhäusern zu beschützen, anstatt den Kindesmord, den die verzweifelnde Mutter begeht, grausam zu bestrafen.

Er führt aus, wie ungerecht es ist, geringere und schwerere Verbrechen mit derselben harten Strafe zu belegen, wenn z. B. beide, sowohl der, welcher ein wenig Geld raubt und der Raubmörder, gerädert werden. Darin liegt ja eine Aufforderung, die größere Untat zu begehen, da die Strafe doch die gleiche und die Sicherheit sogar größer ist, weil der Getötete nicht angeben kann, von wem er überfallen wurde.

Daß man für Hausdiebstahl die Todesstrafe hat, ist sowohl barbarisch wie dumm, da sich die Herrschaften deshalb nicht selten damit begnügen, die ungetreuen Dienstboten fortzuschicken, die nun sofort bei anderen weiter stehlen.

Großes Gewicht legt Voltaire, wie das zu erwarten war, auf die Sinnlosigkeit des Glaubens, derjenige, der eine sogenannte ketzerische Meinung hege, dadurch ein Majestätsverbrechen gegen die Gottheit begehe und also einen qualvollen Tod verdiene. Da Voltaire weiß, daß die Gerichte des Christentums mehr als hunderttausend sogenannte Zauberer zum Feuertode verurteilt haben, daß jedoch die Zauberer verschwanden, als man aufhörte, sie zu verbrennen, so entsetzt er sich, wenn er an die weit größere Zahl hingerichteter Ketzer denkt, die nicht schuldiger als jene Zauberer waren. Europa steht vor ihm wie ein ungeheures Schafott, das von Henkern und Opfern besetzt, von Richtern und Zuschauern umgeben ist. Er sieht den ganzen Weltteil vor sich, wie er während des Weltkriegs vor einzelnen jetzt Lebenden dasteht: als Schlachtbank, Kirchhof, Irrenhaus.

Er erklärt, wie töricht die Strafe für bloße Wörter ist, gesprochene oder geschriebene. Wenn sie nicht gerade zu Verbrechen aufreizen, dann sind sie nur Luftschwingungen und leeres Geräusch. Presse und Literatur sollten deshalb frei sein.

Umständlich behandelt er die Barbarei der Bestrafung für geschlechtliche Vergehen. Er findet, daß krankhafte Geschlechtsbeziehungen, wenn sie zwischen Erwachsenen vorkommen, die Justiz nichts angehen. Sie mit Scheiterhaufen und Feuer zu bestrafen, sei Mittelalter. – Die Bigamie, die eine so grausame Strafe nach sich zieht, ist in mehreren Ländern gar kein Verbrechen.

Er unterscheidet überhaupt scharf zwischen dem, was dem Wesen nach Verbrechen ist, und dem, was erst durch Verhältnisse und Umstände (wie z. B. während eines Krieges) dazu gemacht wird. Während eines Bürgerkrieges wird der Verräter genannt, der einem unglücklichen König treu bleibt.

Als La Barre sagte, er wolle keinen aus Teig gekneteten und geformten Gott anbeten, beging er nur ein örtliches Verbrechen. Denn Englands Kanzler durfte in Gegenwart des ganzen Parlaments ungestraft dasselbe sagen.

Leidenschaftlich greift Voltaire die kirchlichen Monitorien an, die mit Hilfe von Einschüchterungen (Höllenstrafe nach dem Tode) Angebereien erzwingen. Man wird mit der Hölle bedroht, wenn man seinen Nächsten nicht in Lebensgefahr bringen will.

Damit die Vorschläge, mit denen Voltaire hervortritt, nicht als Träumereien abgewiesen werden, zeigt er, daß sie zu anderen Zeiten und an anderen Orten verwirklicht waren.

Bei den Römern wurden die Zeugen öffentlich in Gegenwart des Angeklagten vernommen. Er konnte ihnen antworten, sie ausfragen, und einen Advokaten ihnen gegenüber an seine Stelle treten lassen. »Dieses Vorgehen war edel, frei und atmete römische Weitherzigkeit.«

In England nimmt sich das Gesetz des Angeklagten an. Der Engländer, der für grausam gehalten wird, ist in seiner Gesetzgebung menschlich; die Franzosen, deren Sitten man für sanft ausgibt, sind dagegen in Wirklichkeit unmenschlich.

Im Abschnitt über die Folter drückt Voltaire seine Verwunderung und seine Empörung darüber aus, daß christliche Priester und Mönche die Tortur als letztes Argument benutzen. Weder Caligula noch Nero wagten es, sie gegen einen einzigen römischen Bürger anzuwenden; nur Sklaven wurden ihr unterworfen, und Quintilian tadelte sogar dies, da auch sie Menschen wären.

Mit Stolz hebt Voltaire hervor, was man seinem Einfluß verdankt, ohne jedoch dies mit einer Silbe zu erwähnen. »Die Folter ist als verabscheuenswert in dem ungeheuren russischen Reich verboten. Sie ist in den Staaten abgeschafft, die von dem Heros des Jahrhunderts, dem König von Preußen, beherrscht werden, in den Staaten, die die österreich-ungarische Kaiserin-Königin regiert. Der gerechte und wohltätige Landgraf von Hessen hat sie verboten. Sie ist unmöglich in England.«

Sehr bezeichnend ist Voltaire der Ansicht, daß die Folter nur in einem einzigen historischen Falle berechtigt war, nämlich bei Ravaillac, weil er seinen Helden, Heinrich den Vierten, ermordete. Da war es von Bedeutung, seine Mitschuldigen zu erfahren.

Darauf folgt die Kritik an der Ehegesetzgebung, an den barbarischen Strafen für den Ehebruch der Frau, während der des Mannes als Bagatelle angesehen wird, und Voltaire legt dar, wie die Unauflösbarkeit der Ehe innerhalb der römisch-katholischen Kirche zu einem Meineid nach dem anderen zwingt. Der gute und schwache Ludwig der Zwölfte schwor, niemals die Ehe mit der Tochter Ludwigs des Elften vollzogen zu haben, obwohl das Paar achtzehn Jahr zusammen gelebt hatte. Heinrich der Achte von England log ohne Nutzen für irgend jemanden vor den Gesandten des Papstes Clemens des Siebenten, Heinrich der Vierte und seine Frau Marguerite mußten, als sie sich scheiden wollten, beide lügen.

Im Abschnitt über die Beweise für Verbrechen weist Voltaire an historischen Beispielen nach, wie unzuverlässig sogenannte Zeugen in der Regel sind. Er nennt einen Edelmann namens Langlade, der wegen Diebstahls zu Tortur und Galeere verurteilt wurde, während der er starb; die Zeugen waren zwei Dienstboten, die glaubten, gesehen zu haben, wie er und seine Frau beim Anblick des Grafen de Montgommeri erzitterten, als dieser noch nicht einmal ahnte, daß er bestohlen war. Erst später beklagte er sich wegen des Diebstahls. Langlades Unschuld stellte sich heraus, als es zu spät war.

Voltaire nennt Madame de Chauvelin, die beschuldigt wurde, in ihrem Schloß ihren Mann, La Pivardière, ermordet zu haben. Zwei Dienstmädchen waren Augenzeugen des Mordes gewesen. Ja, seine eigene Tochter hatte den Sterbenden schreien hören: »Mein Gott, hab Erbarmen mit mir!« Mehrere andere Zeugen hatten die blutbefleckte Wäsche des Hausherrn gesehen. Und da kehrte der Ermordete unbeschädigt von einer Reise zurück.

Das Werk mündet in eine Anerkennung Ludwigs des Sechzehnten aus, der die Militärgesetze gemildert und die Todesstrafe für Deserteure abgeschafft hatte, und schließt mit der Hoffnung, daß die bürgerliche Gesetzgebung nun in Übereinstimmung mit der militärischen humaner werde. In diesem Augenblick, hebt Voltaire hervor, herrscht Frieden auf Erden; nur in Nordamerika gibt es Unruhen. Am 4. Juli 1776 hatte der Aufstand in den englischen Kolonien begonnen, der später zur Bildung der Vereinigten Staaten von Nordamerika führte.

In prophetischer Ahnung, daß dieser fast allgemeine Friedenszustand nicht lange dauern würde, schließt Voltaire sein Werk:

»Benutzen wir diese Augenblicke! Vielleicht sind sie nur kurz.«

XXVI

In diesen letzten Lebensjahren, in denen Voltaire schon wegen seines außerordentlichen Fleißes, von dem Wert des Geschaffenen garnicht zu sprechen, Anspruch auf Achtung hatte, erhob sich gegen ihn ein Nachfolger Frérons und La Beaumelles, der versuchte, dadurch einen Ruf zu gewinnen, daß er sich zu seinem Gegenpol machte und ihn systematisch herabsetzte. Es war ein ganz gewöhnlicher literarischer Wicht; aber er machte sich mit derselben Leidenschaft wie seine Vorgänger ans Werk.

Sein Name war Clément, genannt de Dijon. Er hatte bereits als Siebzehnjähriger Voltaires Protektion gesucht, und als der stark Beschäftigte ihm nicht sofort eine Antwort gab, hatte er wieder und wieder geschrieben. In einem dieser Briefe steht eine Wendung, die man als typisch betrachten kann: »Ach, Sie haben sich vielleicht gedacht, daß Sie erleben würden, wie ich Ihre Freundschaft mit dem schwärzesten Undank bezahlte; daß ich ein solcher Lump und Verbrecher wäre, mich nicht erkenntlich zu zeigen.« Vierzehn Jahre später heißt es in seinem Lettres à M. de Voltaire: »Sie wissen, mein Herr, daß ich im Alter von Fünfzehn (!) Jahren einer Ihrer glühendsten Bewunderer war … Ich war damals aufrichtig. Das bin ich jetzt nicht weniger, wo sich meine Überzeugung geändert hat.«

Clément entfaltete eine ungewöhnliche Wirksamkeit. In seinen Observations critiques befehdete er Saint-Lambert, weil er Voltaire in seinem Gedicht Les Saisons gepriesen hatte, ließ weder ihm noch Voltaire die geringste Ehre und ergriff von Herzen die Gelegenheit, den herunterzureißen, an den er in früheren Jahren ein Gedicht begonnen hatte:

O toi que j'aime autant que je t'admire.

In seinen Briefen an Voltaire, in seiner Epistel Boileau à M. de Voltaire griff er Voltaire nicht nur als Schriftsteller an – er habe seine Verse von Racine gestohlen usw. – sondern auch als Privatmann; sein großes Vermögen sei skandalös; kein früherer Dichter habe sich herabgelassen, wie er Geschäfte zu machen. Ebenso flocht er auch in seine Angriffe auf Saint-Lambert Andeutungen über dessen Privatleben ein, besonders über sein angebliches Verhältnis zu Madame d'Houdetot.

Er verdiente gewiß nicht, daß ihn Voltaire in seinem Gedicht Les Cabales verewigte. Darin sagt Clément:

J'ai fait des méchants vers, et vous pouvez bien croire
Que je n'ai pas le front de prétendre à la gloire.
Je ne veux que l'ôter à quiconque en jouit;
Dans ce noble métier l'ami Fléron m'instruit.

und Voltaire schreibt:

Laissons là de Dijon le pauvre garnement,
Des bâtards de Zoïle imbécile instrument;
Qu'il court à l'hôpital, où son destin le mène!
Allons nous réjouir aux jeux de Melpomène.

Tatsächlich begann, wie die Schlußzeile sagt, Voltaire wieder, Tragödien zu schreiben.

Die nicht seltenen Krankheitsfälle, die Voltaire in seinen letzten zehn Jahren überstand, riefen Gerüchte von seinem Tod hervor, die in rechtgläubigen Kreisen, auch in protestantischen Ländern wie Dänemark, lebhafte Befriedigung erzeugten.

J. H. Bernstorff schrieb am 15. Oktober 1768 aus Lille an seinen Neffen A. P. Bernstorff, daß Voltaire plötzlich gestorben sei, woran er den folgenden Unsinn knüpfte: »Er hat ohne Vorbereitung diese Welt, deren Sein er zu zerstören gewünscht hatte, um einer anderen willen verlassen.« Am 1. November antwortet A. P. Bernstorff, der scheinbar nicht wußte, daß Voltaire Deist war, mit dem noch gehässigeren Unsinn: »Voltaires Tod scheint mir eine Erlösung für die Welt. Es gibt ein Ungeheuer weniger, ein Götze ist in Trümmer gegangen. Mögen seine Anbeter jetzt nur von ihren Irrtümern lassen und durch aufrichtige Reue die unfaßbare Wut auslöschen, mit der sie sich gegen die einzige Quelle ihres Daseins und all der Wohltaten, mit denen sie täglich überhäuft werden, erklärt haben.«

Die Bildungsstufe der beiden deutsch-dänischen Minister war nicht schwindelerregend hoch.

Auch nicht die des dänisch-deutschen Baggesen, der 1785 Voltaire »den Ruhm der ganzen Erde, dessen Name sogar den strahlenden Homer verdunkelt, den ewig großen herrlichen Voltaire« genannt hatte, der aber im Januar 1790 im Labyrinth schrieb: »Könnte ich die Existenz Voltaires aus meinem Bewußtsein auslöschen, ich würde zwei Jahre meines Lebens dafür geben.«

Diese Äußerungen im Verein mit der bereits angeführten Oehlenschlägers erfüllen das Herz eines jetzt lebenden Dänen nicht mit Stolz.


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