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Einige Jahre vorher hatte Friedrich der Große an Voltaire geschrieben: »Ich zweifle daran, daß es einen Voltaire in der Welt gibt, und ich besitze ein System, mit dessen Hilfe ich seine Existenz bestreiten kann. Es ist unmöglich, daß ein einzelner Mensch die ungeheure Arbeit vollbringen kann, die Herrn de Voltaire zugeschrieben wird. Augenscheinlich gibt es in Cirey eine Akademie, aus der Elite der Erde zusammengesetzt, Philosophen, die Newton übersetzen und bearbeiten, Dichtern heroischer Epopöen, Corneilles, Catulls, Thukydides, und die Arbeiten dieser Akademie werden unter dem Namen Voltaire herausgegeben, ebenso wie man die Taten eines Heeres auf den Feldherrn zurückführt.«
Im Monat Juli 1750 traf Voltaire in Potsdam ein und wurde wie ein Halbgott empfangen.
Nicht nur der König war begeistert von ihm. Täglich war ein Couvert für ihn gedeckt sowohl bei der Königin-Witwe wie bei der jungen Königin Friedrichs, die verlassen und verstoßen in Schönhausen bei Berlin wohnte. Er gewann ebenso Friedrichs Brüder, die Prinzen von Preußen für sich. Sie spielten in seinen Stücken. Er studierte ihre Rollen mit ihnen vertraulich ohne Untertänigkeit, mit der Lebhaftigkeit, die er in allen Menschen zu erwecken verstand.
Da seine Gesundheit zart und seine Verdauung schwach waren, hielt er sich von Friedrichs Mittagsgesellschaften am liebsten fern: »Da sind zu viele Generale und Prinzen«, pflegte er zu sagen. Aber bei den Abendmahlzeiten des Königs war er unentbehrlich. Diese waren ungewöhnlich heiter und unterhaltend.
Die Gesellschaft bestand aus all den hervorragenden Freidenkern, die Friedrich meist aus Frankreich, doch auch aus anderen Ländern an sich gezogen und um seinen Tisch versammelt hatte. Die Unterhaltung wurde immer und ausschließlich französisch geführt.
Da war der liebenswürdige Abenteurer, der Marquis von Argens, anziehend, zugleich aber auch kenntnisreich und gelehrt, den der König nach seiner unheilvollen Gewohnheit bald demütigte, bald gut behandelte.
Da war La Mettrie, der berühmte Zyniker und Arzt, der als Naturforscher seiner Zeit weit voraus war, ein kühnes naturwissenschaftliches Talent, dessen Umfang zu ermessen selbst Voltaire nicht imstande war. Voltaire fühlte sich außerdem von La Mettries Gottlosigkeit abgestoßen, die Friedrich, trotzdem er Deist war, ihm nicht übel nahm. Er war auf Grund des sogenannten Materialismus seiner Bücher aus Holland und aus Frankreich vertrieben und war heimatlos, bis ihm Friedrich ein Obdach gab.
Da war der tapfere Ritter von Chasot, der in zahlreichen Schlachten seinen Heldenmut bewiesen und die Bagage des Königs in einem Treffen bei Czaslau gerettet hatte. Er hielt sich bei Friedrich seit 1742 auf, war nun aber Potsdams etwas müde geworden und ging – da der König es nicht gern sah, wenn man ihn verließ – kurze Zeit darauf unter dem Vorwand schlechter Gesundheit nach Paris zurück.
Da war der sanfte Venezianer, Graf Algarotti, Mathematiker und Newtonianer, den wir Madame du Châtelet in Cirey haben besuchen sehen, und an den Voltaire das von Desfontaines auf so unverschämte Weise veröffentlichte Gedicht gerichtet hatte, in dem der Dichter Emilies Reize denen des Nordpols vorzog. An ihn hatte er auch die scherzhafte Epistel 75 gerichtet, als der König von Sachsen Algarotti den Titel Conseiller de guerre verliehen hatte. Darin stehen die folgenden niedlichen Zeilen:
Brillant et sage Algarotti
A qui le ciel a départi
L'art d'aimer, d'écrire et de plaire,
Et que pour comble de bienfaits
Un des meilleurs roi de la terre
A fait son conseiller de guerre
Dès qu'il a voulu vivre en paix.
In einem scherzhaften Sonett hatte Voltaire bereits vor langer Zeit Algarotti als Dichter und als Anhänger der optischen Lehre Newtons mit Apollo verglichen, dem Gott des Lichts und der Verse. Voltaire bewahrte seine Freundschaft für Algarotti sein Leben lang. So hoch aber seine Meinung von ihm auch war, eine so unvorteilhafte Meinung hatte er von seiner Vaterstadt, die er doch niemals gesehen hatte, noch zu sehen bekam. Es ist überhaupt ein lehrreiches Zeichen für den Geist der Zeit, daß ein Land wie Italien keinerlei Anziehungskraft auf Voltaire ausübte und niemals in ihm die Lust erregte, es einmal zu sehen und zu studieren. Was Venedig betrifft, so schien ihm das dortige Regierungssystem nur lächerlich. Er fühlte sich von der Inquisition abgestoßen und meinte das Volk im Aberglauben versunken. So in einer Epistel an Friedrich, deretwegen er Algarotti bittet, nicht böse zu sein:
Vos pantalons à robe d'encre,
Vos lagunes à forte odeur,
Où deux galères sont à l'ancre,
Dix mille putains dont le …
Plus que les canaux est profond.
Malgré le virus qui l'échancre;
Un palais sans cour et sans parc
Où végète un doge inutile;
Un vieux manuscrit d'Evangile,
Griffonné, dit-on, par Saint Marc;
Vos nobles, avec prud'homie
Allant du sénat au marché
Chercher pour deux sous d'eau-de-vie;
Un peuple mou, faible, entiché
D'ignorance et de fourberie,
Voilà le portrait ébauché
De la très noble seigneurie.
Or cela vaut-il, je vou prie
Notre adorable Frédéric …
Unter Friedrichs Gästen war weiterhin der landflüchtige Schotte George Keith, der gern Mylord Maréchal genannt wurde, weil die schottische Marschallswürde in seiner Familie erblich war. Ihn hatte Friedrich bei seiner Thronbesteigung als seinen außerordentlichen Gesandten nach Frankreich geschickt, und Keith blieb bis zu seinem Tode Friedrich nicht nur treu, sondern blieb auch in seiner Nähe. Als er noch jünger gewesen war, hatte er eine kleine Türkin bei sich gehabt, die bei der Einnahme von Oksakoff erbeutet worden war; er behauptete, als er achtzig Jahr alt war, daß das Buch von Père Sanchez De matrimonio ihm Lust gemacht habe, sich zu verheiraten, war im übrigen aber sein ganzes Leben hindurch ein witziger, guter und rechtlicher Mann.
Da war außerdem der ehemals so gute Freund Voltaires und der schönen Emilie, Moreau de Maupertuis, Mathematiker, Physiker und Astronom, einer der ersten, der für Newtons Lehre von der Differential- und Integralrechnung eingetreten war und seine Partei gegen Descartes ergriffen hatte. Ihn hatte, wie wir sahen, Friedrich zum Präsidenten der Berliner Akademie gemacht; aber trotz der Freundschaft, mit der ihn seinerzeit sowohl Voltaire als auch Emilie du Châtelet behandelt hatten, konnte er auf preußischem Boden in Sans-Souci in dem neuangekommenen Voltaire unmöglich etwas anderes als einen unangenehmen Nebenbuhler sehen. Er hatte vor langer Zeit zusammen mit Algarotti und Clairaut und mehreren anderen die wissenschaftliche Lapplandreise unternommen, die wir kennen. Er war außerordentlich stolz auf sie, so ungefährlich sie auch gewesen war. Sie war nützlich gewesen. Maupertuis hatte beim Gradmessen die Richtigkeit der Lehre Newtons von der Abplattung der Erde an den Polen festgestellt, außerdem mit den Offizieren der schwedischen Garnisonstädte Champagner getrunken und sich in Torneå von zwei Schwestern lieben lassen, die er nach Paris entführte, weshalb deren Vater (vergeblich) eine Klage gegen ihn anstrengte (man vergleiche Voltaires Dialogue d'un Parisien et d'un Russe). Er hatte die recht unschuldige Eitelkeit besessen, sich bei seiner Heimkehr in einem Schlitten mit Pelz und Mütze malen zu lassen.
Voltaire schrieb unter dieses Porträt die schmeichelhaften Zeilen:
Ce globe, mal connu, qu'il a su mesurer,
Devient un monument, où sa gloire se fonde,
Son sort est de fixer la fortune du monde,
De lui plaire, et de l'éclairer.
Anfänglich war Voltaires Verhältnis zu allen Tischgästen des Königs ganz vortrefflich; zum König selbst gegenseitiges Entzücken. Man lese den Brief aus Charlottenburg an d'Argental vom 20. August 1750: »Friedrich der Große gleicht in einem und allem Marcus Aurelius mit der einen Ausnahme, daß der römische Kaiser keine Verse schrieb, und daß Friedrich ausgezeichnete Verse schreibt.« Er habe sogar mehr Phantasie als Voltaire selbst, Voltaire habe nur mehr Routine als er. Der König bitte ihn deshalb, Verse für ihn zu korrigieren und weit entfernt davon, ihn in die Steinbrüche zu senden, wenn er sie dann korrigiert (wie es der Tyrann Dionysus im Altertum mit Philoxenes tat), dankt er ihm sogar tausendmal dafür. Die Prosa des Königs sei seinen Versen vollkommen gleichwertig; sie sei bewundernswert. Er schreibe nur zu schnell: das haben ihm seine Hofleute nicht gesagt; das erfährt er von Voltaire. Nicht genug, daß der König ein großer Mann ist: »Er ist der beste Mensch in der Welt, oder ich bin der dümmste Mensch in der Welt.« Die Philosophie habe seinen Charakter vervollkommnet; er habe sein Wesen durchgearbeitet, wie er jetzt seine Werke durcharbeitet.
Die Gespräche am Tisch des Königs waren in der Regel auserlesen. Es saßen nur geistreiche Leute am Tisch, und alle waren auf Einen Grundton gestimmt.
Friedrich verstand es, sie durch Widersprüche dahin zu bringen, ihr Bestes zu geben. Es drehte sich um Moral, Philosophie, Geschichte, Religion. Aber es waren Skeptiker und Zyniker, die da sprachen, und deren Freispruch war unbedingt. Es waren Orgien an Spöttereien über Dogmen und Vorurteile; die ausgelassensten Scherze über die Bibel und die Offenbarung, über die Kirche und deren Diener; und die tollsten Witze über bekannte Zeitgenossen, Monarchen wie Hofleute, Hofleute wie Schriftsteller.
Man trank nicht viel Wein, aber man trank sich einen Rausch an in den lustigsten und dreistesten Einfällen. Und die Mahlzeiten dauerten so lange in die Nacht hinein, daß die Diener, die aufwarteten, von dem langen Stehen geschwollene Beine bekamen.
Voltaire war bei diesen Festen des Witzes derjenige, der am stärksten glänzte durch seine Geistesgegenwart und durch die Form seiner Einfälle. Er besaß außerdem die Eigenschaft, die die Franzosen mit boute-en-train bezeichnen. Er riß die andern mit, erreichte, daß auch sie lustig und witzig waren.
Trotzdem gab es Ursachen zur Verstimmung zwischen ihm und dem König.
Voltaire hatte Friedrich seinerzeit die Wahl überlassen zwischen Fréron und sich, nachdem er mit seiner gewohnten unbändigen Leidenschaftlichkeit seinen Angreifer als Auswurf geschildert hatte. Friedrich hatte sich gefügt; aber er war nicht gewohnt, sich zu fügen.
Als Friedrichs ungerechte Lobsprüche bald darauf d'Arnaud in den Kopf gestiegen waren, und er begann, bösartige und unwahre Gerüchte über Voltaire in Frankreich in Umlauf zu setzen, mußte Voltaire den König vor die Wahl zwischen d'Arnaud und sich stellen. Es kam da keine Wahl in Frage; Friedrich mochte aber nicht zum zweitenmal zu einer solchen Entscheidung gezwungen sein. Vous avez d'abord, d'une façon assez singulière, exigé de moi de ne point prendre Fréron pour m'écrire des nouvelles. J'ai eu la faiblesse ou la complaisance de vous l'accorder, quoique ce n'était pas à vous de décider de ceux que je prendrais en service. D'Arnaud a eu des torts envers vous; un homme généreux les lui eût pardonnés; un homme vindicatif poursuit ceux qu'il prend en haine. Enfin, quoique d'Arnaud ne m'a rien fait, c'est par rapport à vous qu'il est parti d'ici.
Voltaire hatte von Friedrich seine Reiseunkosten glatt bewilligt erhalten und alle Forderungen waren erfüllt worden; er hatte außerdem große Versprechungen hinsichtlich seiner wirtschaftlichen Zukunft erhalten. Aber Friedrich, der aus bitterer Notwendigkeit sparsam war, sparsam bis zum Geiz, fühlte die Last der großen Ausgaben und konnte sich wegen seines gegebenen Wortes nur über die Gastfreiheit ärgern, die Voltaire nun täglich in seinem eigenen Schloß ausübte. In seiner Neigung zu Neckereien ließ er ihm unzureichende Beleuchtung und unzureichende Rationen an Zucker und Kaffee geben. Voltaire beklagte sich vergeblich darüber. Nach dem Hofklatsch soll er sich in der Folge dadurch gerächt haben, daß er aus dem Salon Lichter auf sein Zimmer nahm.
Dies war unbedeutend. Aber schon fünf Monate nach der Ankunft erlitt Voltaires gutes Verhältnis zum König einen fühlbaren Stoß. Der Anlaß war folgender:
Der Kurfürst von Sachsen hatte Papiergeld ausgegeben, sogenannte Steuerscheine, die auf die Hälfte des Wertes, auf den sie lauteten, gesunken waren. Nach dem Siege Friedrichs war im Friedensvertrag bestimmt worden, daß jeder Preuße, der solche Scheine besaß, ihren vollen Wert ausbezahlt erhalten sollte. Dieser unglücklich abgefaßte Paragraph verursachte eine zügellose Börsenspekulation. Preußen kauften diese Scheine in Holland billig auf und bekamen sie zum vollen Werte eingelöst. 1748 war der Skandal so groß geworden, daß Friedrich, nachdem Sachsen um Hilfe gebeten hatte, diese Papiere in Preußen gänzlich verbot.
Wir haben gesehen, welche wunderliche Mischung von grand seigneur und Geschäftsmann Voltaire darstellte. Er gab den Schauspielern, selbst wenn er unzufrieden mit ihnen war, in der Regel die ganzen Einnahmen, die er aus seinen Stücken bezog. Die Einnahmen aus seinen Büchern überließ er den Verschiedensten, ganz abgesehen davon, daß sich die Buchhändler rücksichtslos auf seine Kosten bereicherten.
Da er also weder mit dem Theater noch mit der Literatur als Einnahmequelle rechnete, so hatte er sich schon früh sein Vermögen durch Geschäfte großen Stils erworben, teils durch direkte Kaufmannsgeschäfte, wie Kornhandel und Lieferungen, teils durch Geldspekulationen, zu denen ihm seine Verbindungen die Möglichkeit verschafften. So heftig er in seiner Verurteilung von John Law, ja manchmal auch der Brüder Pâris war, die seine eigenen Bankiers waren und über die er den folgenden lateinischen Vers schrieb:
Et Paris et fratres et qui rapuere sub illis,
so eifrig war er andererseits, die Chancen auszunutzen, die ihm das Leben bot; ja, er lieh seinen vornehmen Freunden gelegentlich Geld zu guten Zinsen; er kaufte und verkaufte Güter. Er erwies sich als großzügig auf wirtschaftlichem Gebiet, wenn er Unterstützungen in erstaunlicher Zahl gab oder bald Verwandte, bald Wildfremde förmlich adoptierte, und er trat bisweilen mit kleinlicher Habgier auf, mit Staunen erregender Zanksucht, mit aufreizender Rechthaberei, wie in seinem Prozeß (1761) mit dem Präsidenten von Brosses um einige Klafter Holz, ein Prozeß, in dem er außerdem noch schreiend Unrecht hatte.
Kurz nach seiner Ankunft in Berlin trat er mit zwei jüdischen Geschäftsleuten (Schutzjuden) in Verbindung, dem Vater und Sohn Abraham Hirschel. Er lieh dem Vater im September 4430 Taler, wofür dieser einen Wechsel ausstellte; mit dem Sohn, der ein Juwelengeschäft in der (zur Judengasse ja nicht gerade geeigneten) Heiligengeiststraße hatte, kam er in Berührung, als er im November 1750 von ihm eine Anzahl Diamanten lieh, die er in der Rolle des Cicero bei der Aufführung seines eigenen Stückes Rome sauvée vor dem Bruder des Königs, dem Prinzen Heinrich, trug. Wahrscheinlich hat Hirschel bei dieser Gelegenheit Voltaire darauf aufmerksam gemacht, daß sich Geschäfte machen ließen und daß viel Geld zu verdienen war, wenn man sächsische Steuerscheine kaufte und verkaufte.
Es ist nicht anzunehmen, daß der Jude Voltaire darüber in Unwissenheit gelassen hat, daß ein derartiger Handel durch Friedrichs Verordnung vom 8. Mai 1748 streng verboten war. Aber Voltaire kam aus einem Land, in dem die Protektion durch irgendeinen, der hoch in Rang und Würden stand, geschweige denn die eines alleinherrschenden Königs, über die Regel erhob und Ausnahmen von der allgemeinen Rechtsordnung schuf; es ist daher höchst wahrscheinlich, daß er keinen Augenblick daran gezweifelt hat, daß ein besonderer Favorit des regierenden Königs (wie er selbst) auch in Preußen als Ausnahme betrachtet werden würde, für den das Gesetz nicht galt, so daß man ihm seine Geldgeschäfte schon nachsehen würde, selbst wenn sie nicht vollkommen heimlich blieben. Von preußischer Disziplin wußte er noch nichts.
Er ging also auf den Vorschlag ein und beauftragte den jüngeren Hirschel im November 1750, nach Dresden zu reisen und ihm für 40 000 Francs von diesen Papieren zu kaufen. Auf Wegen, die wir nicht kennen, hat der König von diesem Handel erfahren und, was nicht verwundern kann, einen Anfall stärkster Erbitterung darüber gehabt. Sobald Voltaire von der Empörung des Königs erfuhr, sah er ein, welche Torheit er begangen hatte, und nicht genug damit, daß er sofort Contra-Ordre gab und seinen eigenen Wechsel protestierte – in der Hoffnung, die königliche Gnade wiederzugewinnen, leugnete er jetzt, überhaupt irgendeinen Auftrag zum Einkauf von Steuerscheinen erteilt zu haben, und versuchte, der ganzen Angelegenheit einen anderen Charakter zu geben. Er hätte Hirschel ersucht, für ihn Juwelen und Pelze zu kaufen. Als wenn Voltaire ein Juwelenhändler wäre und als wenn man Pelze in Dresden kaufte!
Es kam zu einem höchst widerwärtigen Prozeß, in dem Voltaire um keinerlei Geldgewinn kämpfte, sondern um seine Ehre, seinen Namen und sein Ansehen, seine ganze Stellung am preußischen Hof. Aber er tat es freilich durch den Gebrauch aller Mittel, u. a. durch Unwahrheiten, deren schriftliche Bekräftigung vor dem Gericht sich wie Meineid ausnimmt, während der Jude, der von Voltaire mit Verachtung überschüttet wurde, sich als eine ganz gewöhnliche Krämerseele erwies, wahrheitsliebend, wenn es nicht nötig war zu lügen, verlogen, wenn er glaubte, es ginge durch, stets bereit, wahre und falsche Beschuldigungen durcheinander hinauszuschleudern; er genoß die Situation, eine Berühmtheit kompromittieren zu können, war halbehrlich, halbschuftig, halb Biedermann und ganzer Lügner.
Alle Aktenstücke des Prozesses sind in dem Buch Voltaires Rechtsstreit mit dem Königlichen Schutzjuden Hirschel von Wilhelm Mangold mit größtem Fleiß gesammelt (Berlin 1905). Es macht einen traurigen Eindruck.
Für Friedrich den Großen war, wie der Prozeß auch ausfiel, das Anstößige, daß ein königlich preußischer Kammerherr mit dem Verdienstorden und 20 000 Francs Jahresgehalt einen Prozeß mit einem halbberüchtigten jüdischen Agenten wegen eines Handels mit verbotenen Papieren führte. Das für ihn persönlich Unerträgliche war, daß dies der Mann war, zu dem er nicht nur als Genie, sondern auch als Freund aufgesehen, der Mann, den er als Jüngling vergöttert hatte, der sich hier als gefeierter Gast seines Schlosses in der Hoffnung auf eine ungesetzliche Bereicherung, die er gar nicht nötig hatte, mit Pack einließ.
Für uns ist das traurigste, daß durch die grundsätzliche Betrachtung der Notlüge als berechtigte Kriegslist und (da in Frankreich die ganze Gesellschaft mit den Denkenden im Kriege lag) erlaubte Waffe, Voltaire, der dieser Grundanschauung infolge der Ungunst der Verhältnisse jeden Tag gefolgt war, dazu geführt wurde, das ursprünglich edelste und schönste Verhältnis seines Lebens und alles, was er sich in zwanzig Jahren gewonnen und erarbeitet hatte, aufs Spiel zu setzen und zu verschwenden wegen des jämmerlichen Streits um eine Geldsumme, die er nicht einmal brauchte und die er vielmals in seinem Leben verloren oder fortgegeben hatte, ohne eine Miene zu verziehen.
Doch der Fall ist noch weit tragischer. Aus dem elenden Rechtsstreit mit dem Juden Hirschel stammt nicht nur Friedrichs plötzlich eingetretene Verachtung des Voltaireschen Charakters, dessen Schwächen er ganz falsch erklärte, aus Geldgier herleitete statt aus cholerischer Zanksucht und Rechthaberei, sondern die ganze deutsche Geringschätzung Voltaires durch anderthalb Jahrhunderte, die gehässige Haltung in Lessings Dramaturgie und sogar noch der überlegene Ton in den Straußschen Vorlesungen ein Jahrhundert später.
Und niemand hat vorgebracht, welche Schuld ein barbarischer Zustand wie der des französischen Staates dadurch gehabt hatte, daß er die Unwahrhaftigkeit als einziges, und sogar noch unzureichendes Mittel erzeugte, sich gegen Einsperrung und Landesverbannung zu sichern.
König Friedrich hatte Voltaire den Befehl überbringen lassen, ihm nicht vor die Augen zu kommen, so lange der Prozeß dauerte. Hirschel wurde wegen Ableugnung seiner Unterschrift zu einer kleinen Buße von zehn Talern verurteilt und außerdem zur Auslieferung des Wechsels, den er zurückbehalten hatte. Voltaire mußte durch seinen Eid erklären, daß er nach seiner Unterschrift an den Abkommen vom 19. und 24. Dezember 1750 nichts geändert hatte; er mußte Hirschel die »Konvention« zurückgeben oder durch Eid bekräften, daß sie nicht existiert hatte; er mußte nach einer neuen Schätzung gewisse in dem Abkommen genannte Juwelen als Bezahlung für eine Schuld von 3000 Talern annehmen. Die Kosten sollten gegeneinander aufgehen. Im übrigen wurde ein Vergleich geschlossen, nach dem Hirschel tausend Taler weniger bezahlte.
Voltaire schrieb dem König am selben Tag einen Freudenbrief, daß er den Prozeß gewonnen hatte. Der Sieg war nicht groß; er bestand im wesentlichen darin, daß er seinen Wechsel auf 40 000 Francs zurückbekam. Und einen moralischen Sieg gewann er nicht.
Friedrich antwortete aus Potsdam auf diesen Brief, in dem Voltaire zugleich seine Unschuld und seine Ergebenheit beteuert hatte:
Wenn Sie hierherkommen wollen, steht es Ihnen frei. Ich möchte hier nichts mehr über irgendeinen Prozeß hören, auch nicht über Ihren. Da Sie ihn gewonnen haben, gratuliere ich, und ich freue mich, daß die Geschichte zu Ende ist. Ich hoffe, Sie werden keine Prozesse mehr führen, weder mit dem Alten noch mit dem Neuen Testament. Solche Verträge lassen Brandmale zurück, und mit allen Talenten des größten französischen Schöngeistes können Sie nicht die Flecke verdecken, die ein solches Verhalten auf die Dauer auf ihrem Namen und ihrem Ruf erzeugen würde.
Wochen hindurch hatte Voltaire hartnäckig geleugnet, ein Abkommen eingegangen zu sein, dessen Vorhandensein er schließlich doch einräumen mußte. Die Ansicht in Friedrichs Brief war unzweideutig, daß das eine schmutzige Sache war, und er gab Voltaire zu verstehen, daß es, selbst wenn der Prozeß formell gewonnen war, fast gleichmäßig häßlich war, einen solchen Prozeß zu gewinnen oder zu verlieren.
Lessing, der ungefähr 22 Jahre alt war, nahm französischen Unterricht bei einem in Berlin wohnenden Franzosen, Richier de Louvain, der damals, nachdem Tinois, der dem Prinzen Heinrich La Pucelle ausgeliefert hatte, entlassen worden war, als Sekretär bei Voltaire arbeitete. Dieser verwandte Lessing als Dolmetscher und Übersetzer bei der Überführung der französischen Eingaben in den deutschen Kanzleistil, und der Einblick, den der junge Deutsche dadurch in die Aktenstücke des Prozesses bekam, gab, wie erwähnt, seiner Dankbarkeit gegenüber Voltaire für das, was er ihm geistig schuldete, den ersten entscheidenden Stoß. Er schrieb über den Prozeß das altmodisch verfaßte und wenig poetische aber boshafte Gedicht, dessen Schluß lautet:
Sagt Musen, welcher Gott stand hier dem Dichter bey,
Und wies ihm unverhüllt verhüllte Schelmerey?
Wer sonst, als der fürs Geld den frommen Thor betrog,
Wenn er vom Dreyfuß selbst Orakelsprüche log?
Er, der Betrug und List aus eigner Übung kennet,
Durch den Voltaire gebrannt und jeder Dichter brennet.
Ja, ja, du wachtest selbst für deinen braven Sohn,
Apoll, und Spott und Reu war seines Feindes Lohn.
Du selbst – – doch wackrer Gott, dich aus dem Spiel zu lassen,
Und kurz und gut den Grund zu fassen,
Warum die List
Dem Juden nicht gelungen ist;
So fällt die Antwort ohngefehr:
Herr Voltaire war ein größrer Schelm als er.
In diesen Jugendjahren war Lessing jedoch noch ein unbedingter Bewunderer Voltaires als Denker und Schriftsteller; er erhielt von ihm die Erlaubnis, Kleinere historische Schriften des Herrn von Voltaire zu übersetzen und herauszugeben. Ja, er machte sogar den Versuch, französisch zu schreiben ( Palaion 1750). Vielleicht hat er gehofft, es würde ihm gelingen, die Aufmerksamkeit des großen Königs mit Hilfe des französischen Günstlings auf sich zu ziehen. Aber sein eigenes Verhältnis zu Voltaire wurde nur allzu schnell und gründlich zerstört. Voltaire, der nach Madame du Châtelets Tode endlich Freiheit und Stimmung hatte, das Werk Le Siècle de Louis Quatorze zu vollenden, hatte zwanzig Exemplare als Weihnachtsgabe für den König und die Hofgesellschaft bestimmt, ehe das Buch offiziell erschien. Lessing sah die ersten Bogen bei Richier de Louvain, nahm sie mit und war sogar so rücksichtslos, sie einem Bekannten zu leihen, dem Hauslehrer Drechsel. Die Gräfin Bentinck, geborene Gräfin von Altenburg, Voltaires Freundin, die die Bogen im Hause Schulenburg sah, wo Drechsel unterrichtete, machte Voltaire Vorwürfe, daß er ihr ein Buch, nach dem sie sich so stark sehnte, vorenthalten habe. Voltaire wurde von einer Angst ergriffen; er zweifelte nicht daran, daß der eine oder der andere Buchhändler sich des Werkes bemächtigt hatte oder es tun würde. Sein Mißtrauen erhöhte sich, da sich Lessing gegen Ende Dezember nicht mehr in Berlin aufhielt, und das fortgenommene Exemplar, das er noch nicht ausgelesen hatte, mit sich über die preußische Grenze nach Wittenberg genommen hatte. Voltaire ließ Richier einen vorwurfsvollen Brief an Lessing schreiben und entließ ihn danach aus seinem Posten als Sekretär, schrieb dann selbst einen höflichen Brief an Lessing, worin er ihm doch zu verstehen gab, daß die sächsische Justiz dem Verfasser zu seinem Eigentum, dessen man ihn beraubt hatte, verhelfen könne. Lessing sandte die Bogen Richier mit einer Entschuldigung zurück und antwortete Voltaire in einem dem Verlauten nach groben lateinischen Briefe, der verloren gegangen ist.
Obgleich Lessing sein Leben lang Voltaire immer geistig verpflichtet blieb, und obgleich er in der unbedeutenden Angelegenheit mit dem entführten, noch nicht veröffentlichten Buch ein durchaus nicht zweifelhaftes Unrecht begangen hatte, wurde sein Verhältnis zu dem großen Franzosen von nun an nur ein gehässig herabsetzendes. Viel später noch, als er Nathan der Weise schrieb, benutzte er als Charakter Saladins die Gestalt, wie er sie in Voltaires Geschichte der Kreuzzüge gefunden hatte. Aber in der Hamburgischen Dramaturgie beurteilt er, wie ich es 1870 ausdrückte ( Die französische Ästhetik im Abschnitt Die Kritik), Voltaires französische Tragödien so vorurteilsvoll, wie Voltaire selbst in der Regel die hebräische Poesie kritisierte. An Zaïre, Sémiramis, Mérope legt er unweigerlich Shakespeare als Maßstab an, der für ihn keine historisch bedingte Persönlichkeit war, deren Mängel von einem Tolstoi karikiert werden könnten wie die Voltaires von Lessing, sondern der Musterdichter, nach dessen Maß sogar Werke, die aus einer ganz verschiedenartigen Zivilisation stammen, gemessen oder verworfen werden sollten.
Das Zusammenleben zwischen Friedrich und Voltaire wurde wieder aufgenommen, wenn auch ohne die Herzlichkeit der ersten Tage. Friedrich begann jetzt, zwischen Voltaires Genie, das eine Sache für sich war, und seinem Charakter zu unterscheiden, den er gering schätzte, aber niemals mit Verständnis zu beurteilen vermochte.
Im übrigen war Voltaire bei Hofe sehr beliebt, und das Leben dort gestaltete sich anscheinend ganz wie früher.
Doch teilte ihm La Mettrie eines Tages vertraulich etwas mit, das ihn seiner Sorglosigkeit beraubte. Auf eine Äußerung darüber, wie stark Voltaire wegen der Gunst, in der er stand, beneidet wurde, hatte Friedrich geantwortet: »Bah, man preßt die Apfelsine aus und dann wirft man die Schalen fort!« Voltaire beschwor La Mettrie, ihm zu sagen, ob das nicht eine Erfindung sei, um ihn zu necken. Aber La Mettrie versicherte, daß die Worte so gefallen waren.
Voltaire hatte ein Gefühl, als ob ihm der Boden unter den Füßen fortgezogen würde. Und als er weitere Aufklärung suchte, war La Mettrie plötzlich gestorben.
Einige Zeit darauf teilte Maupertuis Friedrich mit, daß eines Tages General Manstein bei Voltaire war, weil er seine Erinnerungen an Rußland durchgesehen haben wollte, als man dem Dichter Verse vom König brachte, die er verbessern sollte; da habe Voltaire zu Manstein gesagt: Lieber Freund! Kommen Sie lieber noch einmal! Der König schickt mir da seine schmutzige Wäsche zum Waschen. Das nächste Mal wasche ich Ihre.
Voltaire leugnet bestimmt, diese Wendung gebraucht zu haben; aber sie sieht ihm ähnlich, und auf jeden Fall hat Friedrich geglaubt, er habe sie getan, und sich sehr verletzt gefühlt.
Doch ging alles ein paar Jahre hindurch seinen gewohnten Gang. 1752 entstand aber ein wissenschaftlicher Zwist zwischen Maupertuis, der durch die Gunst des Königs hochmütig geworden war, und Voltaires früherem Freunde König in Amsterdam, dem ausgezeichneten Mathematiker. Maupertuis glaubte, eine wichtige Entdeckung bezüglich der Gesetze der Bewegung gemacht zu haben, als er das Prinzip des geringsten Widerstandes aufstellte. König, der Maupertuis seine Ernennung zum Mitglied der Berliner Akademie verdankte, war mit ihm hinsichtlich der Grundgesetze der Bewegung nicht einverstanden, wollte aber seine Kritik nicht veröffentlichen, da er die Reizbarkeit des Präsidenten kannte und ihn nicht verletzen wollte. In seinem Übermut forderte Maupertuis ihn selbst dazu auf.
In Königs Abhandlung stand, daß Leibniz anscheinend einen ähnlichen Gedanken wie Maupertuis gehabt habe, was unzweifelhaft richtig war, und er führte zur Unterstützung einen Brief von Leibniz an einen Professor Hermann an. Ganz frei von der Lust an Neckerei war König wohl kaum. Wir haben gesehen, wie er gegen Madame du Châtelet einmal in dieser Art aufgetreten war und wie Maupertuis da für ihn gegen sie Partei ergriff, die zum Schluß ganz mit König brach.
Wahrscheinlich hat es ihm dann auch ein Vergnügen gemacht, Maupertuis einen Streich zu spielen.
Dieser wollte voller Erbitterung in der Berufung auf den Brief von Leibniz die Beschuldigung eines literarischen Diebstahls sehen, und als ihm bestätigt wurde, was er mit Recht vermutet hatte, daß König nicht das Original dieses Briefes besaß, bewog er die Berliner Akademie, die von ihm ganz abhängig war, dazu, Königs Verfahren als bewußte Fälschung hinzustellen.
König, der die gesunde Vernunft für sich hatte, antwortete mit einem Appell an das Publikum. Aber schon vor diesem Heft erschien eine kleine Flugschrift Antwort von einem Akademiker in Berlin, in der ernste Anklagen gegen Maupertuis zusammengedrängt waren: seine Zwangsherrschaft wurde bloßgestellt und sein häßliches Benehmen gegen einen stillen Gelehrten, dessen ganze Schuld eine wissenschaftliche Uneinigkeit mit ihm war. Es stand übrigens nicht ein spöttisches und nicht ein überflüssiges Wort darin.
Nur ein Meister des Stils konnte so geschrieben haben, und in Europa gab es nur einen, der diese Feder führte. Daß aber Voltaire sich in diesen Streit einmischen, einen Mann angreifen würde, der wie er selbst täglicher Gast an der Tafel des Königs war, und das nur anderthalb Jahre, nachdem ihm der König aufs eindringlichste zu verstehen gegeben hatte, daß er Frieden in seinem Hause haben wollte und Voltaires Zanksucht energisch mißbilligt hatte, das zeigt eine erstaunliche Unklugheit und Ungeschicklichkeit, beweist, daß sein Temperament ihn völlig in der Gewalt hatte.
Friedrich war aufs äußerste aufgebracht: das Blut des Vaters wallte in ihm: man wagte, den Präsidenten seiner Akademie, also seine Akademie, also ihn selbst lächerlich zu machen!
Er beschloß – anonym – dem anonymen Voltaire zu antworten. Sicherlich lag das Wort »schmutzige Wäsche« gärend dahinter.
Die Antwort des Königs, Brief von einem Akademiker in Berlin an einen Akademiker in Paris, ist Friedrichs nicht würdig. Sie ist nichts als Weihrauch für Maupertuis, von dem es in einem aufgeblasenen Stile heißt: Er genießt hier in Preußen zu seiner Lebenszeit den Ruhm, den Homer lange nach seinem Tode gewann: die Städte (Berlin und St. Malo) streiten sich, welche von ihnen seine Vaterstadt ist. – Maupertuis mit Homer verglichen!
Der Angriff auf den Präsidenten wird auf den niedrigsten Beweggrund zurückgeführt, auf Neid. Ja, es war so weit gekommen, daß Friedrich jetzt nicht nur gegen Voltaire schrieb, sondern auch die Worte gebrauchte: Unwissenheit, Lüge, Infamie, Verleumdung, Schändlichkeit usw. Die Sprache war französisch, die Grobheit deutsch.
Sie trafen sich wie früher bei den Mahlzeiten, unterhielten sich, als wäre nichts geschehen, aber welchen Zwang haben sie sich nicht auferlegen müssen!
Als die erste Ausgabe der Flugschrift Friedrichs erschien, wußten die deutschen Kritiker nicht, wer der Verfasser war, und sie behandelten ihn wie einen, der nichts von der Streitfrage verstand. Aber dann kam die zweite Ausgabe heraus mit dem preußischen Adler, einer Krone, einem Szepter auf dem Umschlag, und aller Zweifel war vorbei.
Wäre Voltaire von der Unmöglichkeit der Situation durchdrungen gewesen, hätte er vor allem das gute Verhältnis zum König bewahren wollen, so wäre für ihn nichts anderes zu tun gewesen, als nun aufzuhören, die Angelegenheit in Vergessenheit geraten und Maupertuis in Frieden zu lassen.
Aber leider! Er war bei all seiner Geschmeidigkeit kein Hofmann, sondern ein unruhiger, unbändiger Dichter, und trotz des Hoftones das unbändigste Geschöpf. Nicht umsonst war er der witzigste Mensch, der seit den Zeiten des Aristophanes und des Lucian gelebt hatte. Die Einfälle ließen ihm keine Ruh, und er konnte einen Witz nicht zurückhalten. Wie Molières Scapin mußte er Streiche und Possen anstiften, und hoffte, im schlimmsten Falle alles ableugnen zu können. Er war ja stets anonym. Die Verhältnisse der damaligen Zeit nötigten ihn dazu, und aus Gewohnheit war er es mit Vergnügen.
Gewiß schrieb er nicht eine Zeile gegen den König; schluckte, ohne das Gesicht zu verziehen, die groben Kränkungen, die von ihm kamen. Aber er konnte auf das Vergnügen nicht verzichten, den armen Marsyas zu schinden, Maupertuis, der mit dem hatte rivalisieren wollen, den der König selbst Apollon genannt hatte.
Mit seiner Antilopengrazie und seiner Tigerkraft erinnert Voltaire uns später Geborene an einen anderen »Teufel von Gottes Gnaden«, Heinrich Heine, der gesagt hat: es ist wahr, ich war durchaus kein Lamm. Aber wenn das Lamm Klauen und Zähne eines Tigers bekommen hätte, glaubt ihr denn, es hätte sie ungebraucht gelassen?
Maupertuis, der damals krank und zu größeren Arbeiten außerstande war, hatte gerade unter dem Titel Briefe eine Reihe kleinerer Artikel herausgegeben, die voll lächerlicher Annahmen und Vorschläge waren.
Darin lag ja an sich nichts Schlimmes. Holberg tat gelegentlich dasselbe. Renan hat etwas Ähnliches mit seinen Philosophischen Dialogen getan, worin vorgeschlagen wird, die Genies in einem neuen Elysium zu züchten und sie durch Sprengstoffe die Herrschaft über die Welt erobern zu lassen.
Maupertuis aber ließ seinen irrsinnigen Einfällen ganz geschmacklos die Zügel schießen. Er schlug vor:
man sollte ein ungeheures Loch graben, um zum Mittelpunkt der Erde zu kommen,
man sollte eine ganze lateinische Stadt bauen, wo man lateinisch predigte, Prozesse führte, Theater spielte – damit die Jugend dort in einem Jahr mehr Latein als sonst in einem ganzen Leben lernen konnte,
man sollte die Gehirne großer Menschen sezieren, um zu sehen, ob sie besser entwickelt waren als die Gehirne anderer Leute,
man sollte Ärzte nur honorieren, falls der Kranke gesund wurde, usw.
Voltaire ist von diesem Buch mit solchen Ungereimtheiten und Paradoxen förmlich besessen. Er träumt und spricht von nichts anderem. Und die Frucht davon war die berühmte Flugschrift: Die Geschichte vom Dr. Akakia (d. i. dem gutmütigen Arzt) und dem Eingeborenen von St. Malo.
Das witzige Büchlein trifft in keiner Hinsicht Maupertuis als Privatmann, ist frei von Schimpfworten wie von Grobheiten.
Der spöttisch persönlichste Zug ist der unschuldige Scherz, Maupertuis einen Lappländer, geboren in St. Malo, zu nennen, weil er auf seine Reise nach Lappland so stolz war.
Akakia ist als Arzt über die Aussicht beunruhigt, niemals Honorar zu bekommen, wenn nicht die Patienten gesund werden: »Er will uns Ärzte verhungern lassen; er behandelt uns wie seine Verleger.«
Akakia ist unruhig über das Loch, das zum Mittelpunkt der Erde gegraben werden soll; das muß einen Umfang wie ganz Deutschland bekommen, was das Gleichgewicht Europas zerstören würde. Die Wahrheit liegt zwar auf dem Grunde eines Brunnens; aber diesen Brunnen zu graben, würde zu schwierig sein.
In der lateinischen Stadt würden Köchinnen und Waschfrauen ja nicht von vornherein Latein verstehen, und fingen sie an, lateinische Grammatik zu lernen, so würde nicht gekocht und würden keine Hemden gewaschen werden.
Hier und da tut Voltaire Maupertuis Unrecht. Sein klarer, doch nicht tiefer Verstand genügte nicht für einzelne der Einfälle des Präsidenten. Maupertuis hatte gesagt, daß der Raum nur eine Vorstellung unseres Verstandes sei. Voltaire belehrt ihn darüber, jeder Schuljunge wisse, daß die Ausdehnung nicht wie Ton und Farbe nur in unseren Sinnen existiert. Hier ist es Voltaire, der wie ein Schuljunge denkt.
Wenn er weiterhin Maupertuis verspottet für den (allerdings falsch begründeten) Satz, daß die Kenntnis der Zukunft dieselbe Sache sein könne wie die Kenntnis der Vergangenheit, so durchdenkt er selber nicht die Frage. In der Astronomie kennen wie die Zukunft so genau wie die Vergangenheit, und zwar kraft derselben Einsicht. Wir kennen Tag und Stunde, wann eine Sonnenfinsternis nach Jahrhunderten stattfinden wird.
Wie die Schrift war, mußte man sie aber doch ein kleines witziges Werk streng literarischen Charakters nennen, das auf unschuldige Weise lächerlich machte. Im Vergleich mit Heines Polemik gegen Platen ist dies Zuckerwasserpolemik.
Die Schwierigkeit war, die Schrift herauszugeben.
Man brauchte eine königliche Bewilligung dazu, und Friedrich würde sie selbstverständlich niemals erteilen. Voltaire erlistete sie sich dadurch, daß er vorgab, er wolle eine Antwort veröffentlichen auf die Angriffe, die ein Züricher Theologe, Zimmermann, gegen den König und ihn als Freidenker gerichtet hatte. Mit dieser Bewilligung wurde Akakia gedruckt.
Maupertuis lag mit angegriffenen Lungen und kam nicht zu den Abendmahlzeiten. Friedrich und Voltaire taten weiter so, als ob nichts im Wege wäre, und als man eines Abends die Idee zu einer Art Sach-Lexikon bekam, das der kleine Kreis schreiben sollte, fing Voltaire sofort an, dem König Artikel auf Artikel mit gutem Humor zu senden: Abraham, Ame, Athéisme, Baptême. Aus diesem Einfall entstand Voltaires Dictionnaire philosophique, woraus seinerzeit wahrscheinlich sogar die Enzyklopädie, Diderots und D'Alemberts großes Werk, hervorging.
Man kann sich Friedrichs Erbitterung vorstellen, als er entdeckte, daß er hinters Licht geführt worden war, und daß Akakia gedruckt in Potsdam vorlag. Wer der Verfasser war, sah er auf den ersten Blick.
Er sandte seinen Kammerdiener zu Voltaire, um zu erfahren, wo die Auflage verborgen war. Voltaire wußte von nichts. Inzwischen gestand es der Buchdrucker, so daß es Voltaire nichts mehr nützte, unschuldig zu tun. Er versuchte dann dem König gegenüber, aus dem ganzen einen Scherz zu machen. Aber der König beschied ihn zu sich, ließ die Auflage im Schloß verbrennen und zwang Voltaire, eine Erklärung zu unterschreiben, daß er, so lange Seine Majestät ihm die Gnade erwies, ihn auf seinem Schloß wohnen zu lassen, nichts gegen Frankreichs Regierung, andere Herrscher oder berühmte Schriftsteller schreiben würde, sondern sich so aufführen wie es sich für einen Schriftsteller, der die Ehre hatte, Seiner Majestät Kammerherr zu sein und mit gebildeten Männern zu verkehren, geziemte.
Voltaire unterschrieb notgezwungen; war deshalb aber nicht weniger entschlossen, seinen Kampf durchzuführen. Sein Akakia war bereits auf dem Wege nach Dresden, um dort gedruckt zu werden. Und bald darauf erregte das Buch Jubel in Berlin, wo man Maupertuis wegen seines Hochmuts nicht leiden konnte und wo man die Partei des Spaßmachers ergriff.
Nun wurde Friedrich wild vor Zorn. Maupertuis sollte Genugtuung haben, und seine eigene Autorität nicht weniger. Die Exemplare, die man zu fassen bekam, wurden vom Henker an den verschiedenen Straßenecken Berlins verbrannt, u. a. vor dem Hause in der Taubenstraße, wo Voltaire während des Karnevals wohnte. Diese lächerliche Brutalität wurde von Friedrich am Weihnachtsabend 1752 ins Werk gesetzt, achtzehn Jahre nachdem Ludwig Voltaires Philosophische Briefe hatte verbrennen lassen. Darin waren die Könige einander ähnlich.
Für Friedrich war Voltaire zwar noch der große Schriftsteller, sonst aber das boshafteste Geschöpf, ein Affe, der die Peitsche verdiente.
Voltaire sandte Friedrich seinen Kammerherrnschlüssel, seinen Orden pour le mérite und seine Bestallung als königlicher Pensionär zurück und schrieb dazu ehrerbietig, fast zärtlich:
Je les reçus avec tendresse,
Je vous les rends avec douleur;
C'est ainsi qu'un amant dans son extrême ardeur
Rend le portrait de sa maîtresse.
Er bekam jedoch am selben Tage alles zurück.
Voltaire hatte jetzt nur einen Gedanken: fortzukommen. Aber das war sehr schwierig; er konnte nur die Rücksicht auf seinen Gesundheitszustand als Grund angeben. Denn Friedrich sah äußerst ungern, daß ihn jemand aus dem Kreise verließ. Und er konnte Voltaire nicht entbehren.
Voltaire mußte ein Vierteljahr lang eine ganze Krankheitskomödie spielen, sich außerstande erklären, sein Zimmer zu verlassen. Seine Behauptung Friedrich gegenüber, er brauche die Bäder in Plombières, machte keinen Eindruck. (Der König antwortete, es gäbe vortreffliche Bäder in der Nähe, bei Glatz in Schlesien.) Aber schließlich mußte Friedrich seinen Widerstand aufgeben: Voltaire könnte seinen Dienst verlassen, wann er wolle. In einem Brief darüber verlangt er doch, daß Voltaire zuerst das Dokument betreffend seine Anstellung, den Kammerherrnschlüssel, den Orden und einen Band Gedichte, den er ihm anvertraut hat, zurückgeben solle. Danach drückt er in dem Brief den sonderbaren Glauben aus, daß Voltaire nun anfangen werde, seine Schriften anzugreifen.
Unglücklicherweise vergaß Voltaire über all dem vielen anderen, woran er zu denken hatte, das Verlangte noch einmal zurückzusenden (er hatte es ja getan und alles wieder bekommen), vergaß es um so leichter, als er nach seiner Ankunft von Berlin in Potsdam zwei Stunden lang mit dem König in freundschaftlichem Gespräch im Zimmer eingeschlossen war, danach an der Abendtafel wieder sechs Tage hintereinander gefeiert und verhätschelt wurde.
Eines Morgens, als der König zur Parade war, wurde ihm gemeldet: Herr de Voltaire ist hier, um Euer Majestät Befehle entgegenzunehmen. Der König wandte sich um und sagte: Nun, Herr de Voltaire, Sie wollen durchaus fort! – Sire, unaufschiebbare Angelegenheiten und besonders mein Gesundheitszustand zwingen mich. – Monsieur, ich wünsche Ihnen eine gute Reise. – – Sie wußten beide, daß sie einander nie wiedersehen würden.
In Leipzig, wo Voltaire Halt machte, fügte er einen kleinen humoristischen Abschnitt zu Akakia hinzu. Maupertuis, der nun ganz den Kopf verlor, schrieb an Voltaire und drohte ihm damit, daß er schon wissen würde, ihn zu kriegen, falls er noch weiter gegen ihn schriebe. Am nächsten Tage stand in der Leipziger Zeitung die folgende Anzeige:
Ein gewisser Mann hat an einen Einwohner Leipzigs einen Brief geschrieben, worin er ihm mit Mord droht. Da nun Mordversuch den Messeprivilegien widerstreitet, ersuchen wir jeden, über diesen Mann Mitteilung zu machen, wenn er sich innerhalb der Tore Leipzigs zeigt. Er ist ein Philosoph von zerstreutem Wesen und mit hastigem Gang, die Augen sind klein und rund, die Perücke ebenso, die Nase flach, das Gesicht dick, der Ausdruck garstig und selbstgefällig. Er trägt stets ein Seziermesser, um große Menschen zu sezieren. Wer Aufklärung über ihn geben kann, erhält 1000 Dukaten Belohnung, die in der lateinischen Stadt zu erheben sind, die dieser Herr erbauen läßt.
Friedrich nahm diese Witze so pathetisch, daß in einem Brief an seine Schwester steht: Man verurteilt manchen zum Tode durch das Rad, der es nicht in dem Maße verdient wie Voltaire.
Am König hatte eine Furcht zu nagen begonnen, daß Voltaire von seinen Briefen ebenso rücksichtslos Gebrauch machen würde, wie er selbst es seiner Zeit mit denen Voltaires gemacht hatte und besonders davor, daß er in Frankreich die gedruckten Verse zeigen würde, in denen sich Friedrich über Herrscher und Minister lustig gemacht hatte. Voltaire hatte nichts dieser Art im Sinne, hatte auch nichts, was vom König stammte, auf der Reise bei sich.
In Frankfurt holte Friedrichs Zorn Voltaire ein, und das burleske Nachspiel zu jenem Zusammenleben trat ein, das ein Wendepunkt in Voltaires innerem Verhältnis zum König von Preußen wurde.
Frankfurt war damals Reichsstadt. Friedrich hatte dort nichts zu sagen. Als Voltaire aber kaum angekommen war, wurde er von dem preußischen Residenten, Herrn Freytag, verhaftet, der ihm die Weiterreise verbot, ehe er die dem König von Preußen gehörenden Sachen zurück gegeben hätte. Es handelte sich besonders um die Gedichte des Königs. Voltaire glaubte, das Buch läge in einer Kiste, die vielleicht in Leipzig stand. Am 1. Juni schrieb er nach der Kiste; erst am 18. Juni kam sie, und Voltaire glaubte, er dürfe nun reisen. Aber Freytag konnte sich nicht denken, daß wegen eines gedruckten Buches der französische Verbrecher festgehalten werden sollte. Im Befehl war da unbestimmt von königlichen Briefen oder Manuskripten die Rede.
Voltaire wurde so wieder verhaftet.
Er machte einen Fluchtversuch, schlich sich mit seinem Sekretär hinaus, stieg in einen gemieteten Wagen mit einem Diener, der einen kleinen Reisesack trug. Aber sie wurden vermißt, ausspioniert, eingeholt und im Triumph zurückgeführt. Diese Flucht machte in Freytags Augen den Verbrecher noch gefährlicher.
Voltaires Nichte, Madame Denis (die ihren Onkel in Straßburg erwartet hatte, nun aber kam), der Sekretär, die Dienerschaft, alle wurden verhaftet. Zwei Soldaten wurden vor die Haustüre gestellt, außerdem hatten vier Voltaire zu beobachten, und vier standen vor dem Zimmer der Nichte; ein Polizist namens Dorn blieb sogar nachts über in ihrem Schlafzimmer, obwohl die Arme, wie Voltaire sagte, für den König von Preußen niemals Verse verbessert hatte.
Endlich, am 5. oder 6. Juli kamen die Behörden der Stadt Voltaire zu Hilfe, und er konnte nach fünf Wochen Einsperrung reisen. Doch forderte der preußische Beamte von ihm eine sehr bedeutende Summe als Ersatz für Kost und Logis in der Zeit, die die Kriegsgefangenschaft gedauert hatte, ganz, als hätte Voltaire sich freiwillig in diese begeben – eine merkwürdige Äußerung preußischer Habsucht.
Gewiß war man weiter gegangen, als Friedrich gemeint hatte, wenn aber auch die Dummheiten nicht auf seine Rechnung kommen, so doch die Brutalität – und er ließ niemand bestrafen.
Als Niederschlag all dieser Ereignisse blieb eine Bitterkeit, beinahe ein Haß in Voltaires Empfinden zurück. In den Memoiren, die er sechs Jahre später über sein Verhältnis zu Friedrich niederschrieb, aber vernichtete, und die erst nach seinem Tode nach einer von La Harpe gestohlenen Kopie herauskamen, macht er sich in blutigen, treffenden Spöttereien Luft.
Auch Friedrich bewahrte in seinem Gemüt eine gewisse Bitterkeit, aber er hatte es leichter, sie zu überwinden, da er nicht gedemütigt worden war. Er hatte nur darunter gelitten, daß er sein Ideal sich in Dunst auflösen sah.
Er schrieb, als der Briefwechsel wieder aufgenommen war, an Voltaire: »Sie haben mir gegenüber ganz entschieden Unrecht gehabt. Ich habe alles verziehen, ich will sogar alles vergessen. Hätten Sie aber nicht mit einem zu tun gehabt, der in Ihr schönes Genie irrsinnig verliebt war, wären Sie nicht so gut davon gekommen.« Und danach:
»Wollen Sie Süßigkeiten? Ich will Ihnen Wahrheiten sagen: Ich achte in Ihnen das schönste Genie, das Jahrhunderte hervorgebracht haben; ich bewundere Ihre Gedichte; ich liebe Ihre Prosa, besonders die kleinen losen Stücke in Ihren gemischten Schriften. Niemals hatte ein Schriftsteller vor Ihnen einen so feinen Takt, einen so sicheren und erlesenen Geschmack, wie Sie ihn haben. Sie sind im Gespräch hinreißend; Sie verstehen es, zugleich zu belehren und zu unterhalten. Sie sind das verführerischste Geschöpf, das ich kenne, imstande, irgend jemand dahin zu bringen, daß er sie liebt, wenn Sie es wollen. Sie besitzen soviel Anmut in Ihrem Witz, daß Sie verletzen können und doch zugleich Nachsicht von dem, der Sie kennt, erlangen. Kurz gesagt, Sie wären vollkommen, falls Sie kein Mensch wären.«
Später im Leben, als Friedrich Mühe hat, den Jähzorn des alternden Voltaire zu bekämpfen, preist er ihn mit einer Art Andacht als Mitarbeiter an der Zivilisation der Zukunft, und schreibt: »Alles hängt für den Menschen von der Zeit ab, zu der er auf die Welt kommt. Obwohl ich allzu früh gekommen bin, beklage ich es nicht, ich habe Voltaire gesehen und wenn ich ihn auch nicht mehr sehe, so lese ich ihn, und er schreibt mir.«
Wenn man diese Äußerungen kennt, versteht man, daß die beiden Männer trotz allem, das sie trennte, einfach nicht einander entbehren konnten. Sie haßten und liebten sich abwechselnd im Verlauf von wenigen Tagen oder beides auf einmal. Nach kurzer Zeit wirkt der alte Zauber, die gegenseitige Anziehung aufs neue, und der Briefwechsel beginnt wieder, hält 24 Jahre hindurch an und hört erst bei Voltaires Tode auf.
Ein Zeitraum scheint mir hier besonders bemerkenswert: der vom Juni zum November 1757.
Im Jahre 1756 hat Österreich ein Bündnis mit Frankreich und Rußland gegen Friedrich geschlossen. Als Friedrich in Sachsen einfällt, treten dem Bündnis noch Schweden und die Reichsfürsten bei. Eine Bevölkerung von 100 Millionen Menschen steht verbündet gegen ein Volk von 5 Millionen – nach der Niederlage bei Kolín am 18. Juni 1757 sieht es aus, als wäre für Friedrich alles vorbei. Er trägt ein Flacon mit schnell wirkendem Gift bei sich, ist entschlossen, es zu gebrauchen, falls sich sein Schicksal nicht wendet, und schreibt, höchst bezeichnend für seine Lust zum Versemachen, einen Reimbrief darüber an seinen Freund d'Argens. Es ist das Gedicht, das anfängt: Ami, le sort en est jeté:
Das Los ist gefallen. Müde des Mißgeschicks und des Elends, mit dem unsere Mutter, die Natur, mein Leben erfüllt hat, will ich meine Tage abkürzen. Lebewohl Größe, lebewohl göttliche Lust! Ich wende mich nicht zur Religion. Ich weiß von meinem Lehrer Epikur, daß der Funke des Lebens nicht unsterblich ist. Aber schmückt mein Grab mit Rosen und Myrthen.
Und er vergleicht sich in einem Brief an Voltaire mit den sogenannt großen Freiheitshelden, einem Cato, einem Brutus, die von eigener Hand gefallen sind.
Tragikomisch ist es, daß Friedrich aus alter Gewohnheit auch dieses Gedicht, in dem er voll bitteren Ernstes seine Selbstmordgedanken mitteilt, Voltaire schickt, damit er es durchsieht und verbessert. Mit gutem Grund antwortet dieser, daß es sich hier nicht darum dreht, wie weit man noch diese Denkmäler an einen großen Geist und an ein großes Genie vervollkommnen kann, sondern um des Königs Leben und das Interesse, das die Menschheit hat, daß es erhalten bleibt. Und um den König von seinen Selbstmordgedanken fortzubringen, gibt er ihm dreist zu wissen, daß niemand ihn mit Brutus oder Cato vergleichen wird: »Keiner wird Sie als einen Märtyrer der Freiheit betrachten. Man muß den Dingen, wie sie sind, ins Auge schauen. Sie müssen sich vor Augen halten, wie viele Höfe es gibt, die in Ihrem Einfall in Sachsen hartnäckig einen Bruch des Völkerrechts sehen.« Friedrich würde durch seinen Tod nur seinen Feinden und denen der Philosophie einen ungeheuren Triumph verschaffen.
Friedrich antwortete Voltaire am 9. Oktober 1757 mit einem schönen und männlichen Gedicht. Es fängt an:
Je suis homme, il suffit, et né pour la souffrance;
Aux rigueurs du destin j'oppose ma constance.
Glauben Sie mir, heißt es darin, wenn ich Voltaire und Privatmann wie er wäre, so würde ich dem Wechsel des Schicksals mit Gleichgültigkeit begegnen. Ich kenne den Überdruß, gepriesen zu werden, die Last der Pflichten, den Ton der Schmeichler. Ich verstehe, als König zu denken, zu leben und zu sterben:
Pour moi, menacé du naufrage,
Je dois, en affrontant l'orage,
Penser, vivre et mourir en roi.
Kaum hatte aber Friedrichs Schwester, die Markgräfin, Voltaire die verzweifelte Absicht ihres Bruders mitgeteilt, als ihm die Idee kam, daß der König, um sich Luft zu schaffen, zu allererst mit Frankreich Frieden schließen müßte. Und da Voltaire ja bereits von der Schulbank her mit dem Marschall von Richelieu bekannt war, der die französischen Heere führte, riet er dazu, der König sollte sich brieflich an Richelieu wenden und den Brief an Voltaire zur Weiterbeförderung schicken.
Friedrich schrieb darauf einen würdigen, aber klug schmeichelnden Brief an Richelieu, und Voltaire empfahl ihm die Sache. Richelieu antwortete Friedrich, daß er keine Vollmacht zum Friedensschluß habe, daß er aber den Brief des Königs seinem Herrn, König Ludwig, gesandt habe.
Und nun begann Voltaire leidenschaftlich für die Angelegenheit zu arbeiten, nicht so sehr aus Freundschaft für Friedrich – denn ihn haßte er gelegentlich – als um glühende Kohlen auf seinem Haupt zu sammeln und besonders aus Vernunftgründen, damit nicht etwas so Wertvolles und Seltenes wie Friedrich zugrunde gehen sollte, und schließlich Frankreichs wegen: er wußte, daß Friedrich sogar im äußersten Mißgeschick eine ungeheure Kraft war, und wenn er in der Verzweiflung geniale Taten vollbrachte, hatte Frankreich den Schaden. Durch den Kardinal von Tencin, mit dem er die Markgräfin von Bayreuth in Verbindung brachte, versuchte er auf den Minister der Madame de Pompadour, Abbé de Bernis, einzuwirken. Tencin bittet die Markgräfin, Voltaires Rat zu befolgen, die Gefahren durch die Machterhöhung des Hauses Habsburg hervorzuheben und dem Minister zu schmeicheln.
Aber Madame de Pompadour war entschieden österreichisch gesonnen, Friedrich hatte Spottverse über sie geschrieben, Maria Theresia ihr einen Brief voll geheuchelter Herzlichkeit gesandt. Und Bernis war der Staatsmann. Friedrich bekam keine Antwort. Wundern konnte ihn das nicht. Über Bernis hatte er geschrieben: »Evitez de Bernis la stérile abondance!«, über den König:
Quoi! Votre faible monarque
Jouet de la Pompadour,
Flétri par plus d'une marque
Des opprobres de l'amour …
Cet esclave parle en maître.
Da nahm er sich zusammen und demütigte Frankreich, wie es vorher niemals gedemütigt worden war. Am 5. November erfolgte die Schlacht bei Roßbach. Mit einem Heer, das halb so groß war wie das französische, jagte er zuerst die Reiterei, dann das Fußvolk in wilde Flucht, bis sich das ganze Heer fortwälzte und von Friedrichs Reiterei verfolgt wurde. Allein an Gefangenen machte er 5000 Mann, darunter 5 Generale und 300 Offiziere.
Voltaire schreibt an d'Argental: »Friedrich hatte nur einige 20 000 Mann, die von Märschen und Kontramärschen ermattet waren, und mit ihnen vernichtet er ein Heer von 50 000 Mann. Welche Schande für unsere Nation … Nun kann Madame de Pompadour sehen, daß ich recht hatte, als ich ihr schrieb, »es könnte die Zeit kommen, da man nicht unzufrieden sein würde, einen Franzosen am Hofe in Berlin zu haben« … und an Thiériot: »Die Nachwelt wird sich darüber wundern, daß ein brandenburgischer Kurfürst, nachdem er eine große Schlacht gegen die Österreicher verloren hatte, nachdem seine Bundesgenossen vollkommen vernichtet waren, als er sogar in Preußen selbst von 100 000 Mann siegreichen Russen verfolgt wurde, als er zwischen zwei französischen Heeren in der Klemme saß, die mit einemmal über ihn herfallen konnten, dem allen widerstanden hat, seine Eroberungen festgehalten und eine der denkwürdigsten Schlachten gewonnen hat, die in diesem Jahrhundert geliefert wurden … Es ist nicht angenehm, jetzt Franzose im Auslande zu sein. Man lacht uns ins Gesicht, als ob wir alle zusammen Adjutanten beim Herrn de Soubise gewesen wären.«
Man wäre der Demütigung entgangen, wenn man seinen Rat befolgt hätte.
Nach dem Tode der Markgräfin bat Friedrich Voltaire um ein Werk zu ihrem Gedächtnis und erhielt von ihm zuerst das schöne Gedicht vom Dezember 1758. Da Friedrich in dem Gedicht aber nicht selbst genannt sein wollte, bekam er, als er um etwas Monumentaleres bat, die fast dreimal so lange aber kältere Ode Sur la mort de la princesse de Bareith.
Es scheint, als verliefe von nun an das Verhältnis zwischen Friedrich und Voltaire in einem friedlichen und lebhaften Gedankenaustausch noch zwanzig Jahre hindurch. Sieht man jedoch schärfer hin, dann entdeckt man in dem Briefwechsel einen leeren Raum zwischen dem 1. November 1760 und dem 1. Januar 1765, also über eine Zeit von vier Jahren und zwei Monaten. Diesmal brach der König die Verbindung ab, und zwar ohne ausreichenden Grund. Denn Voltaire traf in keiner Hinsicht ein Verschulden ihm gegenüber.
Friedrichs Verärgerung wird zuerst durch den Umstand geweckt, daß Voltaire an einer Geschichte Peters des Großen schrieb, zu der er mit wahrer Leidenschaft das Material sammelte, was ihm das offizielle Rußland, an das er sich deshalb wandte, wie man sich denken kann, nicht leicht machte. Aber diese Geschichte war das von dem Instinkt Voltaires geforderte Gegenstück zur Geschichte Karls des Zwölften. Wir haben gesehen, daß Peter in weit höherem Maße seinem Begriff von einem großen Mann entsprach als Karl.
Friedrich schreibt an Voltaire: »Ich bitte Sie, sagen Sie mir, was das heißen soll, daß Sie die Geschichte der sibirischen Bären und Wölfe schreiben? Und was können Sie vom Zaren erzählen, was man nicht schon in Ihrer Geschichte Karls des Zwölften findet? Ich will die Geschichte dieser Barbaren nicht lesen. Ich möchte am liebsten nichts davon wissen, daß sie überhaupt unsere Halbkugel bewohnen.« Mit immer wachsender Heftigkeit kam Friedrich auf die Angelegenheit zurück und sparte nicht an starken und groben Worten.
Der andere Punkt, der Friedrich veranlaßte, sich Jahre hindurch von Voltaire fernzuhalten, war der leidenschaftliche Haß gegen Ludwig den Fünfzehnten und Madame de Pompadour, der sich u. a. in den höhnischsten Spottversen Luft machte, und der nach Beendigung des Siebenjährigen Krieges als Niederschlag im Gemüt Friedrichs zurückblieb. Und da ereignete es sich 1761, daß Voltaires Tancrède aufgeführt wurde und daß das Stück mit der oben erwähnten Widmung an Madame de Pompadour erschien. War diese unvorsichtigerweise so gefaßt, daß sie die Favoritin reizen mußte, so erschien sie umgekehrt Friedrich so schmeichlerisch, daß er sich darüber empörte. Er schrieb an d'Argens: »Die Widmungsepistel hat ein Bursche geschrieben, der bald kalt bläst, bald warm, dessen Schmeicheleien und dessen Verhöhnungen gleichermaßen feil sind … Vergleichen Sie gewisse Verse in La Pucelle mit dieser Zueignung und geben Sie zu, daß man ein Lump sein muß, wenn man sich durch solche Widersprüche gegen sich selbst entehrt«.
Friedrich urteilt hier unverhältnismäßig hart. Wäre Madame de Pompadour, deren an ihn gesandte Grüße er niemals erwiderte, von adligem Blut gewesen, hätte er gegen sie nicht mehr Vorurteile genährt als gegen die Herzogin von Châteauroux, an die er seinerzeit schrieb. Hätte er Voltaire nicht unaufhörlich gequält und geplagt, in die Jeanne schauen zu dürfen, so hätte er diese unseligen Zeilen niemals kennen gelernt, die Voltaire in seine eigene, späte Ausgabe von La Pucelle nicht aufnahm und die er schnell bereute, während er Madame de Pompadour in vollem Ernst sehr hochschätzte und nach ihrem Tode voll Trauer an seine Freunde schrieb: »Sie war eine der unsrigen.«
Der Briefwechsel wurde erst wieder aufgenommen, als Ende 1764 Gerüchte, Friedrich wäre ernstlich krank, Voltaire erreichten; er erkundigte sich da nach dem Befinden des Königs, und dieser sandte ihm am 1. Januar 1765 eine höfliche Antwort.
Aber Voltaire hatte nun genug davon, Königen zu dienen. In der republikanischen Schweiz, so unfrei sie auch war, wurde er selbst ein König, der geistige Monarch seines ganzen Zeitalters.
Was Voltaire dem Zusammenleben mit Friedrich verdankt, läßt sich ja nicht haarscharf darlegen. Aber man bemerkt es. In der Atmosphäre, die Friedrich um sich schuf, wuchs Voltaires philosophische Kühnheit. Friedrichs kräftige und rücksichtslose Gedanken gaben ihm Mut. Vorher war Voltaire kein Kampfschriftsteller gewesen. Seit er 1734 die Philosophischen Briefe schrieb, war sein Lebenswerk rein literarisch oder rein wissenschaftlich. Seine Angriffe auf das Bestehende waren versteckt, nur auf Umwegen zu entdecken, so daß er sie im Notfalle verleugnen konnte.
Man nehme seinen Mahomet! Sicher von der ersten bis zur letzten Zeile als Angriff auf die Vorstellung von einer Offenbarung gedacht, aber so abgefaßt, daß Voltaire 1745 das Drama dem Papst Benedikt dem Vierzehnten widmen konnte.
Von nun an widmet Voltaire keinem Papst mehr Bücher, wenn er auch weiterhin das gute Verhältnis zu Benedikt aufrecht erhielt, und von diesem auf die Bitte um Reliquien für die Kirche in Ferney das Haarhemd seines Schutzpatrons, des heiligen François (Francesco) erhielt.
Der Verkehr mit Friedrich hatte ihm den Mut eines Bekämpfers des Glaubens an jede sogenannte Offenbarung gegeben; das nahe Verhältnis zu Friedrich hatte außerdem eine Zeitlang sein Ansehen bei den Zeitgenossen gestärkt. Zum erstenmal seit dem Altertum war ein großer Schriftsteller der Freund und Ratgeber eines Königs, nachdem er sein Lehrer gewesen war. Seit Aristoteles und Alexander war das nicht wieder gewesen.
Hier ist nicht der Ort, zu entwickeln, was Friedrich als Monarch war und wurde. Rücksichtslos in seinem Werk als Staatsgründer, hart, arbeitsam und genialisch schuf er Preußen und dadurch das moderne Deutschland. Ja, er war seiner Zeit noch weiter voraus. Mit seinem Wort Je serai le roi des gueux (Ich werde der König der Ärmsten sein) drückte er seine Absicht aus, das soziale Königtum zu gründen.
Man nehme als Maßstab für seine Größe nur dies: er, und er allein unter den Königen Preußens wie aller anderen Länder wagte es, sich offen als Freidenker zu erklären, wagte in jener dunklen Zeit sogenannte religiöse Verbrechen ungestraft zu lassen und bei allen Gelegenheiten einen heidnisch-philosophischen Geist zu bekunden.
Dies hat keiner im 19. Jahrhundert, dem der Reaktion, gewagt. Kein Kaiser oder König – nicht einmal Napoleon der Erste – kein Minister in keiner Monarchie – nicht einmal Bismarck!
Daß er das aber wagte, ist Voltaires Werk.
Es ist Voltaires größtes historisches Verdienst, daß er den Aberglauben zerstörte und die Kirchen erschütterte, die ihn stützten und die von ihm gestützt wurden.
Von nun an ist er aber nicht mehr nur der Feind des Pfaffentums. Er wirkt in seiner Einsamkeit schaffend als der Unterdrückten und Verstoßenen großer Beschützer, Helfer, Verteidiger, als der, der ihnen im Leben Recht verschafft, nach dem Tode die Ehrenrettung. Vor ihm zittern die hochmütigsten Machthaber, bei seinem Namen erbleichen die blutbesudelten Richter, zu ihm schauen die Männer des Geistes wie zu ihrem Führer auf. Ohne sein entflammendes Treiben wäre die Enzyklopädie kaum zustande gekommen; ohne sein geniales Eingreifen die äußere Macht der katholischen Kirche kaum derart untergraben worden, daß die französische Revolution nur ein Dutzend Jahre nach seinem Tode sie zum Einsturz brachte.
Zu seinen Lebzeiten wurde Voltaire, wie wir gesehen haben, bekämpft zum Teil von Neidern wie J. B. Rousseau, Desfontaines, Fréron, La Beaumelle, zum Teil von Gegnern der Philosophie wie Palissot und Lefranc de Pompignan.
Zu dieser geistlosen Reaktion kam bald die geistige Reaktion, in Frankreich die von Jean Jacques Rousseau und in Deutschland zuerst die von Lessing, dann von Herder und Goethe, dann von Schiller geführte.
Noch während Voltaire lebte, schrieb der junge Goethe in seiner Prosahymne an Shakespeare:
»Voltaire, der von jeher eine Profession daraus machte, alle Majestäten zu lästern [gerade dies war niemals seine Profession], hat sich auch hier als ein echter Thersites bewiesen. Wäre ich Ulysses, er sollte seinen Rücken unter meinem Szepter verzerren.«
Lessings Reaktion erfolgt wegen Shakespeare, Schillers wegen Jeanne d'Arc. Aber einen wie scharfen Blick Lessing auch für die Fehler des dramatischen Systems Voltaires haben mag, wie tief Schillers Gefühl im Vergleich mit dem Voltaires auch sei, beide stehen stark unter seinem Einfluß, Lessing als Geist überhaupt, Schiller besonders als Dramatiker, und beider Kampfführung ist um so unerbittlicher, als sie Schüler sind, die sich vor Zeiten emanzipiert haben. Von keinem von ihnen läßt sich Billigkeit in der Auffassung Voltaires erwarten. Und ebensowenig läßt sie sich von Herder erwarten, der seinen Ausgangspunkt, wie Schiller, in dem genommen hatte, der auf französischem Boden allmählich Voltaires Gegenpol geworden war, Jean Jacques Rousseau.
Um so bedeutungsvoller ist der Umschlag in der Beurteilung Voltaires, der bei dem größten Deutschen eintrat, demselben, der ihn mit so jugendlicher Ungerechtigkeit verurteilt hatte. Man bedenke u. a., daß Goethe Herders Schüler gewesen und Schillers naher Freund war, man bedenke, daß Voltaire als Newtons Fürsprecher ihm zuwider war und daß er sich in seiner Geschichte der Farbenlehre scharf gegen ihn ausspricht.
Er war in den Fünfzigern, da er als gereifter Mann die Anerkennung über Voltaire zu seiner Übersetzung der Diderot'schen Schrift Rameaus Neffe schrieb, in der er ihm possierlich genug gerade 45 hervorragende Eigenschaften beilegt:
Wenn Familien sich lange erhalten, so kann man bemerken, daß die Natur endlich ein Individuum hervorbringt, das die Eigenschaften seiner sämtlichen Ahnherren in sich begreift und alle bisher vereinzelten und angedeuteten Anlagen vereinigt und vollkommen ausspricht. Ebenso geht es mit Nationen, deren sämtliche Verdienste sich wohl einmal, wenn es glückt, in einem Individuum aussprechen. So entstand in Ludwig dem Vierzehnten ein französischer König im höchsten Sinne, und ebenso in Voltaire der höchste unter den Franzosen denkbare, der Nation gemäßeste Schriftsteller.
Die Eigenschaften sind mannigfaltig, die man von einem geistvollen Manne fordert, die man an ihm bewundert, und die Forderungen der Franzosen sind hierin, wo nicht größer, doch mannigfaltiger als die anderer Nationen.
Wir setzen den bezeichneten Maßstab, vielleicht nicht ganz vollständig und freilich nicht methodisch genug gereiht, zu heiterer Übersicht hierher.
Tiefe, Genie, Anschauung, Erhabenheit, Naturell, Talent, Verdienst, Adel, Geist, schöner Geist, guter Geist, Gefühl, Sensibilität, Geschmack, guter Geschmack, Verstand, Richtigkeit, Schickliches, Ton, guter Ton, Hofton, Mannigfaltigkeit, Fülle, Reichtum, Fruchtbarkeit, Wärme, Magie, Anmut, Grazie, Gefälligkeit, Leichtigkeit, Lebhaftigkeit, Feinheit, Brillantes, Saillantes, Petillantes, Pikantes, Delikates, Ingeniöses, Stil, Versifikation, Harmonie, Reinheit, Korrektion, Eleganz, Vollendung.
Von allen diesen Eigenschaften und Geistesäußerungen kann man vielleicht Voltaire nur die erste und die letzte, die Tiefe in der Anlage und die Vollendung in der Ausführung, streitig machen. Alles, was übrigens von Fähigkeiten und Fertigkeiten auf eine glänzende Weise die Breite der Welt ausfüllt, hat er besessen und dadurch seinen Ruhm über die Erde ausgedehnt.
An Vollendung besitzt Voltaire eher zu viel (bis zur Glattheit) als zu wenig.
Aber Goethe war ein Kenner. Ihm gebührt es, das letzte Wort zu behalten.