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Geschichtsschreibung

I

Die Schriftsteller, die sich vor Voltaire damit abgegeben hatten, Frankreichs Geschichte zu schreiben, waren von Hoffnung und Furcht inspiriert; von der Hoffnung, ein Jahresgehalt aus der königlichen Kasse zu erhalten, von der Furcht, in die Bastille gesteckt zu werden, falls sie Tatsachen mitteilten, die man nicht erwähnt oder beurteilt wünschte. Ein Zeitgenosse Voltaires und ein sogenannter Freund, der Präsident Hénault, schreibt über die nach unserer Ansicht so maßvollen Auslassungen über fürstliche Personen in Voltaires Jahrhundert Ludwigs des Vierzehnten: »Derartiges darf man wohl im Vertrauen an seinem Kamin erzählen, aber man schreibt es nicht.« Der Präsident gab selbst ein Beispiel an Vorsicht, als er in seinem Abrégé Chronologique die Bartholomäusnacht nicht im eigenen Namen verurteilte, sondern durch ein Citat des Erzbischofs Péréfixe.

Wir sahen an Voltaires Karl der Zwölfte, mit welcher Sorgfalt, mit welchem Eifer er Auskünfte von Augen- und Ohrenzeugen der zu behandelnden Ereignisse einholte. Ebenso, nur in weit größerem Stile, suchte er Auskünfte und Nachrichten über das Jahrhundert in Frankreich, das seinem eigenen vorangegangen war, und dadurch gelang es ihm, ein Werk zu schaffen, das noch heutzutage für den historischen Forscher von bedeutendem Interesse ist.

Er hatte ja seine Jugend zwischen den Zeitgenossen und in der Umgebung Ludwigs des Vierzehnten verbracht, hatte mit Verwandten des Königs, wie der Herzogin von Maine, verkehrt, seine Feldherren, wie Villars und Vendôme, seine versöhnten Gegner, wie Bolingbroke, gekannt. Wo er sich auch aufgehalten, in Le Temple, in Saint-Ange, in Sully, in Sceaux, in Vaux-Villars, in La Source, war er von Erinnerungen an Frankreichs großes Jahrhundert umgeben gewesen. Seine Eltern hatten in naher Beziehung zu leitenden Männern und Schöngeistern jener Zeit gestanden, und in England hatte er andere Persönlichkeiten getroffen, die Teilnehmer am spanischen Erbfolgekrieg oder Zeugen seiner Begebenheiten gewesen waren, wie Lord Peterborough, Lord Methuen, die Herzogin von Marlborough.

Vor Voltaire kam es den Geschichtschreibern nicht auf die Genauigkeit dessen an, was sie erzählten. Wenige machten sich Sorge darum; Mézeray gesteht das offen ein. Man strebte unterhaltende, angenehme Lektüre zu geben. Einzelne Gelehrte, wie Rapin de Thoyras, Verfasser von Englands Geschichte, gingen zu den Quellen; aber sie waren Ausnahmen. Rollin (1661-1741), der die Geschichte des römischen Altertums schrieb und populär wurde, war ein kritikloser Zusammenpflücker. Der Jesuit Père Daniel (1649-1728), der Frankreichs Geschichte lieferte, ließ sich auf der königlichen Bibliothek in Paris elf- oder zwölfhundert Bände Dokumente und Handschriften zeigen, verbrachte eine Stunde damit, sie zu durchfliegen und hatte genug; sagte zu Vater Tournemine, dem früheren Lehrer Voltaires, alle diese Aktenstücke seien »nutzloses altes Papier, das er nicht nötig habe, um sein Geschichtsbuch zu schreiben.«

Voltaire dagegen las alles, was zu seiner Zeit an Darstellungen und Lebenserinnerungen erschienen war, ein paar Hundert Bände, und dann wandte er sich überall dort hin, wo er vermutete, es wären Aufzeichnungen zu finden, an die Herzogin von St. Pierre, die Schwester des Marquis de Torcy, der die Verhandlungen vor dem spanischen Erbfolgekrieg führte, an den Cardinal Fleury und andere. Er las die Lebenserinnerungen Torcys, Dangeaus, Villars, bekam zur Durchsicht die Hinterlassenschaften Louvois', Colberts und seines Neffen, des Finanzkontrolleurs Desmarets de Meillebois. Ja, nachdem die erste Ausgabe vorlag, erhielt er von dem Herzog von Noailles Ludwigs des Vierzehnten eigene Papiere, ging seine Arbeit von neuem durch und berichtigte sie danach, ganz zu schweigen, daß er nach jeder Kritik, die ihm vernünftig erschien, Berichtigungen vornahm.

Keine Kritik war unverständiger als die des Präsidenten Hénault, daß Voltaire nur die Oberfläche der Dinge sähe, daß er nicht den Ernst des Historikers besäße, daß er sein Vaterland und dessen große Männer herabsetzte. Hénault schrieb am 31. Dezember 1751 an den Grafen d'Argenson: »Voltaire hat mir sein Buch geschickt … Ich möchte gern, daß sein Werk so wäre, daß es Einlaß nach Frankreich bekäme. Der Fehler im ersten Band, und zwar ein schwerer Fehler, ist, daß Ludwig der Vierzehnte nicht nach Verdienst behandelt ist.«

Man vergleiche damit die ständig wiederholte Behauptung der späteren Angreifer Voltaires, daß seine Geschichte geringen Wert habe, weil er Ludwig den Vierzehnten zu seinem Abgott gemacht (Faguet) und daß er den König aus demselben Grunde geliebt habe, aus dem ihn Saint-Simon nicht leiden konnte, nämlich, daß Menschen aus geringem Bürgerstand unter ihm zur Macht gelangten.

Voltaire, der seinen Hassern aus dem neunzehnten Jahrhundert kriecherisch vor dem verstorbenen König erscheint, war in Wirklichkeit sehr kühn.

Der Vergleich mit Saint-Simon verwirrt nur. Heute, wo das Verständnis für Ideengeschichte gering ist, besonders für eine von Gesichtspunkten des achtzehnten Jahrhunderts aus geschriebene Geschichte, aber die Neugier nach Anekdoten hauptsächlich skandalöser Natur lebendig wie nie zuvor, ist es ganz natürlich, daß Saint-Simons Memoiren eine bedeutend größere Anziehung ausüben als Voltaires Jahrhundert Ludwigs des Vierzehnten. Das verringert aber den Wert des Werkes nicht.

Sowohl Villemain wie Sainte-Beuve haben aus dem wahrscheinlich falschen Gerücht, daß Voltaire in seinem letzten Lebensjahr daran dachte, gegen die Memoiren zu schreiben, für seinen Charakter unvorteilhafte Schlußfolgerungen gezogen. Der eine ist der Ansicht, daß er sich als Höfling dadurch beliebt machen wollte, daß er gegen den heimlichen Schmäher vorging, der andere, daß er als Historiker auf Saint-Simon eifersüchtig war.

Villemains Meinung verrät Unkenntnis der tatsächlichen Verhältnisse. 1738 sah sich Voltaire durch die feindliche Haltung der Regierung genötigt, die Arbeit an seinem Werk zu unterbrechen; und diese Haltung war ja auch die Hauptursache, daß Madame du Châtelet das Manuskript verschloß und sich eifrig bemühte, seine Fertigstellung zu verhindern. Als Voltaire sein Buch fertigstellte, war er also sehr weit davon entfernt, einen höfischen Dienst zu leisten. Sainte-Beuves Auffassung der Ursache, warum Voltaire von Saint-Simon Abstand nahm, nämlich aus angeblicher Eifersucht, beruht auf nicht weniger mangelhafter Einsicht in den geschichtlichen Zusammenhang.

Voltaire hat die Bekanntschaft mit Saint-Simons Memoiren erst während seines letzten Aufenthalts in Paris im Jahre 1778 machen können, und konnte also erst dann den Gedanken fassen, gegen sie zu schreiben. Er sah mit Recht die Memoiren in keiner Weise als ein mit seiner Geschichte rivalisierendes Werk an. Der Gegenstand ist verschieden, sogar der Zeitraum, den sie umfaßt, ist es. Saint-Simon, der seine Aufzeichnungen im Alter von neunzehn Jahren 1694 begann, entfaltet seine Fähigkeiten erst bei der Schilderung der Zeit nach 1700, also bei der Behandlung eines Zeitabschnittes, der nur einen geringen Teil in Voltaires Werk einnimmt.

Aber seine Zeit in Paris unmittelbar vor seinem Tode war zu sehr in Anspruch genommen, als daß er überhaupt Ruhe haben konnte, um mehr als ein wenig in den Memoiren zu blättern, und sie sind ihm sicher bei weitem nicht so interessant vorgekommen, wie die Leser im neunzehnten Jahrhundert sie gefunden haben. Sein Urteil ist ohne Zweifel dem des zeitgenössischen Frankreich gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts sehr nahe gekommen. Sainte-Beuve hat selbst untersucht, welchen Eindruck die Memoiren damals machten und er schreibt: »Es ist komisch zu sehen, wie einig man sich in der Ansicht war, daß sie schlecht geschrieben und daß die Porträts schlecht ausgeführt waren.« Marmontel, dem die Aufgabe zugefallen war, als Historiograph des Königs das Manuskript zu studieren und Auszüge zu machen, fand die Arbeit langweilig und ermüdend und suchte zur Erholung eine Beschäftigung, die »weniger peinlich und mehr nach seinem Geschmack war«.

Man erinnere sich, daß Voltaire und seine Zeitgenossen (die jünger als er waren) das Malerische, die kleinen Einzelheiten, die Anekdoten, mißbilligten, wenn sie nicht eine Idee illustrierten. Die leichte Farbengebung im Jahrhundert Ludwigs des Vierzehnten genügte dem gesamten achtzehnten Säkulum so, daß die Arbeit mit Begeisterung empfangen wurde. Lord Chesterfield drückte die Ansicht der Besten aus, als er sagte: »Es ist die Geschichte des menschlichen Geistes, die ein Genie zum Nutzen kluger Köpfe geschrieben hat.«

II

Nach der langen erzwungenen Pause in der Ausarbeitung des Werkes nahm Voltaire es im Jahre 1750 wieder vor. Er veröffentlichte es 1751 in Berlin, ging es wieder durch und verbesserte es 1756 und gab ihm erst 1768 seine endliche Gestalt. Es ist eine der gründlichsten Arbeiten, die er überhaupt geschaffen hat.

In Karl dem Zwölften hatte er mit seinem Widerwillen gegen den Krieg und Kriegstaten nicht zurückgehalten. Im Jahrhundert Ludwigs des Vierzehnten läßt er sich eher verführen, sich über Siege und Eroberungen zu begeistern. Doch wird das kriegerische Frankreich in seinem Buche nicht verherrlicht, sondern die französische Zivilisation des siebzehnten Jahrhunderts, seine Geistesentwicklung, seine Meisterwerke in Literatur und Kunst, die Ausbreitung der französischen Sprache über Europa. Seine nicht ausgesprochene Absicht war außerdem, den Hof, an dem sich Condé, Colbert und Racine trafen, als Gegensatz zu dem gegenwärtigen darzustellen, von dem Voltaire ausgeschlossen war.

Er wollte nicht die Geschichte des Königs schreiben, sondern, wie der Titel ausdrücklich sagt, die des Jahrhunderts, d. h. der Kultur, und er ist der erste europäische Kulturhistoriker. Wir sahen bereits in den Briefen an Friedrich den Großen, daß er denjenigen, der der Menschheit Freude verursachte, besonders den Schöpfer eines Werkes, das nutzt oder froh macht, über denjenigen stellte, der Tod und Vernichtung verbreitet, den Kriegshelden. Er schreibt einmal: »Sie wissen, daß bei mir die großen Männer die ersten sind, die Kriegshelden die letzten. Die nenne ich große Männer, die sich in dem ausgezeichnet haben, das entweder dem Nützlichen oder dem Angenehmen dient. Die da Provinzen plündern und verheeren, sind nur Helden.«

Natürlich findet man hier seine Lieblingsideen: die Verherrlichung der Duldsamkeit und der Friedensliebe; die Verteidigung des Wohlstandes; Leidenschaft für Literatur und Dichtung; Weltbürgergeist; aber eine gründliche Menschenkenntnis macht einem erfahrenen Leser die Schilderung unendlich lebhaft und befriedigt durch die Mäßigung, die der Verfasser bewahrt: in den meisten Fällen hat er Zweifel an der vollkommenen Uneigennützigkeit des Handelnden, aber er zweifelt nicht weniger an der reinen Schurkenhaftigkeit als Beweggrund einer Handlung. Er wird von einem Verstand geleitet, der nicht ruht, ehe er so klar, wie es sich geschichtlich ermöglichen läßt, in das Dunkel der Motive schaut.

Bis zur Zeit Voltaires waren die besonderen Ursachen der Handlungen und Ereignisse ohne tieferes Interesse für den Historiker gewesen, weil (wie Bossuet sagt), die lange Kette von Ursachen, die Reiche errichteten und zu Fall brachten, doch von den verborgenen Beschlüssen der Vorsehung abhing. Hoch über alle untergeordneten Ursachen erwiesen die Geschichtschreiber das Walten der Vorsehung, jener Vorsehung, die mit souveräner Macht die menschlichen Pläne lenkte, unterstützte oder verwirrte; die Vorsehung hielt alles in ihrer Hand, leitete die Umwälzungen bis zu dem Ziel, das sie sich selbst gesteckt hatte, und benutzte als ihre Werkzeuge jene Hochgestellten, deren Wille nur scheinbar das Geschick der Völker entschied.

Die gewaltige Reform, die Voltaire auf dem Gebiet der Geschichtschreibung, wie sie in den letzten fünfzehnhundert Jahren bestanden hatte, vornahm, war, daß er in dem großen Schauspiel der Geschichte die Rolle der Vorsehung strich.

Die Ereignisse waren nicht mehr Niederschlag des Willens einer Vorsehung, sondern das notwendige Ergebnis allgemeiner Gesetze. Zwei Faktoren sah er: zuerst den großen Mann, dessen Wirkung am stärksten war, wenn er die höchste Macht besaß (Augustus, Lorenzo von Medici, Ludwig den Vierzehnten) und dann das Zusammenspiel einander kreuzender Gesetze, die Schicht von Gesetzen, die wir Tatsache oder Zufall nennen. Diese beiden Triebkräfte ersetzen bei ihm den früheren Motor, die Vorsehung.

Voltaire geht bei seiner Menschenschilderung nicht darauf aus, mit dem Porträtmaler zu rivalisieren; er vergißt niemals seine Berufung als Erzähler; er verschmäht, an seine Gabe als Dramatiker zu erinnern. Wie sicher und lebendig zeichnet er nicht die Persönlichkeiten, die er selbst gesehen, mit denen er verkehrt hat. Zur Probe nehme man seine Darstellung des Marschalls de Villars, eines Mannes, den er selbst ja persönlich durch und durch gekannt hatte:

Es erhob sich jedoch ein Mann, der Frankreich wieder Vertrauen zu seinem Schicksal geben zu können schien: der Marschall Herzog von Villars, der späterhin als Generalissimus über Frankreichs, Spaniens und Sardiniens Heere wirkte, der noch mit 82 Jahren ein kühner, selbstbewußter Offizier war. Durch seinen hartnäckigen Willen, mehr als seine Pflicht zu tun, war er seines Glückes Schmied geworden. Gelegentlich mißfiel er Ludwig dem Vierzehnten und, was gefährlicher war, Louvois, weil er so kühn zu ihnen sprach, wie er für sie kämpfte. Man warf ihm vor, daß er nicht ebenso bescheiden wie tapfer war; aber schließlich begriff man, daß er Genie zur Kriegsführung hatte und geschaffen war, Franzosen zu befehligen. In wenigen Jahren wurde er schnell befördert, nachdem man ihn lange hatte schmachten lassen.

Es gibt kaum einen Menschen, der so beneidet worden ist und der in geringerem Maße hätte Neid erregen sollen. Gewiß wurde er Marschall von Frankreich, Herzog und Pair, Gouverneur einer Provinz; aber er hatte den Staat gerettet, und andere, die ihn ins Unglück gestürzt hatten und die einzig Hofleute gewesen waren, hatten dieselben Belohnungen wie er bekommen. Man hat ihm sogar seinen Reichtum vorgeworfen, der doch nur Wohlstand war, den er durch Kriegssteuer in feindlichen Ländern erworben hatte. Er war nur der ehrliche Lohn für seine Tapferkeit und sein ganzes Verhalten, während die, die auf schamlose Weise zehnmal so große Vermögen erworben hatten, sie unter allseitiger Billigung behielten. Er konnte erst beginnen, seinen Ruhm zu genießen, da er beinah achtzig Jahr alt war. Er hat den ganzen Hof überleben müssen, um sich seines Ruhmes wirklich freuen zu können.

Man muß die Ursache zu dieser Ungerechtigkeit kennen. Der Marschall von Villars verstand es weder, sich Freunde zu verschaffen, noch sich überhaupt zur Geltung zu bringen, obgleich er von sich sprach, wie die anderen von ihm hätten sprechen sollen.

Eines Tages, als er sich verabschiedete, um das Kommando über das Heer zu übernehmen, sagte er in Gegenwart des ganzen Hofes zum König: »Sire, ich ziehe fort, um Euer Majestät Feinde zu bekämpfen, und lasse Sie mitten unter meinen eigenen zurück.« Er sagte zu den Hofleuten des Regenten, die infolge von Laws System reich geworden waren: »Ich für meinen Teil habe niemals etwas gewonnen, ausgenommen Siege über unsere Feinde.« Derartige Aussprüche, die nicht weniger mutig als seine Handlungen waren, setzten die anderen allzu stark herab, die überdies durch den Erfolg, den er hatte, sowieso gereizt waren.

Die zwei hier angeführten kurzen Aussprüche, die Voltaire unter Tausenden ausgewählt hat, zeichnen treffend die Tüchtigkeit, die Geradheit, das Selbstgefühl und die Rücksichtlosigkeit des Mannes und erklären, warum er trotz großer Verdienste nicht beliebt war. Sie zeigen außerdem deutlich, wie hoch ihn Voltaire geschätzt haben muß, da er ihn stets mit den stärksten Worten auszeichnete, sowohl wenn er ihn anredete, als wenn er ihn erwähnte.

III

Will man den richtigen Eindruck von Voltaires Essai sur les mœurs, d. h. seiner Weltgeschichte, haben, dann muß man sie mit dem vergleichen, was vor ihm als sogenannte Weltgeschichte existierte. Sonst ist man außerstande, den Fortschritt zu ermessen.

Im Jahre 1740, als Voltaire sein halbfertiges Buch über das Jahrhundert Ludwigs des Vierzehnten beiseitelegte, begann er, um Madame du Châtelet mit der Geschichte zu versöhnen, einen Abrégé de l'histoire générale, der ihr an Stelle der unlesbaren Folianten Annales mundi, Historia ab origine mundi eine leserliche Übersicht geben sollte, vermutlich dieselbe, von der später erzählt wird, daß Friedrich sie von ihm erhielt.

In den Jahren 1745-46 veröffentlichte Le Mercure Bruchstücke aus dieser Geschichte des menschlichen Geistes, 1750-1751 Geschichte der Kreuzzüge. 1753 erschien bei Jean Neaulme im Haag in zwei Bänden ein Abrégé de l'histoire universelle depuis Charlemagne jusqu'à Charles Quint, gegen die der Verfasser auf jede Weise, sogar mit Hilfe von Notaren, Protest einlegte. Im Jahre 1756 gab er selbst bei Cramer in Genf sein Werk unter dem Titel Essai sur l'histoire générale et sur les mœurs et l'esprit des nations depuis Charlemagne jusqu'à nos jours heraus, wobei er dem vorher abgeschlossenen Werk seinen Ludwig den Vierzehnten und Kapitel seines Ludwigs des Fünfzehnten hinzufügte. Aber erst im Jahre 1769, also fast im Alter von fünfundziebzig Jahren, vollendete er sein Werk, das (abgesehen von den Büchern über die französischen Könige) nun von 144 Kapiteln auf 197 Kapitel erweitert und dessen Titel zu dem einfachen Essai sur les mœurs et l'esprit des nations verkürzt worden war.

Die einzige gut geschriebene Arbeit über die Weltgeschichte, die bis dahin existierte, war das Buch Discours sur l'Histoire universelle, das der Bischof von Meaux, Jacques Bénigne Bossuet, in seiner Eigenschaft als Lehrer des Dauphin zum erstenmal im Jahre 1681 herausgegeben hatte.

Der Plan dieses Werkes war der folgende: Bossuet zeigt die Entwicklung der »Religion« von der Erschaffung der Welt und des Menschen bis zum Triumph der Kirche unter den römischen Kaisern. Während er der Anordnung der Bücher der Heiligen Schrift folgt, erklärt er die wichtigsten Dogmen, so wie sie Gott den Menschen immer nachdrücklicher offenbart. Wir sehen zuerst die Schöpfung der Welt, die durch eine freiwillige Handlung der göttlichen Macht vollbracht wird; darauf wird das Mysterium der Dreieinigkeit angedeutet, das später völlig offenbart wird; dann die Erschaffung des Menschen, wobei dessen Seele nicht vom Wesen Gottes gebildet wird, sondern nach seinem Bilde, und zur Unsterblichkeit berufen wird. Wir sehen den Menschen an der Hand Gottes wie ein Kind an der Hand seines Vaters; Gott führt, belehrt, züchtigt, versöhnt ihn. Wir lesen vom Fall der ersten Menschen, von dem Versprechen der Erlösung, von der Verderbnis des Menschengeschlechts, von der Sintflut. Wir beobachten den Irrtum, den man Mehrgötterei nennt, im ersten Keim.

Dann entsteht ein Volk, das auserwählt ist, Hüter des Gesetzes zu sein. Es folgen die Wunder, die in diesem auserwählten Volk geschehen, die ständig deutlicheren Verheißungen, Zeichen und Prophezeiungen. Darauf die Verbreitung der tröstenden, geheimnisvollen Erleuchtung der Evangelien. Das Leben des Heilands, sein Charakter und seine göttliche Sendung werden entwickelt, die Dogmen von der Menschwerdung und Erlösung dargestellt, das Evangelium wird allen Völkern verkündet.

Geleitet von den Aposteln und den Kirchenvätern bekämpft Bossuet den Unglauben der Juden, erklärt ihn aber zugleich; er sagt die Bekehrung aller Menschen voraus; bis aufs äußerste verfolgt er die jüngsten Reste des alten Heidentums in der Form abstrakter Philosophie, und zum Schluß zeigt er seinen Lesern den ständig neu auftretenden Ketzereien gegenüber feierlich die ewig siegreiche Kirche.

So unglaublich es für jetzt Lebende klingt, das nannte Bossuet Weltgeschichte, das verstand man darunter, bis Voltaire eingriff. Erinnert man sich der Geschichtsschreiber des klassischen Altertums, nimmt man nur den ältesten, kindlichsten, Herodot, und denkt an seinen umfassenden Blick, seine Gewissenhaftigkeit, nur Selbstbeobachtetes mitzuteilen, seinen klaren Verstand, seine ehrliche Wahrheitsliebe, und geht man dann von Herodots naiver, aber von gesundem Wissen strotzenden Geschichte zu Bossuets beredtem aber nichtssagendem Discours sur l'Histoire universelle über, – dann merkt man fast mit Entsetzen, welche Wirkung die Einführung des Christentums als Staatsreligion auf die Gemüter gehabt hat, auf die ganze Entwicklung des menschlichen Geistes, wie in den mehr als 2100 Jahren, die seit Herodot vergangen, die Verdummung auf eine solche Höhe gestiegen ist, daß der Wissensdrang erstickt, die Denkfähigkeit vernichtet, das Naturempfinden getötet, Vernunft und Kritik vollständig ausgerottet worden sind. Die Grundauffassung ist die eines Kindes ohne Kindlichkeit geworden. Die Intelligenz, die noch da ist, arbeitet mit Begriffen, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben; die Geschichte selbst ist zu einer Reihe von Fabeln und Legenden geworden, grausigen oder schönen aber unwahrscheinlichen, mit einander nur durch einen phantastischen Plan verbunden, der nicht aus dem Erzählten hervorgeht, sondern vom Erzähler hineingelegt wird.

Wenn man den Blick über diese Beredsamkeit geworfen hat (denn sie in jeder Einzelheit zu verfolgen, dürfte einem modernen Menschen unmöglich sein), dann begreift man, daß Voltaire noch in seinem letzten Kapitel, in dem er den Essai sur les mœurs zusammenfaßt, sich genötigt fühlt, die Aufmerksamkeit des Lesers darauf zu lenken, daß große Ereignisse das Gepräge der Wahrscheinlichkeit tragen, und daß der Leser gegenüber den Fabeln auf der Hut sein muß, mit denen Fanatismus, Leichtgläubigkeit und romantische Veranlagung zu allen Zeiten das wirklich Geschehene ausgeschmückt haben. Constantin triumphierte über Kaiser Maxentius; aber es zeigte sich keine Kreuzesfahne mit griechischer Inschrift in den Wolken über seinem Haupte. Der blutbesudelte Chlodowig nahm das Christentum an und beging neue Morde; aber es brachte weder eine Taube die heilige Phiole mit himmlischem Salböl zu seiner Taufe und Krönung, noch stieg ein Engel vom Himmel hernieder, um ihm eine Standarte zu reichen. Voltaire schreibt:

Ein Mönch von Clervaux hat einen Kreuzzug predigen können; aber man muß schon riesig dumm sein, um zu behaupten, Gott vollbrachte mit Hilfe dieses Mönches Wunder, um das Glück des Kreuzzuges zu sichern; denn der Zug war in jeder Hinsicht ebenso unglücklich, wie er töricht geplant und ungeschickt ausgeführt wurde.

König Ludwig der Achte kann an der Auszehrung gestorben sein; aber nur ein unwissender Fanatiker kann behaupten, er wäre geheilt worden, falls er eine Jungfrau umarmt hätte, und daß er als Opfer seiner Keuschheit starb.

Aus den Beispielen, die Voltaire hierbei anführt, ersieht man, wie zu seiner Zeit Weltgeschichte geschrieben wurde.

Doch es ist schon gesagt worden, daß er nicht diese ganz talentlose Art der Geschichtschreibung zu überwinden hatte, sondern die, die von dem mächtigsten Hofpriester und größten Redner Frankreichs stammte.

IV

Zuerst fiel Voltaire auf, daß in diesem Discours de l'Histoire universelle das Universum vergessen, daß in dieser Weltgeschichte von der Welt nicht die Rede war. Die ganze Geschichte beschränkte sich auf fünf Völker des Altertums: Ägypter, Perser, Griechen, Römer und Juden, doch so, daß die vier zuerst genannten Völker den Juden durchaus untergeordnet waren, nur zum Besten der Juden handelten, wirkten, siegten, verloren, andere unterwarfen. Diese ganze sogenannte Weltgeschichte drehte sich um das kleine Judenvolk. Das wirkte auf Voltaire, als hätte ein Altertumsschriftsteller aus Wales behauptet, daß in dem römischen Riesenreich nichts geschah, wo man nicht Wales vor Augen hatte, wo es nicht zum Nutzen von Wales ausging.

In le Dictionnaire philosophique hat Voltaire im »Gespräch mit einem Chinesen« einen Vertreter Chinas jahrtausendalter Zivilisation sein Erstaunen darüber ausdrücken lassen, daß China, ein Reich von so ungeheurem Umfang, mit einer so unermeßlichen Einwohnerzahl und so ehrwürdigen Religionsformen in einem so angesehenen Werke wie Bossuets Weltgeschichte nicht einmal erwähnt worden ist.

Sogar die Sprache des gepriesenen Werkes erregte durch ihre Unwahrhaftigkeit seinen Unwillen. Wieder und wieder wird davon gesprochen, daß der Heiland die Ketzereien vorausgesehen und vorausgesagt habe, gerade so, als hätte Jesus Dogmen aufgestellt, hätte deren Dienst verlangt, und hätte das Wort Ketzer gekannt und für die Personen, denen die Dogmen nichts sagen, gebraucht. Und er prägt das treffende Wort über den gewandten Stilisten Bossuet: Ein Mann, der dauernd falsche Steine in Gold faßt.

Während nun Bossuet im Dienste der christlichen Überlieferung die Geschichte des jüdischen Volkes, wie sie im Alten Testament geschildert ist, zu dem Mittelpunkt macht, um den sich alle Ereignisse auf Erden drehen, läßt sich Voltaire von seiner Leidenschaft, den Aberglauben, der sich hinter dem Begriff Offenbarung verbirgt, zu enthüllen und zu vernichten, verleiten, so abfällig wie möglich von den Juden des Altertums und den Taten, die ihnen zugeschrieben werden, zu sprechen. Für ihn gilt es ja, das Neue Testament seiner wunderbaren Voraussetzungen zu berauben. Da es ein tollkühnes Beginnen gewesen wäre, dieses in der Front anzugreifen, versuchte er, den Glauben an das Übernatürliche, das in den Evangelien berichtet wird, dadurch zu untergraben, daß er das Unwahrscheinliche und Unwahrhaftige in den Wundergeschichten des Alten Testaments darlegt.

Man darf nicht vergessen, daß das Alte Testament im achtzehnten Jahrhundert noch eine wahre Tyrannei ausübte. Obgleich der Geschichtschreiber Rollin z. B. die Anwendung von Geißel und Peitsche als unwürdige Züchtigung betrachtete, verteidigte er ihren Gebrauch aus Ehrfurcht vor der Bibel, in der sie vorkamen. Man wurde, wie Voltaire, der Gottlosigkeit angeklagt, wenn man den Jordan einen kleinen Fluß und Palästina ein unfruchtbares Land nannte, was es übrigens im Altertum wohl nicht war.

Voltaire hatte persönlich kein Vorurteil gegen die Bibel. Die fünf Bücher Mosis bildeten für ihn eine Lektüre, auf die er ständig zurückkam, und die ihm lieb war. Einmal sagt er (in einem Briefe vom 11. August 1760), daß diese Bücher für ihn hundertmal interessanter seien als Homer; ein andermal (Brief vom 15. Januar 1761): Pentateuch und Arioste sind die Freude meines Lebens; an einer dritten Stelle ( Dictionnaire philosophique, Artikel Joseph): »Die Geschichte Josephs ist, wenn man sie nur als Merkwürdigkeit und als literarisches Werk betrachtet, eines der kostbarsten Denkmäler des Altertums, das auf uns gekommen ist. Sie scheint ein wahres Muster aller orientalischen Erzählungen zu sein; sie ist ergreifender als Homers Odyssee; denn ein Held, der verzeiht, rührt stärker als einer, der sich rächt.«

Wenn Voltaire nichtsdestoweniger in späteren Lebensjahren die Erzählungen des Alten Testaments immer wieder angreift und lächerlich macht, dann geschieht es, weil er beweisen will, daß die Bibel ein Erzeugnis des Altertums wie irgendein anderes ist und unmöglich als von Gott selbst inspiriert betrachtet werden kann. Er will dadurch der »Infamen« ans Leben.

V

Das Geschlecht in Frankreich und außerhalb Frankreichs, dessen Ansicht vom Alten und Neuen Testament in mehr als fünfzig Jahren durch Ernest Renans poetische und sympathische Betrachtungsweise bestimmt worden ist, hat sich daran gewöhnt, Voltaires und des achtzehnten Jahrhunderts Ansicht von Religionsgründung als bewußtem Betrug als völlig veraltet abzufertigen. Das neunzehnte Jahrhundert mit seinem Studium des unbewußten Seelenlebens ließ die Spötterei über den Inhalt der Bibel schnell hinter sich. David Strauß machte seinerzeit ohne einen Funken von Spott den Versuch, die überlieferten evangelischen Erzählungen in Mythen aufzulösen. Ernest Renans Versuch (mit einer Ahnungsfähigkeit, die wohl manchmal versagte, ihm aber öfter den Blick eines Sehers gab), das Seelenleben und die Seelengeschichte uralter Zeiten wiederzugeben, war mit seinem Wogen vom bewegten Gefühl zur feinen Ironie der Kirche gefährlicher als Voltaires Eifer, mit Hilfe des Verstandes und der Erfahrung die Unwahrscheinlichkeit der alten Schriften nachzuweisen. Renans Zweifel untergrub sogar den Glauben an einen Gott, den Voltaire niemals angriff, während gleichzeitig sein Empfinden viel mehr vom Gefühlsinhalt der Religion bestehen ließ.

Das lag in der Natur der Verhältnisse, in den vielen neuen Mitteln zum Verständnis primitiver Seelenzustände, über die das neunzehnte Jahrhundert im Gegensatz zum achtzehnten verfügte, und es lag, wenn auch nur in jener Reaktion gegen die Verstandesherrschaft, die einen großen Teil des Geisteslebens im neunzehnten Jahrhundert in Anspruch nahm, daß in der Religionsauffassung der Nachdruck dauernd auf das Unbewußte gelegt wurde, das in der Literatur verherrlicht wurde, lange bevor es in Eduard von Hartmann seinen Philosophen und in Ernest Renan seinen Religionshistoriker fand.

Nichtsdestoweniger wird es jedem aufgefallen sein, der das Studium der Religionen des Altertums einigermaßen verfolgt, daß im zwanzigsten Jahrhundert die Überzeugung von der ganz bewußten Geschichtsfälschung durch die Sammler und Ordner des Alten Testaments, und nicht nur durch diese, sondern zugleich durch die Kirchenväter wie durch die Bearbeiter der Evangelien und der Apostelbriefe, als unerschütterlich durchgedrungen ist. Ein gewissenhafter, wenn auch hart zugreifender Forscher wie J. M. Robertson hat bei seinen Lesern keinerlei Zweifel darüber gelassen.

Doch spricht schon Renan offen von dem frommen Betrug, der sich z. B. bei der Bearbeitung der mosaischen Gesetze unter dem König Josia zeigte; im zweiten Buch der Könige, Kapitel 22, kann man deutlich verfolgen, wie die pietistische Partei, die lange den Drang nach einer Vervollständigung der Religion gespürt hatte, eine nachträgliche Offenbarung des Herren vor Moses anfertigte, die umfassender als die erste auf dem Berge Sinai war, (der übrigens damals durch den Berg Horeb ersetzt worden war). Es scheint, daß Jeremias die Seele dieser frommen Verschwörung gewesen ist, deren Führer sonst augenscheinlich der Hohepriester Hilkia, der Schriftgelehrte Saphan, verschiedene sonst unbekannte Personen Ahikam, Akbor, einer der Offiziere des Königs Asaja, und die Prophetin Hulda waren, die mit dem Wächter der Kleiderkammern des Königs verheiratet war. Als diese ihre Arbeit beendet hatten, machte Hilkia durch Saphan dem König die erstaunliche, naiv ausgedrückte Mitteilung: »Ich habe das Gesetz im Hause des Herrn gefunden«.

Was das Neue Testament betrifft, so herrscht kein Zweifel darüber, daß sowohl Stücke dem ursprünglichen Text hinzugefügt wurden (der ganze Schluß des Markus-Evangeliums), wie auch Fälschungen durch Einschiebungen häufig vorgenommen sind.

Und kommen wir zu den zeitgenössischen und späteren Zeugen für Christi geschichtliche Existenz, so finden wir die bekannte Einschaltung in den Altertümern des Josephus (XVIII 3, 3) als offenbar ganz bewußte Fälschung, sowie die bedenkliche Stelle bei Tacitus in seinen Annalen (XV, 44), an deren Echtheit die besten Kritiker unserer Zeit stark zweifeln, da das Wort Christiani zu Tacitus' Zeit kaum in Gebrauch war – keiner der Evangelisten nennt die Anhänger Jesu Christen – und außerdem scheint die ganze Erzählung von den Christenverfolgungen Neros, den lebenden Fackeln usw. viel später erdichtet zu sein. Neros vollständige Gleichgültigkeit religiösen Anschauungen, sektiererischen Ansichten und dergleichen gegenüber ist unzweifelhaft, und der Tod in den Flammen war eine Strafe, die man zur Zeit Neros in Rom nicht kannte. Die Verfolgung selbst und ihr Zusammenhang mit dem Brande Roms wird zum erstenmal in dem erdichteten Briefwechsel zwischen Seneca und dem Apostel Paulus besprochen, danach in dem Brief des Römers Clemens aus dem Jahre 125 oder 140, und diesen Brief sieht man in der Regel übereinstimmend als unecht an. Die christlichen Kirchenväter der ersten Jahrhunderte kennen ebenfalls jene Geschichte von Neros Menschenfackeln nicht, obwohl sie Tacitus kannten, und obwohl sie jene Geschichte mit der größten Wirkung hätten ausnützen können.

Mit anderen Worten: In weit mehr Punkten als man glauben sollte, in einem Umfang, von dem die öffentliche Meinung, die stets die Vergangenheit abspiegelt, keine Vorstellung hat, sind jetzt lebende Denker – im direkten Gegensatz zu der sentimentalen Reaktion des neunzehnten Jahrhunderts – verschiedentlich auf das zurückgekommen, was für Voltaire mit der Begrenzung seines Zeitalters als die ganze Wahrheit stehen mußte. Renan, der als der große Typus für seelenvolle Religionsauffassung im Gegensatz zu der verstandestrockenen und negativen Voltaires aufgefaßt werden kann, erkennt auch Voltaires Witzworte über das Tabernakel an, nennt sie vollkommen berechtigt, und auch er zeigt, wie der Gedanke von diesem tragbaren Tempel nichts anderes als eine kindische Einbildung war, die man in die Vergangenheit zurückverlegte. Die Einheit des Gottesdienstes war ein Hauptdogma in Israel geworden. Man wollte dies Dogma auf Moses zurückführen. Man setzte deshalb einen Tempel vor der Erbauung des Tempels voraus, kümmerte sich wenig um Unwahrscheinlichkeit und Unmöglichkeit, und entweder Ezechiel oder andere seines Geistes konstruierten dann dies Tabernakel ohne Rücksicht darauf, daß es in den ursprünglichen Erzählungen über die alte Zeit nicht vorkam.

Ebenso macht sich Renan nicht weniger als Voltaire über das Buch Jonas lustig, nennt es sogar »einen burlesken Narrenscherz, eine lächerliche Posse«, findet das Gespräch zwischen Jonas und Jahwe »eines der possierlichsten, das man sich vorstellen kann; es erinnert an Die schöne Helena Halévys und Offenbachs«.

Renan empfindet auch nicht weniger Abscheu als Voltaire vor der barbarischen Grausamkeit des Fünften Buches Mosis und vor dem Niederschlag, den dieser greuelvolle Text in den Mördereien des Mittelalters fand. Er schaudert zurück bei dem entsetzlichen Freudenschrei, den die Ausrottung friedlicher Nachbarvölker den Propheten entlockt, vor dem Schwelgen im Blutvergießen, das von Jeremias in die Sprache der katholischen Kirche übergegangen ist.

VI

Was das Neue Testament betrifft, so verfügen wir ja heute über ein Wissen, das Voltaire nicht besaß; wir wissen, daß die Evangelien als Erbauungsbücher von Männern verfaßt sind, die keine Verpflichtung fühlten, die geschichtliche Wahrheit zu erforschen und sich an sie zu halten, sondern Glauben erwecken wollten und alle Mittel anwandten, die sie für tauglich hielten, dies Ziel zu erreichen.

Das Alte Testament, dessen Bücher sich über Jahrhunderte erstrecken, konnte natürlich unmöglich mit einer so gleichmäßigen Tendenz abgefaßt werden; es enthielt ja eine ganze Literatur, und diese war zu Voltaires Zeit durchaus nicht so in ihre Bestandteile aufgelöst wie heutzutage.

Liest man im Dictionnaire philosophique den langen Artikel »Juifs«, dann sieht man, ebenso wie im Essai sur les mœurs, daß es sich Voltaire angelegen sein läßt, auf das größere Alter und die weit ältere Zivilisation anderer Völker aufmerksam zu machen, im Gegensatz zu der theologischen Behandlung der Juden als Urvolk alle Zeugnisse für frühere jüdische Götzendienerei, jüdische Menschenopfer, jüdische Grausamkeiten und Barbareien, jüdischen Kannibalismus unter Belagerungen usw. hervorzuheben, alles mit der Absicht, das Judenvolk von dem Mittelplatz zu entfernen, den ihm noch Bossuet in der Geschichte des Altertums gegeben hatte.

Voltaire selbst fühlte sehr gut, daß in seiner Darstellung weniger Sachlichkeit als Unwille war, und es kann kein Zweifel darüber herrschen, daß er in seiner Feindschaft gegen die Kirche den Juden als Volk des Altertums gegenüber einen Widerwillen nährte, der durch seine Eindrücke von zeitgenössischen Juden, mit denen er als Geldmenschen oder Juwelenhändlern zusammengekommen war, nicht verringert worden war.

Da er merkte, daß man ihm ohne Übertreibung einwenden konnte, daß er die üblichen Vorurteile gegen ein mißhandeltes und unterdrücktes Volk teilte, erinnerte er in seinem Dictionnaire an die Stelle im fünften Gesang der Henriade, wo er selbst über den Fanatismus gesagt hatte:

Dans Madrid, dans Lisbonne, il allume ses feux,
Ces bûchers solennels, où des Juifs malheureux
Sont tous les ans en pompe envoyés par des prêtres,
Pour n'avoir point quitté la foi de leurs ancêtres.

Voltaire hat gewiß niemals gewünscht, man sollte die Juden verfolgen; er weinte, als er erfuhr, daß in Lissabon eine Mutter und ihre Tochter lebendig verbrannt waren, weil sie an einem Apriltag stehend etwas Lammfleisch mit Salat gegessen hatten. Er begriff nicht, daß man nach der Herausgabe des Candide noch wagte, diese schaurigen Verbrennungen zu veranstalten; er beglückwünschte Holland dazu, daß es den Juden Menschenrechte gewährte. Aber das schloß nicht aus, daß er in der Regel über die Juden in einem gehässigen Tone sprach.

Gelegentlich kann er sich ohne Unwillen mit der Bibel beschäftigen, sie ruhig studieren, aber ständig kommt er auf die Stellungnahme zurück, den Gegenbeweis gegen die Wahrheit der einzelnen Legenden führen zu wollen, anstatt wie die Gelehrten späterer Zeiten ihre Entstehung zu erklären.

Als Beispiel kann man die Erzählung vom goldenen Kalb nehmen, das die Juden, als ihnen Moses zu lange auf dem Berge bei Jahwe blieb, sich von Aaron anfertigen ließen, damit sie »einen Gott bekämen, der ihnen vorangehen konnte«. Die ganze Legende ist ja von äußerster Kindlichkeit und konnte Voltaire nur zum Widerspruch reizen, weil verlangt wurde, an sie wie an eine geschichtliche Tatsache zu glauben.

Aaron verlangt von der Volksmasse deren goldene Ohrringe, und gießt daraus auf der Stelle ein goldenes Kalb, wobei er sinnlos sagt: »Israel, dies sind deine Götter, die dich aus Ägyptens Land führten«. Als Moses vom Berge zurückkommt und über das Geschehene in Erbitterung gerät, verbrennt er das Kalb, so daß es zu Staub wird, streut den Goldstaub in das Wasser und gibt dies dem Volke zu trinken.

Voltaire behandelt die Legende rationell, macht geltend, daß man Gold nicht in Staub verwandeln kann, wenn man es ins Feuer wirft, daß trinkbares Gold, das heißt in Königswasser aufgelöstes Gold eines der stärksten Gifte ist, die man kennt, oder wenn es sich um durch Schwefel aufgelöstes Gold handelt, würde es einen so abscheulichen Trank geben, daß es sich als unmöglich erweisen würde, ihn hinunterzuschlucken. Und Voltaire hebt die Ungerechtigkeit hervor, daß Gott alle Anbeter des Kalbes tötet, mehrere Tausend Mann »wegen des Kalbes, das Aaron gemacht hatte«, während Aaron selbst frei ausgeht.

Und immer wieder kommt nun Voltaire in seinen Schriften auf dies unmögliche goldene Kalb zurück, das in vierundzwanzig Stunden aus Ohrringen gemacht wurde. Noch 1770, als er in sein sechsundsiebzigstes Jahr ging, und als er in Ferney den Besuch des großen Bildhauers Pigalle hatte, dem die Ausführung seiner Statue übertragen war, spielte das goldene Kalb in seinem Bewußtsein eine Rolle.

Er räumte Pigalle zwar widerstrebend täglich ein paar Stunden ein, in denen er ihm saß oder stand. Aber es war ihm unmöglich, sich einen Augenblick ruhig zu verhalten. Er wollte die Zeit nicht vergeuden und hatte seinen Sekretär neben sich, dem er Briefe diktierte, während er modelliert wurde; er schnitt nach seiner Gewohnheit bisweilen Gesichter und blies die Backen auf drollige Weise auf. Schließlich, am letzten Tage, kam zum Glück für Pigalle die Rede auf Aarons Goldkalb, und Voltaire war plötzlich interessiert und blieb vollkommen ruhig. Voltaire hatte nämlich die Absicht, in der von Choiseul neu aufgeführten Stadt (Versoix) ein kleines Reiterstandbild des Königs aufstellen zu lassen, und er fragte Pigalle, welche Zeit es erfordern würde, das nur drei Fuß hohe Pferd zu gießen. Der Bildhauer antwortete: »Ich brauche ein halbes Jahr dazu«. Sofort führte Voltaire das Gespräch auf das goldene Kalb, von dem er besessen war, und war glücklich, als Pigalle ebenfalls sechs Monate brauchen würde, es zu gießen. Inzwischen gelang es dem Bildhauer, sein Modell auszuführen, wie er es gewünscht hatte.

Das ist ein Beispiel unter vielen von Voltaires Leidenschaft, Unwahrscheinlichkeiten und Unmöglichkeiten in biblischen Sagen nachzuweisen, für die wir nur das Interesse haben, zu erfahren, wie sie sich gebildet und welche Bedeutung sie ursprünglich gehabt haben.

VII

Im Jahre 1762 gab ein portugiesischer Jude namens Pinto eine kleine Flugschrift gegen die ungerechte Besprechung der Juden im ersten Abschnitt des Artikel »Juifs« im Dictionnaire philosophique heraus. Er bewies in seinen Réflexions critiques das Unbillige im Urteil Voltaires und sandte die Broschüre mit folgendem schönen Brief nach Ferney:

Wenn ich mich an einen anderen als an Sie wenden müßte, würde ich sehr verlegen sein. Es handelt sich darum, Ihnen eine Erwiderung auf eine Stelle Ihrer unsterblichen Werke zu senden. Und ich bin gezwungen, das zu tun, ich, der ihr größter Bewunderer ist, ich, der geschaffen ist, sie zu lesen, sie zu studieren und sonst zu schweigen. Da ich aber den Verfasser noch mehr achte, als ich die Werke schätze, glaube ich, daß er groß genug ist, mir diese Kritik zu verzeihen, deren Ziel die Wahrheit ist, die ihm so teuer ist, und die er vielleicht nur bei dieser Gelegenheit aus dem Auge verloren hat. Ich hoffe wenigstens, daß er mich um so entschuldbarer finden wird, als ich zum Besten eines ganzen Volkes handle, dem ich angehöre und dem ich diese Verteidigung schuldig bin.

Ich habe die Ehre gehabt, Sie in Holland zu sehen, als ich jung war. Seit damals habe ich Belehrung in Ihren Schriften gesucht, die zu jeder Zeit meine Freude gewesen sind. Sie selbst haben mich gelehrt, Sie zu bekämpfen; Sie haben mehr getan, Sie haben mir den Mut eingeflößt, es Ihnen zu gestehen. Ich hege über das, was Worte ausdrücken können, hinaus Achtung und Ehrfurcht usw.

Voltaire antwortete (am 21. Juli 1762) mit einem Briefe, der höchst anständig beginnt:

Die Zeilen, über die Sie, mein Herr, sich beklagen, sind übertrieben und ungerecht. Es gibt unter den Juden sehr kenntnisreiche und achtungswürdige Männer. Ihr Brief würde genügen, mich davon zu überzeugen. Ich werde jene Zeilen in einer neuen Ausgabe streichen. Wenn man ein Unrecht begangen hat, soll man Genugtuung geben, und ich habe Unrecht gehabt, als ich einer ganzen Nation die Laster einzelner beilegte.

Doch selbst in diesem großen Artikel aus dem Dictionnaire philosophique stehen Abschnitte, die sowohl Mitgefühl wie Verständnis verraten.

Er spricht da seine Verwunderung darüber aus, daß der jüdische Stamm noch besteht nach den Blutbädern, denen er ausgesetzt gewesen ist, hebt das nüchterne und ruhige Leben der Juden hervor, ihre Enthaltsamkeit, ihre frühzeitigen Ehen, ihre Arbeitsamkeit, ihr Festhalten an ihrer Religionsform und ihren entschiedenen Widerwillen, aus eigennützigen Gründen eine andere anzunehmen. Er erklärt auch den Haß, dessen Gegenstand sie geworden sind. Er schreibt:

»Wir haben gesehen, wie die Inquisition die Juden aus Spanien vertrieb. Darauf angewiesen, von Land zu Land zu irren, über ein Meer nach dem anderen, um ihr Brot zu verdienen, überall von dem Verbot getroffen, Grund und Boden zu besitzen und Ämter zu bekleiden, haben sie sich gezwungen gesehen, sich zu zerstreuen, und sich außerstande gefühlt, irgendwo festen Aufenthalt zu nehmen, da sie weder die Macht besaßen, sich dort zu behaupten, noch Verständnis für das Militärwesen hatten. Der Handel, ein Beruf, der so lange von den meisten Völkern Europas gering geachtet wurde, war in barbarischen Jahrhunderten ihre einzige Zuflucht; und als sie notwendigerweise allmählich reich wurden, behandelte man sie wie ehrlose Wucherer. Könige, die sonst nicht in die Börsen ihrer Untertanen greifen konnten, unterwarfen die Juden der Tortur, um ihr Geld zu bekommen, da diese allein nicht als Bürger des Staates betrachtet wurden.«

Im Jahre 1769 gab der Abbé Guenée, der gegen Voltaire bereits früher seinen Brief des Rabbiners Aaron Mathathaï veröffentlicht hatte, ein ganzes Buch gegen seine Auffassung des jüdischen Volkes heraus. Das Buch bietet sich dem Leser als eine Reihe von Briefen dar, die von holländischen, portugiesischen, polnischen und deutschen Juden geschrieben sind. Der Titel ist Lettres de quelques Juifs portugais et allemands à M. de Voltaire avec quelques réflexions critiques. Der erste Brief ist unterzeichnet Joseph Lopez, Isaac Montenero, Benjamin Groot usw. Der kurze Kommentar, der den Briefen folgt, ist unterschrieben Joseph ben Jonathan, Aaron Mathathaï, David Winckler. Das Buch erregte Aufsehen und hatte Erfolg. Die vierte Auflage in drei dünnen Bänden erschien 1776.

Ende dieses Jahres gab Voltaire als Antwort ein ganzes Werkchen heraus, dessen Titel zuerst lautete: Le Vieillard du mont Caucase aux Juifs portugais, allemands et polonais, das aber später den Titel erhielt, unter dem die Schrift auch in Voltaires gesammelten Werken zu finden ist: Un Chrétien contre six Juifs, in dem Voltaire seine früheren Äußerungen über das Alte Testament und dessen Volk verteidigt und alles zusammenfaßt, was er überhaupt bezüglich der Stellung des jüdischen Volkes zu anderen Völkern des Altertums, dessen Geschichte, Sagen und Gesetze, dessen Sitten und Gebräuche, dessen Kulturstufe auf dem Herzen hat. Darin die sehr bezeichnende Stelle:

»Gebt mir also zu, daß Ihr in Eurer Blütezeit ebenso barbarisch wart wie wir in den Jahrhunderten gewesen sind, wo wir unzivilisiert waren. Lange sind wir Gog und Magog gewesen. Alle Völker sind es gewesen.

Et documenta damus qua simus origine nati

Ovidius: Metamorphosen I. V, 415.

(Wir legen reichlich Zeugnis dafür ab, was unser Ursprung gewesen ist.) Unsere Vorfahren waren Wildschweine bis zum sechzehnten Jahrhundert; danach fügten sie zu den Hauern des Wildschweins die Grimassen der Affen hinzu. Schließlich sind sie Menschen geworden, und zuweilen liebenswürdige Menschen. Sie, meine Herren, sind früher die abscheulichsten und dümmsten Luchse gewesen, die die Erdoberfläche befleckt haben. Jetzt leben Sie ruhig in Rom, Livorno, London, Amsterdam. Vergessen wir die Dummheiten und die Abscheulichkeiten, die wir, beide Parteien, in alten Zeiten begangen haben; essen wir gemeinschaftlich Rebhuhn, das ein wenig gespickt ist; denn ohne Speck ist es zur Fastenzeit etwas trocken.«

Zum Schluß beim Speck zeigt sich das Lächeln in dem Gesicht, das sich so lange ernst gehalten hat. Wie man sieht, fällt es Voltaire nicht ein, das Bürgerrecht für die Juden zu fordern. Aber darüber ist kein Zweifel, daß seine Äußerungen über die Barbarei ihm von Herzen kamen. Ähnlich heißt es in seinem Ludwig dem Fünfzehnten: »Da die Menschen so lange wie wilde Tiere von wilden Tieren regiert worden sind, vielleicht einige Jahre unter Ludwig dem Heiligen, Ludwig dem Zwölften und Heinrich dem Vierten ausgenommen, haben die Geister, je zivilisierter sie wurden, um so stärkeren Abscheu vor der Barbarei gefühlt, von der so viele Reste zurückgeblieben sind.«

VIII

Selbstverständlich ist die ganze reservierte Haltung Voltaires den Juden seiner Zeit gegenüber, wie seine Abneigung gegen sie im Altertum von seinem Kampf gegen die christliche Kirche bestimmt. Aber man hüte sich sehr vor der albernen Schablone, die von Joseph de Maistre stammt, Voltaire die Rolle eines Antichrist zuweist und ihm damit eine Art persönlicher Feindschaft gegen die Jesusgestalt anhängt, wie diese vor der Phantasie der modernen Menschen steht. Gerade umgekehrt, man findet bei Voltaire sowohl Zärtlichkeit wie Verehrung für Jesus, eine andächtige und liebevolle Ehrfurcht.

Man schlage im Dictionnaire philosophique den Artikel Religion auf und lese ihn aufmerksam und nachdenklich. Er umfaßt 26 große Seiten und ist viel zu lang, um ausgeführt werden zu können, aber man kann eine oder zwei Seiten zitieren. Man lese die zweite Section, die beginnt: »Ich grübelte in der Nacht. Ich verlor mich in Betrachtung der Natur; ich bewunderte das Unermeßliche in den Bewegungen und gegenseitigen Verhältnissen dieser unendlich vielen Sterne, wovon der Haufen keinerlei Eindruck empfängt.«

Ein Engel, der sich ihm vorher offenbart hat, führt ihn in eine Wüste, die mit Massen aufgehäufter Knochen bedeckt ist. »Ach, mein Erzengel,« sagt er zu seinem Begleiter, »wohin führst du mich?« – In die Trostlosigkeit. – Und der Engel zeigt ihm Haufen von Totengerippen derer, die wegen der unduldsamen Uneinigkeit über das, was man überirdisch nennt, ermordet worden sind.

Der erste Knochenhaufen ist der der Juden. Da sind die Knochen der 23 000 Juden, die um das goldene Kalb tanzten, der 24 000, die erschlagen wurden, weil sie midianitische Frauen umarmt hatten usw.

Die anderen riesigen Haufen sind die Gebeine der Christen, die einander aus religiösen Gründen umgebracht haben. Diese Berge gebleichter Gerippe sind so eingeteilt, daß auf jeden Haufen die Leichen von vierhundert Jahren kommen, da sie, uneingeteilt zusammengelegt, bis an den Himmel reichen würden. Da sind für sich die Knochen von zwölf Millionen Amerikanern, die man in ihrem Vaterland umgebracht hat, weil sie nicht getauft waren.

Und der Engel zeigt ihm neben den Knochenbergen andere Haufen von Säcken mit Gold und Silber; das ist die Beute, die man bei den erschlagenen Ketzern gemacht hat, im achtzehnten Jahrhundert, oder im siebzehnten, oder im sechzehnten, oder es ist das Gold und Silber der ermordeten Amerikaner.

Der Engel führt ihn schließlich an den Ort, wo sich die Herren des Menschengeschlechts, dessen Wohltäter, aufhalten, die versucht haben, Gewalt und Raub aus der Welt zu verbannen. Und Voltaire spricht mit Numa, mit Pythagoras, mit Zarathustra, mit Anaximandros und besonders lange mit Sokrates. Dann setzt er seine Wanderung in einen stillen Hain fort:

Ich sah dort einen Mann mit sanftem, schlichtem Aussehen, der mir ungefähr fünfunddreißig Jahr alt schien. Er warf aus weiter Ferne mitleidsvolle Blicke auf die Haufen gebleichter Knochen, durch die ich hatte gehen müssen, um zum Aufenthaltsort der Weisen zu kommen. Ich wunderte mich, als ich entdeckte, daß seine Füße geschwollen und blutig waren, ebenso die Hände, daß seine Seite durchbohrt und der Rücken von Peitschenschlägen geschunden war. – Gütiger Gott! sagte ich zu ihm, ist es möglich, daß ein Gerechter, ein Weiser sich in solchem Zustand befindet? Ich habe eben einen Weisen getroffen, der schändlich behandelt worden ist; aber es ist kein Vergleich zwischen dem, was er gelitten, und Euch. Waren es Priester und Richter, die Euch so grausam ermordet haben?

– Er antwortete mit vieler Milde Ja.

– Es waren Ungeheuer?

– Es waren Heuchler …

– Ihr habt sie eine neue Religion lehren wollen?

– Durchaus nicht. Ich sagte einfach zu ihnen: »Liebet Gott von ganzem Herzen und Euren Nächsten wie Euch selbst«; denn das ist alles. Ist dies Gebot nicht so alt wie die Welt? Urteile selbst, ob ich eine neue Religion lehren wollte. Wieder und wieder sagte ich ihnen, daß ich nicht gekommen war, das Gesetz abzuschaffen, sondern es zu erfüllen; ich beobachtete alle ihre Gebräuche; ich war beschnitten wie sie; ich war getauft wie die eifrigsten von ihnen; ich brachte Opfer wie sie; ich aß wie sie zur Osterzeit stehend vom Lamm. Ich betete im Tempel …

– Diese Elenden konnten Euch nicht einmal Gleichgültigkeit für ihre Gesetze vorwerfen?

– Nein, in keiner Weise.

– Warum haben sie Euch denn in den Zustand gebracht, in dem ich Euch sehe?

– Was soll ich antworten! Sie waren hochmütig und selbstsüchtig. Sie sahen, daß ich sie durchschaute; sie wußten, daß ich die Bürger des Landes lehrte, wie sie waren; sie waren stärker; sie nahmen mir das Leben, und ihresgleichen werden sich zu allen Zeiten, wenn sie es können, ebenso benehmen gegen jeden, der allzu deutlich zeigt, wie diese Art Wesen in Wirklichkeit sind …

– Habt Ihr keinerlei Verantwortung dafür, daß man diese furchtbaren Knochenhaufen errichtet hat?

– Ich habe mit Schrecken auf die Männer gesehen, die sich aller dieser Morde schuldig gemacht haben.

– Und diese Denkmäler für Macht und Reichtum, Hochmut und Habgier, die Schätze, dieser Schmuck, den ich am Wege, auf dem ich nach Weisheit ging, aufgehäuft gesehen habe, stammen sie von Euch?

– Das ist unmöglich. Ich und die meinen haben in Armut und Erniedrigung gelebt. Meine Größe war nur die des Geistes.

– Ich war daran, ihn anzuflehen, mir offen zu sagen, wer er war. Mein Begleiter gab mir jedoch einen Wink, das zu lassen, und sagte mir, daß hier ein heiliges Geheimnis vorlag. Ich beschwor da den Fremden nur, mir zu sagen, worin die wahre Religion bestehe.

– Habe ich es nicht schon gesagt? Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst.

– Wie? Man kann Gott lieben, und doch am Freitag nicht fasten?

– Ich habe stets gegessen, was man mir vorsetzte; ich war zu arm, andere zu einem Mahl einladen zu können …

– Kann man, wenn man recht handelt, sich von der Pilgerfahrt nach Sanct Jago de Compostella frei machen?

– Ich bin niemals in dem Land gewesen …

– Muß ich für die griechische oder für die römische Kirche Partei nehmen?

– Ich machte keinen Unterschied zwischen Juden und Samaritern, als ich auf Erden war.

– Gut, wenn es sich so verhält, sollt Ihr mein einziger Lehrer und Meister sein.

Er machte mir ein Zeichen mit dem Kopf, das mich mit Trost erfüllte. Die Erscheinung verschwand; und ein gutes Gewissen blieb.

Befreite Voltaire also die Weltgeschichte von der kirchlichen Auffassung des jüdischen Volkes als des Hauptstammes der Erde, so ist es doch unmöglich, ihm dauernde Verkennung des Volkes zuzuschreiben, und unmöglich, ihm Feindschaft gegen die Jesusgestalt anzudichten, die er verherrlicht und seinen einzigen Meister genannt hat.

IX

Wir sahen, daß Voltaire die Weltgeschichte nicht als Geschichte der Könige, sondern als die Geschichte der Zivilisation auffasste, nicht nur Kriege und Schlachten erzählen wollte, sondern den Charakter der Sitten, die Entwicklung des Handels, die Fortschritte der Literatur und der Künste, soweit man bei diesen von einem Fortschritt reden kann; auf jeden Fall wollte er deren Blütezeiten behandeln und auf die besten Werke aufmerksam machen.

Doch die Hauptsache ist, daß er im Gegensatz zu Bossuet die Geschichte der Erdkugel und nicht nur der Mittelmeervölker schreiben wollte. Er wußte, daß Chinesen, Babylonier, Inder, Ägypter eine Geschichte hatten, die weit hinter die des kleinen hebräischen Volkes zurückging und weit älter als die Geschichte des klassischen Altertums war, obwohl die Gelehrten immer nur den Lebensgang und das Lebenswerk der Griechen und Römer behandelten.

Es genügte, daß er seinen geliebten arabischen Kaffee aus einer chinesischen Porzellantasse trank, dann war ihm zu Mute, als betrachtete er einen Globus.

L'Essai sur les mœurs hat einen gewaltigen Umfang. Das Werk umfaßt vier schwere Bände in großem Format, und betrachtet man – wie Voltaire – die Bücher über Louis Quatorze und Louis Quinze als Fortsetzungen dazu, dann werden es sieben Bände.

Daß ein solches Werk, das beinah neun Jahrhunderte und alle Länder umfaßt, in vielen Teilen nicht aus einer selbständigen Bearbeitung der Quellen heraus geschrieben ist, versteht sich von selbst. Jedoch haben Männer, die wie Lanson das Verhältnis des Werkes zu seinen Voraussetzungen geprüft haben, gefunden, daß sich Voltaire überall an die Schriftsteller gehalten hat, die zu seiner Zeit die besten Autoritäten waren; bei Mohammed an Gagnier und Sale, bei China an du Halde, bei der Kirchengeschichte und den Kreuzzügen an Fleury, bei der Geschichte Englands an den obenerwähnten Rapin de Thoyras, doch so, daß er überall, wo es ihm möglich war, sich aus den Aktenstücken, auf die ihn diese Schriftsteller verwiesen, belehrte.

Obgleich sich die Geschichtschreibung Voltaires mit Kleidertracht beschäftigt, mit Lebensweise, Dachdeckung, Preisen, Heizungen zu den verschiedenen Zeiten in den verschiedenen Ländern, obgleich er versucht, sich klarzumachen, welchen Proviant man in einem Wikingerschiff mitnahm (er meint: Bier, Schiffsbrot, Rauchfleisch und Käse) und obgleich er immer danach strebt, festzustellen, zu welchem Zeitpunkt wichtige Erfindungen gemacht wurden (wie Brillen, Fayence), ist seine Grundauffassung doch insofern rein geistig, als er beständig versucht, den Leser für seine Ideale zu gewinnen und ihn dahin zu bringen, für die Durchführung dieser Ideale zu arbeiten.

Die Erfahrung hat ihm gezeigt, daß es bestimmte Voraussetzungen für das Glück und Unglück der Menschen gibt. Er findet, daß das Unglück, soweit sein Ursprung in der Welt des Menschen liegt, zwei Grundursachen hat, den religiösen Fanatismus und den Krieg, der nicht selten eine Folge des Fanatismus ist, aber doch auch oft dem rücksichtslosen Ehrgeiz der Könige entstammt.

Da gilt es für ihn, die Völker zu wecken, damit sie gegenüber den vernunftwidrigen, blutdürstig stimmenden Dogmen der Priester auf ihrem Posten sind, wie auch gegenüber dem unfruchtbaren Ehrgeiz der Fürsten, der diese dazu verführt, einander im Kriege zu vernichten und auszurotten. Voltaire beurteilt nicht deshalb die Vergangenheit nach dem Maßstab der Gegenwart; er sieht in dem Papsttum des Mittelalters eine Macht, die es allein mit der kriegerischen Brutalität der weltlichen Machthaber aufnehmen konnte, und er schätzt die stillen Studien und die friedliche Sinnesart, die in den Klöstern des Mittelalters gepflegt wurden. Er unterschätzt auch niemals die fördernde Tat, die ein überlegener, reformatorischer Tyrann ausüben kann. Man lese sein Buch über Peter den Großen!

Aber, wie schon erwähnt, er entsetzt sich, wenn er in der Geschichte rückwärts schaut, über das Gewebe von Schrecken und Dummheiten, das der Lebensgang der Geschlechter bildet. Und er nimmt Ärgernis an seinen kindischen und servilen Vorgängern, den früheren Geschichtschreibern, sowohl den Chronisten des Mittelalters wie den geistlichen Akademikern aus neuerer Zeit, die Roheit, Betrug und Lüge verherrlicht, die Ungerechtigkeit als Strenge verkleidet und niemals gewagt haben, den dummen Hochmut der Herrschenden und die thörichte und feige Untertänigkeit der Völker zu stempeln.

Im großen und ganzen ist Voltaires Riesenwerk überraschend genau, es übersieht keine zu seiner Zeit erlangbaren Kenntnisse.

Der Jesuit Nonnotte, der zwei kleine, dicke Bände gegen Voltaire herausgab, Erreurs de Monsieur de Voltaire, hat zwar hier und da eine Ungenauigkeit gefunden, sich aber im übrigen nur Pfähle in den Leib gelaufen. Er nennt jede anerkannte Tatsache, die dem Könige oder der katholischen Kirche nicht zur Ehre gereicht, eine Lüge, und Wahrheit nennt er alles, was während der Religionsstreitigkeiten den Hugenotten und den Ketzern zur Last gelegt wurde, wie wenig es auch auf sich hatte. So unlesbar seine beiden Bände sind, sie waren bald ausverkauft, und wurden in einer erweiterten Ausgabe herausgegeben, die kein geringerer als Papst Clemens der Dreizehnte mit einer Nachschrift versah, die den Verfasser segnet und das Buch mit den Worten preist, Nonnotte hätte der Kirche nicht besser dienen können, als er durch die Abfassung dieses vortrefflichen Werkes getan, das die Irrtümer eines Schriftstellers widerlegt, der weniger wegen seines Geistes als wegen seiner Gottlosigkeit berühmt ist.

So hochbegabt und fein, so politisch vorgeschritten und einsichtsvoll Benedikt der Vierzehnte gewesen war, so unselbständig, beschränkt und zanksüchtig war Clemens der Dreizehnte, der ihm 1758 auf dem Papststuhl gefolgt war, und diese Anerkennung Nonnottes ist einer der vielen Beweise dafür.

Voltaire, dem es schwer fiel, einem Gegner das letzte Wort zu lassen, fühlte sich bewegt, dem Jesuiten zu antworten, der doch ebensowenig begabt wie belesen war, und er gab 1763 unter dem Namen Damilaville seine Eclaircissements historiques à l'occasion d'un libelle calomnieux contre l'Essai sur les mœurs heraus, eine recht überflüssige Schrift, durch die man heute schwer hindurchkommt, da eine Widerlegung von Irrtümern und Dummheiten Punkt für Punkt ohne inneren Zusammenhang, die sich über ein paar Hundert Seiten erstreckt, für die Nachwelt wenig oder gar kein Interesse hat. Von einiger Bedeutung ist es doch, hier wieder die Wärme zu beobachten, mit der Voltaire die geschichtliche Jeanne d'Arc lobt und verteidigt.


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