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Als Voltaire im Juli 1753 der preußischen Gefangenschaft in Frankfurt entronnen war, wurde er in Mainz aufs glänzendste aufgenommen und der Kurfürst huldigte ihm durch ununterbrochene Festlichkeiten auf dem Schlosse Schwetzingen, wo ihm zu Ehren vier seiner Stücke aufgeführt wurden. Es könnte also scheinen, als würde das zwischen ihm und dem König von Preußen entstandene Mißverhältnis nicht einmal in Deutschland irgend einen Einfluß auf seine Lage ausüben. Als er sich von dort nach dem Elsaß begab und mehrere Monate unbehelligt auf französischem Boden lebte, konnte er sich eine kurze Zeit vorstellen, er wäre in seiner Heimat gern gesehen und könne als freier Mann Aufenthalt nehmen, wo er wolle.
Er wurde doch bald aus diesem Glauben gerissen. In Colmar erfuhr er, daß ein Buchhändler Jean Néaulme im Haag ohne sein Wissen und Wollen ein altes Manuskript von ihm veröffentlicht hatte, eine kurzgefaßte Weltgeschichte, die er vor fünfzehn Jahren Friedrich dem Großen geschenkt hatte, Abrégé de l'histoire universelle. Es wurde behauptet, das Manuskript hätte zur Beute nach der Schlacht bei Sohr gehört und wäre für 50 Louisdor von dem Kammerdiener des Prinzen Karl verkauft worden. Wie es aber auch in den Besitz des Buchhändlers gekommen war, durch Raub oder Diebstahl, der Druck setzte den Verfasser großen Gefahren aus.
Es hatten sich nicht nur Flüchtigkeiten und Unrichtigkeiten in die Abschrift eingeschlichen, die die Unterlage bildete, der Text war manchmal derart verändert, daß die Stelle, wenn man sie feindlich deutete, als Angriff auf die französischen Behörden ausgelegt werden konnte. An einer Stelle hatte Voltaire z. B. geschrieben: »Die Historiker ähneln in diesem Punkte gewissen Tyrannen, von denen sie sprechen, die dem Wohl eines einzelnen Menschen das des Menschengeschlechtes opfern.« Hier war das Wort Tyrannen durch Könige ersetzt worden, was es etwaigen Fürsprechern Voltaires am Hofe sehr schwierig gemacht hätte, seine Sache zu vertreten.
Hierzu kam, daß Bruchstücke aus La Pucelle, die ebenfalls aus der Kassette des Königs von Preußen erbeutet worden waren, sich nun in Wien befanden und plötzlich gedruckt vorliegen konnten. Die kurzgefaßte Weltgeschichte genügte indessen schon. Sie hatte die ganze Geistlichkeit in Frankreich gegen ihn aufgebracht, und seine Sache war gründlich verloren.
Er wußte nicht, daß der leitende Minister, sein alter Schulkamerad, der Marquis von Argenson, bereits am 8. August 1753 in seinem Tagebuch bemerkt hatte: »Man verweigert dem Dichter Voltaire die Genehmigung, nach Frankreich zurückzukehren. Man will durch diese kleine Aufmerksamkeit dem König von Preußen gefällig sein, während man ihm in wichtigeren Angelegenheiten entgegen ist.«
Nicht nur jeder Rückweg nach Paris war so für Voltaire versperrt, sondern die Jesuiten, deren Einfluß im Elsaß groß war, waren fest entschlossen, ihn auch dort nicht zu dulden. Vor wenigen Jahren, 1750, hatte man auf dem größten Platz in Colmar ein Autodafé aller Exemplare von Bayles Dictionnaire veranstaltet, die Privatleute in der Stadt besaßen; ja, zum Schluß kamen diese selbst und warfen ihre Bücher in den Scheiterhaufen.
Voltaire tat nach seiner Gewohnheit, was von ihm verlangt wurde, um die geistlichen Machthaber milder zu stimmen, ging in die Kirche und ging zum Abendmahl. Er wollte das Recht erlangen, nach Paris zurückzukehren und sich in Frankreich aufzuhalten. Er durfte sich auch nicht dem aussetzen, daß Friedrich ihn auf die Dauer für seinen Gegner hielt. Ein gekrönter Philosoph ist ja um vieles stärker als ein ungekrönter. Er wußte, daß nur ein Wort des preußischen Gesandten in Paris nötig wäre, und seine Rückkehr würde unmöglich sein. Mylord Maréchal hatte das offen zu seiner Nichte ausgesprochen, und der dem König ergebene Schotte hatte die Drohung geäußert, um zu verhindern, daß Voltaire eine Zeile oder ein Gedicht gegen seinen Herren veröffentlichte, der noch vor so ganz kurzer Zeit Voltaires Freund gewesen war. Die Drohung war überflüssig, da Voltaire seine Erbitterung in sich schlang und an keinerlei feindliche Haltung dachte, und der Druck von Preußen war überflüssig, da Ludwig XV. auf jeden Fall den Unruhestifter ein für alle Male los sein wollte.
So unsicher sich Voltaire auch fühlte, er begriff nicht, wie aussichtslos seine Stellung in Frankreich in Wirklichkeit war. Es ist leicht genug zu sagen, er hätte keine Zugeständnisse machen sollen. Falls man sich in jener Zeit weigerte, zum Abendmahl zu gehen, mußte man es »par arrêt de Parlement« tun. Das heilige Abendmahl wurde unter Drohung von Bajonettstößen zelebriert, »la baïonette au bout du fusil«.
Kirche und Königtum fühlten den Boden unter sich beben, und mit dem Fortschreiten des Jahrhunderts wurde ihre Selbstbehauptung immer krampfhafter. Die französische Inquisition nahm an Ausdehnung und Machtfülle ständig zu. Bereits im Jahre 1735 hatte Voltaire geschrieben: »In was für einem Jahrhundert leben wir! Heutzutage hätte man La Fontaine sicher verbrannt.« Am 12. Februar 1752 schrieb d'Argenson in seinem Tagebuch: »Weh den ehrlichen Männern, die jetzt ihre Zunge nicht im Zaum halten!« Am 7. Mai desselben Jahres erzählt er nach einer Unterredung mit D'Alembert über die Möglichkeit, die Enzyklopädie fortzusetzen, daß D'Alembert ihm bewiesen habe, es wäre unumgänglich, die Gedanken durch Trivialitäten zu ersetzen; es gäbe keine Redefreiheit. – Zehn Jahre danach schreibt D'Alembert niedergeschlagen, blutenden Herzens an Voltaire: »Sie können sich nicht vorstellen, zu welcher Höhe an Raserei die Inquisition gelangt ist. Die Zöllner des Gedankens, die ja königliche Zensoren heißen, streichen in den Büchern Wörter wie Aberglauben, Duldsamkeit, Verfolgung.«
Sehen wir zurück auf Voltaires frühere, verhältnismäßig so unschuldige Schöpfungen, so finden wir Karl XII. verboten, auf Schleichwegen vertrieben, La Henriade so vollkommen unterdrückt, daß 1728 in Paris weder für Silber noch Gold ein Exemplar aufzutreiben war. 1733 wird sie »geduldet«, man hat Nachsicht mit ihr; gesetzlich erlaubt war sie nicht. Wir haben verfolgt, welchen Gefahren das Gedicht Le Mondain den Urheber aussetzte. Lettres Philosophiques wurden vom Henker verbrannt. Das Gedicht Poème sur la loi naturelle wurde später ebenfalls auf Parlamentsbefehl verbrannt. Die in der Ouverture erwähnte königliche Erklärung vom April 1757 machte jede Schriftstellertätigkeit lebensgefährlich.
Im Jahre 1724 war ein Bewohner von Montmartre wegen Verspottung Gottes lebendig verbrannt worden. Am 6. September 1758 wurde ein Justizbeamter namens Moriceau de la Motte erst zur öffentlichen Buße und danach zum Tode durch Erhängen verurteilt, weil er im Besitz von Plakaten gefunden worden war, die »bestimmt schienen, angeschlagen zu werden«, besonders da er stark verdächtig war, was auf den Plakaten stand, verfaßt zu haben (man erfährt nicht, was); er hätte privat »aufrührerische Reden« geführt.
1768 wurde ein armer Teufel zur Galeere verurteilt, weil er einen Buchhändler gebeten hatte, ihm ein paar Bücher abzunehmen, die er als Bezahlung erhalten hatte. Der Kolporteur, von dem er die Bücher empfing, wurde ebenfalls zur Galeere verurteilt. Seine Frau wurde ins La Salpêtrière-Gefängnis gesteckt. Diderot teilt mit, daß alle drei außerdem an den Pranger gestellt, gepeitscht und gebrandmarkt wurden.
Tocqueville hat es an einer Stelle »eine Lächerlichkeit« genannt, zu glauben, daß die königliche Erklärung über die Presse buchstäblich genommen wurde. Das zeigt nur seine Voreingenommenheit als konservativer Schriftsteller. Nach der Erklärung hat Voltaire die größte Mühe, einen Artikel für die Enzyklopädie »christlich« genug zu machen, damit D'Alembert ihn drucken lassen darf. Er bekommt den Artikel zurück und wird gebeten, die Ausdrücke noch weiter zu mildern.
Jeder begreift, welche Gefahr er lief, als er ein Werk wie den Dictionnaire philosophique veröffentlichte. 1769 wurde in Paris seine Histoire du Parlement mit 6 Louisd'or bezahlt (144 Francs nach damaligem Geld, jetzt also vielfach mehr); man hatte die Händler so schwer bestraft, daß niemand wagte, ein solches rein historisches Werk zu verkaufen.
Und man verbrannte seine Bücher ja nicht nur in Paris. Wie Voltaires Doctor Akakia in Berlin, so wurde sein Dictionnaire philosophique in Genf verbrannt.
Ihm selbst drohte bis in seine letzten Lebensjahre das Gefängnis. Am 8. Oktober schrieb Diderot an seine Freundin, Fräulein Volland: »Sie werden kaum erraten, aus welchem Grunde eine schmachvolle Einsperrung über seinem Haupte schwebt. Sie droht als Folge eines tiefen Grolls, den unsere Herren gegen ihn wegen eines Artikels im Dictionnaire hegen … Sie verzeihen Voltaire niemals. – Ich fürchte sehr, daß diese Menschen trotz allen Ansehens, das er genießt, trotz aller Protektion, trotz seiner seltenen Talente und schönen Werke unserem armen Patriarchen einen traurigen Streich spielen werden. Wissen Sie, daß man vor drei Tagen beschlossen hatte, ihn ins Gefängnis zu sperren?«
1776 richtete er einen Brief an die Akademie, die, nachdem sie sich mit seinem Inhalt bekannt gemacht hatte, es D'Alembert übertrug, ihn laut vorzulesen. Der Buchhändler, dem D'Alembert ihn gab, druckte ihn ohne Zögern, da er das Recht, ihn zu veröffentlichen, nicht in Zweifel zog. Der Schatzkammerkanzler verweigerte die Genehmigung.
Das stimmt damit überein, daß es nach Voltaires Tode den Blättern und Zeitschriften verboten war, im ersten Jahr über ihn zu schreiben.
Man muß sich diese Tatsachen vor Augen halten, um das nach modernen Begriffen manchmal Unmännliche seiner Haltung zu verstehen. Da die Menschen unserer Zeit von den damaligen Verhältnissen nichts wissen, ahnen sie nicht, daß die Größten, die sogenannten Reinsten und Frömmsten, noch ganz anders auswichen, als er es jemals getan, der schließlich doch diesen ganzen Zustand und das ganze Jahrhundert revolutionierte.
All die besten französischen Schriftsteller haben ihre Werke verleugnet – ganz wie er die seinen. Nicht nur die weltlichen wie Rabelais, La Rochefoucauld, Pierre Bayle, sondern auch die Heiligen wie die Hauptpersonen in Sainte-Beuves Port-Royal, Saint-Cyran, der nicht zugeben wollte, daß er der Verfasser des Petrus Aurelius war, ja sogar Pascal, der sich verstellte und Zweideutigkeiten gebrauchte, um die Urheberschaft an Les Provinciales abzuleugnen. Vater Amat hatte gesagt, daß der noch unbekannte Verfasser des Werkes »Sekretär in Port-Royal« war. »Ich bin nicht aus Port-Royal,« antwortete Pascal. Wenn das bedeuten sollte, daß er in keinem Verhältnis zu Port-Royal stand oder in keinerlei Verbindung mit diesem Kloster, dann würde Joseph de Maistre recht haben, wenn er von Pascal's Les Menteuses spricht, wie er von Corneilles Komödie Le Menteur (Der Lügner) spräche. Sollte es aber nur sagen, daß Pascal nicht dort wohnte, dann war die Erklärung nur leer und nichtssagend.
Ganz im selben Geist leugnet Racine in einem Brief an Madame de Maintenon vom 4. März 1698, Jansenist zu sein. Er habe voll Schmerz erfahren, daß man beim König diesen Eindruck erwecken möchte. Das sei eine niedrige Verleumdung wie jene, die er in seiner Esther gestempelt habe. Mit einer derartigen Unwahrhaftigkeit und Furchtsamkeit verleugnete Racine seine jansenistischen Freunde, als sie unpopulär und bedroht waren. Im Vergleich mit der Anonymität und Verleugnung in diesen Fällen ist Voltaires Anonymität nur eine Parade, von der er weiß, daß man sie durchschaut, aber doch nicht durchschlagen kann, und die Ableugnung eine Sicherheitsmaßnahme, ein provisorischer Deckmantel, eine Maske, die er stets bei sich hat und sich manchmal um die Ohren und vor den Mund bindet, während er doch fühlt, daß seine Augen ihn verraten.
Er war in jenem Jahrhundert, in dem der Gedanke um seine Freiheit kämpfen mußte, gerade der einzige, der niemals den Mut verlor. Er hätte friedlich in Paris leben können, falls er hätte schweigen wollen, aber er konnte nicht schweigen. Lange ist er der einzige, der nicht schweigen kann. Seht rückwärts! Kopernikus schweigt sein Leben lang. Galilei widerruft seine Lehre. Cartesius unterdrückt seine Abhandlung über die Physik, als er das Urteil über Galilei erfährt. Oder man denke an seine Zeitgenossen! Fontenelle verzichtet auf Kritik und Geschichte, denn seine Ruhe ist ihm lieber als seine Gedanken. Fréret läßt sich durch einen Aufenthalt in der Bastille stumm machen, er, ein wirkliches Genie, der nach der Ansicht von Augustin Thierry die französische Altertumsgeschichte um ein Jahrhundert vorwärts gebracht haben würde. Für seine Antrittsrede in l'Académie des inscriptions: Über den Ursprung der Franzosen wird er eine Zeitlang ins Gefängnis gesperrt, und das veranlaßt ihn, jede Beschäftigung mit der Geschichte aufzugeben. Der Marquis von Mirabeau läßt seine reformatorischen Gedanken fahren, nachdem man ihn nach Bignon verwiesen hat. D'Alembert verliert schließlich den Mut und bleibt taub bei den Beschwörungen der Freunde, die Arbeit an der Enzyklopädie nicht fallen zu lassen.
Voltaire sagt, was er denkt. Sein Leben ist Handlung. Er schreibt nicht, um zu schreiben, oder um Ehre zu gewinnen, am wenigsten um Geld zu verdienen; er schreibt aus innerem Trieb und um zu wirken.
Was nützte es, daß die Markgräfin von Bayreuth Voltaire in Colmar aufsuchte, ihm die größte Herzlichkeit erwies und den redlichsten Eifer zeigte, den Eindruck des gewaltsamen Benehmens ihres Bruders auszulöschen! Seine Stellung zu Friedrich konnte nie mehr ein Verhältnis gegenseitigen Vertrauens werden. Was nützte es, daß er in Plombières mit Richelieu wie so oft vorher zusammentraf, und daß die beiden Freunde, die nach der Angabe Sénac de Meilhans sich auffallend ähnlich geworden waren, sowohl in den Handbewegungen wie in der Stimme und in der Betonung, vereint Pläne schmiedeten, wie Richelieu seinen Einfluß bei Madame de Pompadour (wie auch bei den Schauspielern der Comédie française) benutzen sollte, um Voltaire wieder den Weg nach Paris zu bahnen? Ludwig der Fünfzehnte ließ sich nicht erweichen.
Der König von Frankreich hatte nie in seinem Leben Voltaire fünf Minuten vermißt. Der König von Preußen dagegen entbehrte ihn so hart und fühlte sich so einsam, nachdem ihn Voltaire und die meisten der Tafelrunde verlassen hatten, daß seine Hofleute ernstlich nach einem Ersatz suchten. Schließlich hörte man, daß ein Chevalier Masson, Kapitän im Regiment Briqueville, den Ruf besaß, ein ganz besonders geistreicher und ursprünglicher Mann zu sein. Friedrich erbat sich ihn von Ludwig dem Fünfzehnten. Er kam, speiste ein paarmal an der Tafel des Königs, hielt den Vergleich mit seinem Vorgänger aber so schlecht aus und beging so viele kleine Ungeschicklichkeiten, daß ihm der König, der ihm ein Jahresgehalt versprochen hatte, ihm dies zwanzig Jahre lang auszahlte, ohne ihn überhaupt zu sehen.
Wie Voltaires Stellung in Frankreich indessen war, erfuhr er am besten, als er in Lyon seinem alten Bekannten, dem Kardinal von Tencin, einen Besuch abstatten wollte. Die Audienz dauerte kaum eine Minute. Der Kardinal sagte Voltaire, daß er außerstande sei, ihn zum Essen einzuladen, da Voltaire beim Hofe in Paris nicht gut angeschrieben wäre, worauf der Dichter sich erhob und ging. – Es vergingen Jahre, bis das Verhältnis zwischen ihnen wieder einigermaßen hergestellt wurde. Das trat dann ein, als Voltaire vor der Schlacht bei Roßbach durch Tencin versuchte, eine Annäherung zwischen Friedrich und Ludwig zustande zu bringen.
Es war nur eine geringe Genugtuung für Voltaires Ehrgefühl, daß die Bevölkerung Lyons ihm im Theater eine stürmische Huldigung darbrachte. Er fühlte innerlich, daß Frankreich nicht für ihn war, und er wandte seine Blicke nach der Schweiz.
Wenige Tage, nachdem er Lyon verlassen hatte, war er in Genf. Er wohnte einige Zeit im Schloß Prangins bei Lausanne, wo er sich wohl fühlte und sich einen dauernden Aufenthaltsort suchte.
Er schickte dem Staatsrat in Genf einen Brief, in dem er die Herren des Rates um die Erlaubnis bat, das Gebiet der Republik bewohnen zu dürfen, und gab als Grund seinen Gesundheitszustand und die Notwendigkeit an, seinem Arzt, »dem ehrenwerten Tronchin«, nahe zu sein. Die Entscheidung des Rates lautete dahin, dem genannten Sieur de Voltaire zu erlauben, das Herrschaftsgebiet der Republik zu bewohnen, so lange die Obrigkeit (die Seigneurie) es für gut fand.
Voltaire wollte sich mit dem Rat am liebsten gut stehen, denn er dachte an eine dauernde Niederlassung. Er suchte und fand in der Nähe Genfs eine herrliche Sommerresidenz und kaufte sich für 90 000 Livres das Eigentum Saint-Jean, dem er in seinem Entzücken über den Platz den Namen Les Délices gab, und wo er leidenschaftlich wieder die ihm so liebe Wirksamkeit als Maurer, Zimmerer, Ackerbauer und Gärtner begann, um alles nach seinem Wunsch eingerichtet und verändert zu haben. Einer seiner ersten Gäste hier war der Schauspieler Le Kain aus Paris, den er, wie ein Vater seinen Sohn, empfing.
Bei dem Mann, den Voltaire in seinem Gesuch an den Rat in Genf nannte, ist es nötig, etwas zu verweilen, da sein Name von nun ab unlösbar mit dem Voltaires verbunden ist, denn er wachte als Arzt bis zu seinem Tode über ihn. Voltaire hegte nicht nur Vertrauen zu Tronchins Tüchtigkeit, sondern große Bewunderung und ungewöhnliche Freundschaft für ihn. Soweit man es beurteilen kann, hat er niemals daran gezweifelt, daß die Sympathie erwidert wurde. Hier irrte er sich aber merklich. In den zahlreichen Äußerungen Tronchins über Voltaire, die sich in seinen Briefen finden, liegt, wenn man sie aufmerksam liest, nicht die Spur wirklichen Wohlwollens, sondern viel außerordentlich unwillige Kritik und die vorurteilsvolle Mißbilligung eines wahrscheinlich aus religiösen Gründen voreingenommenen Mannes.
Zeigt sich Tronchin in seinen stets moralisierenden Ergüssen über Voltaire nicht gerade als großer Psycholog, so erweist sich Voltaire zum Ausgleich dafür als höchst unvollkommener Menschenkenner, da er in fast einem Vierteljahrhundert nicht entdeckte, wie wenig ihm Tronchin im Grunde zugetan war und wie gering er ihn einschätzte.
Das war umso ungerechter, als der Genfer Arzt einen guten Teil seines Rufes seinem berühmten Patienten verdankte: Voltaire sagt von ihm: »Er ist ein Mann, der sechs Fuß groß ist, gelehrt wie Äskulap und schön wie Apollon.« Aber nicht nur die äußeren Eigenschaften Tronchins nahmen für ihn ein. Voltaire behauptet, daß niemand besser sprach als Tronchin und daß niemand mehr Witz besaß. Als Arzt scheint Tronchin das gehörige Interesse für Voltaires Gesundheit gezeigt zu haben. Er hat danach gestrebt, diesem großen Kind mehr Selbstbeherrschung beizubringen und diesem flammenden Temperament mehr Mäßigung zu geben – Aufgaben, die doch beinah der Quadratur des Kreises gleichkamen. Sein erster Brief an Jean Jacques Rousseau nach der Ankunft Voltaires, der damals noch in einem guten Verhältnis zu seinem späteren Gegner stand, enthält schon ganz und gar Tronchins falsche Grundanschauung über Voltaire. Der Brief ist so lang, daß hier nur ein Bruchstück gebracht werden kann:
Was kann man von einem Menschen erwarten, der sich fast stets im Streit mit sich selbst befindet, dessen Herz von seinem Kopf immer enttäuscht wird! Sein moralischer Zustand ist von seiner Kindheit an so unnatürlich gewesen, daß sein Wesen jetzt ein künstliches Ganzes geworden ist, das mit nichts Ähnlichkeit besitzt. Von allen Zeitgenossen ist er selbst derjenige, den er am wenigsten kennt. Alle Verhältnisse zwischen ihm und anderen Menschen sind in Unordnung. Er hat mehr Glück erreichen wollen, als er zu fordern berechtigt war. Die Übertreibung seiner Forderung hat ihn unmerklich zu einer Ungerechtigkeit geführt, die von den Gesetzen nicht verurteilt, von der Vernunft aber mißbilligt wird … Die Lobpreisungen seiner Bewunderer haben vollendet, was seine eigenen maßlosen Forderungen begonnen hatten; er ist der Sklave seiner Verehrer geworden; von ihnen hängt sein Glück ab … daher kommt es, daß ihn eine Schmähung La Beaumelles mehr ärgert, als ihn der Beifall eines ganzen Theaters erfreut. Und das Resultat? Die Furcht vor dem Tode (denn er zittert vor ihm) hindert ihn nicht, sich über das Leben zu beklagen, und da er nicht weiß, wem er die Schuld geben soll, so beklagt er sich über die Vorsehung, während er allein mit sich selbst unzufrieden sein sollte.
Deutlich genug haben für diesen strengen und ehrbaren Calvinisten Voltaires Reizbarkeit in kleinen Dingen und seine Empfindlichkeit gegen Schmähungen und Schikanen alle großen Eigenschaften seines Wesens verschluckt.
Gleich nach der Niederlassung in der Schweiz begannen wegen des mangelhaften Schutzes der Literatur Verdrießlichkeiten in großer Zahl. Der Marquis von Ximénès, einer der Freunde des Hauses, der eine Zeitlang Madame Denis etwas näher gestanden hatte, war, wie schon erwähnt, in den Besitz eines Manuskriptes gekommen, an dem Voltaire noch arbeitete und das er noch nicht abgeschlossen hatte, Der Feldzug Ludwigs XV. (Campagnes de Louis XV) und hatte es für einige Louisdor an einen Buchhändler verkauft. Deshalb eine Menge Sorgen, ein verwickelter Kriegsplan, das Manuskript zurückzubekommen und hundertfache Mühe, ganz abgesehen von der schmerzlichen Erfahrung, daß ein vornehmer Freund, dem man zu sehr vertraut hatte, Manuskripte stahl und zu Geld machte.
Aber die Hauptursache aller Schwierigkeiten, die den Frieden und die Ruhe Voltaires während seines Aufenthalts in der Schweiz störten, war seine Leidenschaft für das Theater, seine unüberwindbare Lust, Schauspiele zu schreiben und sie in seinem eigenen Hause vor einem kleinen Kreis Geladener aufzuführen. Und auf diesem Gebiet wollte Calvins fromme und tugendhafte Herde nicht nachgeben.
Schon vor seinem Kommen hatte das Theater Anlaß zu einem Skandal gegeben. Denn ein Professor Maurice hatte im Jahre 1748 Corneilles (streng christliche) Tragödie Polyeucte von einigen jungen Damen in einem Privathause spielen lassen, und der Rat hatte darauf den Pastoren Befehl gegeben, Privatleute vor jeder Aufführung von Theaterstücken zu warnen, da derartiges verboten war. Am 17. Februar 1752 wurden fünfzehn Barbier- und Friseurgehilfen vor den Rat gefordert und erhielten heftige Verweise, weil sie bei einem Schneider Joubert die Tragödie Cäsars Tod von Voltaire aufgeführt hatten.
Große Aufregung entstand zunächst in Genf, als Voltaire sein Gedicht Le Désastre de Lisbonne schrieb. Tronchin schrieb darüber an Jean Jacques, für dessen Angriffe auf Voltaire dies Gedicht ja einer der Ausgangspunkte war:
Als er sein Gedicht geschrieben hatte, flehte ich ihn an und beschwor ihn, es zu verbrennen. Als ich nach Paris reiste, taten sich unsere gemeinsamen Freunde zusammen, um ihn dazu zu bewegen. Aber man erreichte nur, daß er einige Ausdrücke milderte; Sie können den Unterschied sehen, wenn Sie den zweiten Text mit dem ersten vergleichen … Ich hoffe jedoch, daß er Ihren schönen Brief darüber mit Aufmerksamkeit lesen wird; wenn er keine Wirkung ausübt, so beruht es darauf, daß man im Alter von 60 Jahren nicht von den Übeln geheilt wird, die sich zu zeigen begannen, als man 18 Jahre war.
Am allerwenigsten verstand Tronchin, daß sich Voltaire nicht auf eine Polemik mit Rousseau über Gottes Güte einlassen wollte. Er bedachte u. a. nicht, daß diese Polemik für Rousseau eine literarische und gesellschaftliche Förderung war; für Voltaire würde sie Abbruch des Dutzends Arbeiten bedeuten, die er immer zugleich angelegt hatte, während er im voraus wußte, daß solche Polemik gänzlich unfruchtbar war und daß sich gar nichts daraus ergeben würde. Das, was ihn stets so aufbrachte, wenn man ihn angriff, war ja gerade der Groll über eine nun unvermeidliche Zeitvergeudung, während der Gegner sich über den Ritterschlag freute, der darin lag, mit Voltaire die Klinge zu kreuzen.
Eine kurze Zeitlang schien jedoch alles auf Frieden und Glück zu deuten. Les Délices war ein Ort nach dem Herzen des Dichters. Er wollte den Platz nicht verlassen, um Maria Theresia in Wien seine Aufwartung zu machen, wozu er aufgefordert worden war. »Glücklich der,« schreibt er im Sommer 1756 an Thiériot, »der in seinem eigenen Heim lebt mit seinen Nichten, seinen Büchern, Gärten, Weinhöfen, Pferden, Kühen, seinem Adler, seinem Fuchs und seinen Kaninchen, die ihre Pfote an die Nase legen! Das alles habe ich, außerdem die Alpen, die im Bilde stattlich wirken. Ich schimpfe lieber mit meiner Gärtnerin, als daß ich Königen den Hof mache.«
Er war herrschaftlich eingerichtet, hatte vier Wagen, einen Kutscher, einen Postillon, zwei Lakaien, einen Kammerdiener, einen anderen Diener, einen französischen Koch, einen Küchenjungen und einen Sekretär. Das Mittagessen war stets gut, und es verging kein Tag, wo nicht zahlreiche Gesellschaft zu Tisch da war. Es kamen u. a. gelegentlich Dichter aus Paris, so der später recht treulose Palissot und der liebenswürdige Patu, der jung starb, aber in einem Brief an den berühmten Garrick seine Begeisterung über den Empfang und den Aufenthalt geschildert hat. Nur in London war der junge Patu Zeuge einer so hinreißenden Gastlichkeit gewesen:
Was für ein Mensch ist nicht der göttliche Sänger der Henriade! O, mein sehr lieber Freund, welch eine Freude, sich in einen so großen Geist zu vertiefen! Stellen Sie sich das Feuer der Jugend in einem Gesicht vor, das hier und da die Züge eines Sterbenden zeigt, stellen Sie sich das Glänzende einer unwiderstehlichen Beredsamkeit vor. Wenn ich an alle die Fehler, ja Laster denke, die man Herrn de Voltaire anhängt, an den Geiz, dessen ich ihn habe beschuldigen hören, als was für jämmerliche und lächerliche Tiere mir dann seine Verleumder erscheinen! Nirgends findet man eine so prachtvolle Bewirtung, und nirgends findet man ein so höfliches, so anmutiges, so gewinnendes Wesen. Ganz Genf ist entzückt, ihn zu haben, und diese glücklichen Republikaner tun, was sie können, um ihn an sich zu fesseln.
Von dem Augenblick an, als D'Alemberts Artikel über Genf in der Encyklopädie gedruckt vorlag, war die Freude, Voltaire in der Stadt zu haben, völlig zu Ende.
Jeder Schriftsteller weiß, wie oft Literaten von nicht gerade höherem Rang, die Jahre hindurch einen Schriftsteller von grösserem Ansehen verfolgt haben, wenn sie durch Lebensverhältnisse, die man nicht voraussehen konnte, sich in seiner Nähe befinden, sorgsam das Geschehene zu verwischen streben, ihm in der Güte ihres Herzens all das Unrecht vergeben, das sie ihm zugefügt haben, und aufrichtig seine Freundschaft suchen. So erging es Voltaire, als er sich in Les Délices niederließ.
Der junge Franzose, um dessenwillen seinerzeit Olympe Dunoyer ihn vergessen hatte, Guyot de Merville, hatte seinerseits Voltaire nicht vergessen. In den vierzig Jahren, die seit damals vergangen waren, hatte er ihn rastlos verfolgt, während Voltaire seinen Angriffen nie die geringste Beachtung geschenkt hatte. Nun lebte jedoch Merville in Genf. Voltaires Name hing dort überall in der Luft; Merville konnte nicht vermeiden, ihm zu begegnen; der Gehaßte war jetzt außerdem recht einflußreich und konnte höchst wahrscheinlich ein sehr nützlicher Freund sein. Was war da anderes zu tun, als Frieden und ein Bündnis zu schließen!
Und Guyot de Merville schrieb einen recht von Herzen kommenden Brief an Voltaire: Er hatte den großen Schriftsteller angegriffen. Seine Entschuldigung war, daß er schwach gewesen war. Er habe sich von Leuten betören und mitreißen lassen, die Voltaire feindlich gesinnt waren. Aber gerade die besten Gefühle, Ergebenheit, Liebe, hatten ihn verleitet: »Meine Ergebenheit für Rousseau (Jean Baptiste), mein Entgegenkommen Abbé Desfontaines gegenüber sind die einzigen Ursachen des Bösen, das ich Ihnen zufügen wollte, Ihnen aber nicht zugefügt habe (weil nämlich gegen seinen Willen die Angriffe von Voltaire abprallten). Der Tod hat Sie an den Männern gerächt, die mich inspirierten, und daß die Opfer, die ich diesen Männern brachte, nur geringe Frucht trugen, hat mich über ihren Tod getröstet … Ich weiß, daß ich Sie gekränkt habe, aber ich habe es nicht aus einer der Leidenschaften getan, die im gleichen Maße die Menschheit wie die Literatur entehren. (Sein Beweggrund war edel.) In vier handgeschriebenen Bänden habe ich eine Kritik Ihrer Werke verfaßt; die will ich Ihnen übergeben. – Vor meiner ersten Komödie steht ein Brief, von dem man mir seinerzeit gesagt hat, daß Sie sich durch ihn verletzt fühlten. (Das war ein Vorwort, in dem J. B. Rousseau gepriesen und Voltaire niedergerissen wurde.) Diesen Brief will ich in der neuen Ausgabe meiner Schriften unterdrücken. Abbé Desfontaines hat zwei Arbeiten in Versen herausgegeben, die ich auf seine Veranlassung gegen Sie geschrieben habe. Auch diese beiden will ich unterdrücken.« Er bot noch an, die Korrekturen der neuen Werke Voltaires zu lesen, wie er auch behauptete, vor 30 Jahren im Haag an den Korrekturen zur Henriade mitgearbeitet zu haben, und sogar noch mehr: er bot Voltaire an, ihm seine sämtlichen Schauspiele in vier Bänden zu widmen.
Es glückte dem reuigen Lumpen nicht, Voltaires hartes Herz zu rühren. Er antwortete höflich:
Mein Herr, Rache macht die Seele müde, und meine gebraucht sehr viel Ruhe. Meine Freundschaft ist den geringen Wert und die Opfer nicht wert, die Sie anbieten. Ich will versuchen, Nutzen aus dem zu ziehen, was sich an Richtigem und Vernünftigem in den vier Bänden Kritik meiner Werke, die Sie geschrieben haben, finden mag, und ich danke Ihnen für die außerordentliche Mühe, die Sie sich so großherzig gemacht haben, meine Fehler zu verbessern. Wenn die zwei Satiren, die gegen mich zu schreiben Rousseau und Desfontaines Sie veranlaßt haben, gefallen, wird das Publikum ihnen Beifall schenken. Ich bin der Ansicht, daß das Publikum Richter sein soll. Die Zueignung Ihrer Werke, die anzubieten Sie mir die Ehre machen, würde zu Ihren Verdiensten nichts hinzufügen. Was mich betrifft, so widme ich nur meinen Freunden. Also, mein Herr, wenn Sie mit mir einig sind, lassen wir unser Verhältnis bei dem, wie es ist, beruhen.
In dem Briefe Tronchins an Jean Jacques über Voltaire stießen wir auf den Satz, daß eine Schmähung La Beaumelles ihn mehr ärgerte, als ihn der Applaus eines ganzen Theaters erfreute – ein Satz, der kaum unrichtig war.
Es ist notwendig, bei diesem La Beaumelle etwas zu verweilen, der, wenn er auch sonst nicht viel Gaben hatte, doch die besaß, Voltaire aus dem Gleichgewicht zu bringen.
La Beaumelle hat einmal sogar ein bißchen in Dänemarks literarisches Leben eingegriffen. Aus unbegreiflichen Gründen wurde er, als er nur einige zwanzig Jahr alt war, als Professor der französischen Sprache und Literatur nach Kopenhagen berufen, wo er an der Universität Vorträge hielt. Daß man keinen besseren fand, als man für Dänemark einen Vertreter französischen Geistes gewinnen wollte, zeigt deutlich, auf welcher Bildungsstufe man dort im Jahre 1748 stand.
Sein Vorlesungsprogramm war äußerst geschmacklos im Stil der königlichen Bekanntmachungen in Frankreich abgefaßt:
»Ich, Laurent Angliviel de la Beaumelle, lasse laut Befehl Seiner Majestät des Königs das literarische Publikum wissen« usw.
Sein Einführungsvortrag hatte das barocke Thema, dessen Tendenz nicht zu bezweifeln war: »Ist ein Land ehrwürdiger durch die Künste, die es schafft, oder durch die, die es übernimmt?« und beantwortete die Frage natürlich so, daß es viel vornehmer sei, sich eine fremde Zivilisation anzueignen als eine eigene zu erzeugen. Der Vortrag selbst ist nichts als fader Unsinn, ist aber, merkwürdig genug, nicht einmal La Beaumelles Erzeugnis, sondern von ihm nur adoptiert, da er, wie Nisard entdeckt hat, gedruckt mit dem Titel vorliegt: Verfaßt in Paris von M. de Méhégan, vorgetragen in Kopenhagen von M. de la Beaumelle.
In Dänemark gab der junge Bursche zweimal wöchentlich ein albernes Blatt heraus La Spectatrice Danoise, an das man sich noch erinnert, weil La Beaumelle darin Holberg befehdete; teils wegen einiger sehr konservativer Episteln von ihm zur Verteidigung der Haltung der Katholiken gegen die Hugenotten in Frankreich, teils wegen seiner angeblich zu kühlen Äußerungen über Freimaurer und Freimaurerei, teils wegen seiner dichterischen Benutzung des Plautus (daher die spöttische Bezeichnung Plautiberg).
La Beaumelles Aufenthalt in Dänemark liegt vor der Zeit, da er in persönliche Berührung zu Voltaire trat und vor seinem Zusammenstoß mit ihm, durch den er sich mit einem Schlage als ein vor Einbildung halb verrückter, ganz frecher Kumpan enthüllt, der im vollen Ernste glaubt, daß er durch die Beschimpfung eines bedeutenden Mannes selbst ein Mann von Bedeutung wird.
Laurent Angliviel de la Beaumelle wurde in Valleraugue in Bas-Languedoc im Januar 1726 geboren. Voltaire, der sich, wie sein Freund Richelieu, gelegentlich das boshafte Vergnügen machte, Namen zu verdrehen, amüsierte sich damit, den Namen Langlevieux zu schreiben. La Beaumelle beklagte sich darüber und da antwortete Voltaire: »Ein gewisser La Beaumelle ruft das ganze Publikum als Zeugen dafür an, daß man seinen Namen falsch buchstabiert hat. Ich heiße Langleviel, sagt er in einem seiner unsterblichen Werke, und nicht Langlevieux; folglich ist alles, was man mir vorgeworfen hat, falsch und trifft mich nicht.«
In einem Nachtrag zum Artikel Quisquis im Dictionnaire philosophique, den Voltaire nicht selbst veröffentlicht hat, wird ein ganzer Lebenslauf La Beaumelles gegeben, der hauptsächlich darauf ausgeht, daß er in der Schule kleine Diebstähle und Betrügereien begangen hat, was wahr zu sein scheint, während die Angaben über seine Eltern rein phantastisch sind. Sein Vater war Calvinist, seine Mutter, die früh starb, katholisch. Er studierte kurze Zeit in Genf und gab eine Verteidigung des L'Esprit des lois von Montesquieu heraus, die einzige Produktion, die der Grund zu seiner Berufung nach Kopenhagen hat sein können. Hier schrieb er ein kleines Buch Mes Pensées, das voll von billigen Wahrheiten und Paradoxen ist, wie z. B. man sollte sich bestreben, schöne und starke Kinder dadurch zu erzeugen, daß man wie in Gestüten Paarungen zwischen ausgesuchten Individuen vornahm und dadurch, daß man die Individuen in ihren erlesensten Augenblicken paarte, was anderthalb Jahrhundert später unter der Bezeichnung Eugenic wieder Mode wurde.
Unter diesen Gedankensplittern war einer, der für Voltaire nicht gerade schmeichelhaft war:
Man kann die alte und die neuere Geschichte durchgehen, man wird kein Beispiel für einen Fürsten finden, der einem Schriftsteller 7000 Taler als Jahresgehalt gab. Es haben größere Dichter als Voltaire gelebt, aber kein so gut bezahlter … Der König von Preußen überhäuft talentvolle Menschen mit Wohltaten aus genau demselben Grunde, aus dem ein deutscher Fürst einen Hofnarren oder Zwerg gut behandelt.
La Beaumelle ging von Kopenhagen nach Berlin, suchte Voltaire auf und teilte ihm unverfroren mit, daß er gekommen sei, um seine und des Königs Bekanntschaft zu machen. Er schien sich vorzustellen, daß der König jeden empfing, der den Wunsch hatte, seine Zeit in Anspruch zu nehmen. Als Voltaire ihn auf den angeführten Passus in seinem Buch aufmerksam machte, antwortete er, daß der zu Ehren Voltaires geschrieben wäre. – Dann kann ich nicht lesen! sagte Voltaire. – Das ist leicht möglich, antwortete er. Vielleicht habe ich Sie auch gekränkt, ohne es zu wollen.
Friedrich wurde für den Burschen auch nicht dadurch gewonnen, daß dieser ihn mit kleinen deutschen Fürsten verglichen hatte, und Friedrichs Gesellschaft nicht, als sie sich mit Zwergen und Narren verglichen sahen.
Während La Beaumelle, der bei Maupertuis Unterstützung gesucht und gefunden hatte, danach strebte, sich einen Platz in der Nähe des Königs in Berlin zu erkämpfen, widerfuhr ihm ein unangenehmes Abenteuer. Er machte eines Abends in der Oper die Bekanntschaft einer Hauptmannsfrau, Madame Cocchius, die ihm ein Stelldichein zusagte, bei dem er – nach Verabredung zwischen Mann und Frau – von dem Hauptmann überrascht wurde. Dieser verlangte seine Geldbörse, und da diese leicht war, zeigte er La Beaumelle außerdem bei der Berliner Kommandantur wegen Ehebruchs an. Der Kommandant schickte ihn ohne Verhör nach Spandau, wo man ihn einen Monat im Gefängnis sitzen ließ, anscheinend, damit es ihm gelänge, sich eine weniger hohe Vorstellung von seinen persönlichen Vorzügen zu machen. Er war inzwischen zum Gelächter Berlins geworden, und man hatte kein Mitleid mit ihm.
Als Maupertuis dann die Angelegenheit dem König darlegte, griff dieser ein und sowohl der Hauptmann wie seine unternehmungslustige Frau wurden verurteilt. La Beaumelle bildete sich ein, Voltaire hätte hinter seinem Unglück gestanden, haßte ihn doppelt und war in seinem Hochmut töricht genug, zu erwarten, Voltaire würde versuchen, sich vor ihm zu rechtfertigen. Als dies nicht geschah, beschloß er, nach Frankfurt zu gehen, um dort des Dichters noch nicht erschienenes Siècle de Louis XIV mit kritischen Anmerkungen herauszugeben. Doch unterwegs lernte er in Gotha eine französische Gouvernante kennen, die dort die Kinder einer Dame unterrichtete. Er entführte die Gouvernante, und diese entführte das Geld und den Schmuck ihrer Herrin, ohne daß man jedoch Beaumelle beschuldigen kann, er wäre an dem Diebstahl beteiligt gewesen.
In Frankfurt fand er den Verleger Walther mit der Vorbereitung einer Ausgabe der Voltaireschen Werke beschäftigt. Walther hatte sich das alleinige Recht gesichert. Trotz des Gesetzes bewog La Beaumelle einen Verleger Esslinger zur Herausgabe des Jahrhunderts Ludwigs XIV. von Voltaire, erweitert durch eine große Anzahl Anmerkungen von Herrn de B. Eine frechere Räuberei soll man erst suchen! Ehe noch der Verleger, von Voltaire nicht zu sprechen, irgend eine Frucht des Werkes geerntet hatte, wurde es also von La Beaumelle mit einer Fülle herabsetzender Anmerkungen herausgegeben, die nicht die Bohne wert waren. Die Raubausgabe fand jedoch bedeutende Nachfrage und schadete natürlich dem Verkauf von Voltaires eigener, lange erwarteten Ausgabe außerordentlich.
Es klingt unglaublich, ist aber wahr, daß ein großer Teil der Anmerkungen La Beaumelles dahin geht, Voltaires Stil zu verbessern, was selbst dem Gegner Voltaires, Nisard, so ungeheuerlich vorkommt, daß er den Verbesserer mit einem Dorfschullehrer vergleicht. Wo La Beaumelle den Plan und den Aufbau des Werkes kritisiert, zeigt er nur, daß er von Voltaires Absicht mit dieser Arbeit nicht das geringste verstanden hat. An sich liegt ja nichts Überraschendes in einer solchen Kritik. In kleineren Gemeinschaften wird sie zu allen Zeiten mit derselben Unverfrorenheit und derselben Unwissenheit geübt; daß diese aber in Anmerkungen zu dem eigenen, noch unbekannten Werk des angegriffenen Verfassers gemacht wurden, war eine Neuheit, für die La Beaumelle die Ehre gebührt.
Im übrigen war er pedantisch, unverschämt und immer überheblich, eifrig bemüht, aus seinem Nichts Schlagsahne zu schlagen.
Als Voltaire in seinem Supplément du Siècle de Louis XIV antwortete, peitschte er La Beaumelles Hinterteil.
Inzwischen war dieser – was Voltaire nicht wußte, aber vielleicht verursacht hat – bereits bei seiner Ankunft in Paris im April 1753 in die Bastille gesteckt worden, da unter seinen Anmerkungen eine war, die für die Erinnerung an den Regenten höchst ehrverletzend war. Er blieb bis zum Oktober in der Bastille und schrieb gleich nach seiner Freilassung eine Antwort auf Voltaires Supplément, voll geheuchelten Mitleids mit dessen Schicksal, da er nun überall verstoßen war, von Friedrich preisgegeben, in Frankfurt gefangen gehalten, in Frankreich ungern gesehen; seine Freunde waren nicht mehr seine Freunde, seine Feinde triumphierten. Er, La Beaumelle, wollte doch nicht triumphieren, sondern Voltaire nur auffordern, aus seinem Schicksal zu lernen, wie er selbst die Lehren aus dem seinigen ziehen würde. Er wollte auf Voltaires Beleidigungen nicht antworten. Wenn Kränkungen von gewissen Lippen kamen, sei die einzige Antwort Schweigen und Verachtung.
Kurz, La Beaumelle war groß und gut, überlegen und edel, rein, wie ein solcher Kritiker stets rein ist.
Wer seine Ergüsse gelesen hat, wird sich von der Dreistigkeit überwältigt gefühlt haben, mit der er häufig Voltaires Jahrhundert Ludwigs XIV. mit dem vergleicht, was er seine Briefe der Madame de Maintenon nennt. Woher hatte er diese Briefe? Hat er sie, wie Voltaire meint und behauptet, einfach gestohlen, und von wem? Die wahrscheinlichste Erklärung ist diese: diese Briefe waren im Besitz des Grafen Caylus. Er übergab sie seinem Neffen, dem Marschall von Noailles zur Verwahrung. Dessen Sekretär lieh sie einem Stallmeister Ludwigs XV., und dieser lieh sie wieder Louis Racine. Sie lagen auf Racines Kamin, als La Beaumelle sie stahl und mit nach Kopenhagen nahm.
Auf diese Weise wurde La Beaumelle nach seinem eigenen Urteil als Geschichtsschreiber Voltaires Nebenbuhler. – Doch war die Veröffentlichung dieser Briefe Anlaß, daß er wieder auf einige Monate in die Bastille kam.
Voltaire hat La Beaumelle beschuldigt, eine Ausgabe von La Pucelle veranstaltet zu haben, in die zahlreiche Schmutzereien eingefügt waren, unter anderem der grobe Angriff auf Madame de Pompadour, eine Ausgabe, die Voltaire ganz niederschlug. Er fand nichts, das man dagegen tun konnte: »Wie könnte ich«, schreibt er an d'Argental (22. November 1756), »Madame de Pompadour darüber einen Brief schreiben, der beide, den, der ihn schrieb, und sie, die ihn empfängt, zum Erröten bringen würde?«
Der Streit zwischen den ungleichen Kämpfern ruhte zwischen 1756 und 1759, wo Voltaire ihn in La Pucelle stempelte.
Als Voltaire im Jahre 1767 mitten im Kampf für die Familie Calas stand, erfuhr er zu seinem Kummer, daß sich La Beaumelle mit der Tochter von Lavaysse, der in die Angelegenheit verwickelt war, verheiratet hatte.
Da er fest überzeugt war, daß La Beaumelle der Urheber von vierundneunzig anonymen Briefen war, die er aus Lyon erhalten hatte, konnte er es nicht unterlassen, an die Familie Lavaysse zu schreiben und seinen Gram darüber auszusprechen, daß sie in ein verwandtschaftliches Verhältnis zu seinem Todfeind getreten war, und sein Erstaunen darüber, daß sie nach allem, was er für sie getan hatte, nicht vermocht hatte, diesen seinen Feind zum Schweigen zu bringen. Vergebens versuchte d'Argental ihn mit der Versicherung zu beruhigen, daß La Beaumelle vergessen sei. »Vergessen!« ruft Voltaire aus (22. Juli 1767), »wenn es im Ausland sieben Ausgaben seiner Gemeinheiten gibt, und wenn er jetzt heimlich eine neue Ausgabe in Avignon beginnt«. Und an Richelieu schreibt er gleichzeitig: »Die Dummköpfe, von denen die Welt voll ist, nehmen seine Lügen für Wahrheiten. Im Ausland fragt man nach keiner anderen Ausgabe vom Jahrhundert Ludwigs XIV. als der, die von ihm herrührt.« Ein fünfundneunzigster anonymer Brief, den Voltaire erhielt, versetzte ihn in eine derartige Erregung, daß er in einem Brief an den Kanzler und die Minister La Beaumelle als den Schuldigen angab; er erwirkte denn auch ein Verbot gegen den Neudruck der La Beaumelleschen Verzerrungen seines Ludwigs XIV. in Avignon, was diesen sonderbarerweise zum Schweigen brachte.
Im achtzehnten Gesang von La Pucelle hat Voltaire La Beaumelle folgendes Denkmal gesetzt: Wo Fréron die Mitglieder seiner Bande aufzählt, sagt er zu König Karl:
Pour le dernier de la noble séquelle
C'est mon soutien, c'est mon cher La Beaumelle.
De dix gredins qui m'ont vendu leur voix
C'est le plus bas; mais c'est le plus fidèle,
Esprit distrait, on prétend que parfois
Tout occupé de ses œuvres chrétiennes
Il prend d'autrui les poches pour les siennes.
Il est d'ailleurs si sage dans ses écrits!
Il sait combien, pour les faibles esprits,
La vérité souvent est dangereuse,
Qu'aux yeux des sots sa lumière est trompeuse,
Qu'on en abuse; et ce discret auteur
Qui toujours d'elle eut une sage peur
A résolu de ne la jamais dire.
Um diese Zeit gewinnt eine Gestalt, der wir bisher nur flüchtig begegnet sind, bei Voltaire größere und größere Teilnahme für sein Streben, wird allmählich mit größerer und größerer Bewunderung umfaßt, bis er gleichsam ein Mitverschworener in dem Hauptbestreben des großen Mannes wird; er ist wie er mit umfassenden Kenntnissen ausgestattet, mit Genie und Darstellungsvermögen, aber als Charakter ist er weniger aushaltend und hartnäckig. Es ist Jean le Rond D'Alembert, das uneheliche Kind der Madame de Tencin und eines Ingenieurs, des Bruders des Dichters Destouches. D'Alembert, der dreiundzwanzig Jahre jünger als Voltaire ist, vertritt, wie auch sein einige Jahre älterer Mitarbeiter Denis Diderot das nächste Geschlecht, das Voltaires Arbeit aufnimmt und weiterführt, eine schon vorurteilsfreiere Generation als seine eigene.
D'Alembert war ein hervorragender Naturwissenschaftler und ein Aufklärungsschriftsteller hohen Ranges. Er litt nicht unter seiner Stellung als uneheliches Kind, obgleich seine Jugend streng war, und das Schicksal sich ihm gegenüber eine Zeitlang als karg erwies. Sofort, nachdem er seine erste Arbeit veröffentlicht hatte, öffneten sich alle vornehmen Häuser seiner Geistesüberlegenheit. Fremde Herrscher, wie Friedrich und später Katharina, suchten Beziehungen zu ihm und Belehrung bei ihm.
In der Pariser Gesellschaft wurde er als ein Stern betrachtet. Sein langjähriges zärtliches Freundschaftsverhältnis zu Mademoiselle de L'Espinasse wird in der Nachwelt nicht weniger oft erwähnt als seine wissenschaftlichen Arbeiten. Es ist bekannt, daß das ursprüngliche Schicksal dieser ausgezeichneten Frau Ähnlichkeit mit dem des Freundes hatte, insofern als auch ihre Abstammung nicht der Regel entsprach.
Julie Jeanne de L'Espinasse war in einem Ehebruch der Madame d'Albon gezeugt worden; sie war eine vornehme Dame aus Burgund und ihre eheliche Tochter war mit einem Bruder der Madame du Deffand vermählt. Bei diesem Bruder fand die Schwester auf einer Reise durch Burgund das junge zwanzigjährige Mädchen, das damals ein trauriges Leben auf dem Lande führte, mit häuslichen Pflichten überbürdet war und sich in einer völlig abhängigen Stellung befand. Madame du Deffand, die bei ihrem selbstsüchtigen Gemüt eine der geistreichsten Frauen Frankreichs war, war von der überraschenden Intelligenz des jungen Mädchens ganz eingenommen und nahm sie mit sich und zu sich. Die Familie zitterte, daß Julie de L'Espinasse Anspruch auf den Namen d'Albon erheben würde – wozu sie berechtigt war, da ihr nomineller Vater mit ihrer Mutter verheiratet war – und mit dem Namen auch auf ein Erbe. Madame du Deffand war nicht so rücksichtsvoll, um nicht sofort ihre Bedingungen in dieser Hinsicht zu stellen. Sie hätte sich die Mühe sparen können; denn das junge Weib war so stolz wie D'Alembert; es fiel ihr so wenig ein, Forderungen auf den Namen d'Albon zu stellen, wie er sich de Tencin nennen wollte. Und jeder von ihnen hat seinen Namen unvergeßlich gemacht.
Nach zehn Jahren ungestörten Zusammenlebens kam es wie bekannt zwischen Madame du Deffand und Mademoiselle de L'Espinasse zum Bruch, weil jene, die selten vor sechs Uhr nachmittags aufstand, entdeckte, daß ihre junge Gesellschaftsdame die berühmten Freunde des Hauses gern eine Stunde früher empfing, so daß die erste Blüte der Unterhaltung bereits geschwunden war, wenn Madame du Deffand eintrat. Das kränkte die jähzornige Dame so, daß sie aufschrie, als wäre ihr ein Raub zugefügt worden und als hätte sie eine Schlange an ihrer Brust gehegt.
Fräulein de L'Espinasse zog von der cholerischen Dame fort. Ihre Freunde legten zusammen, um ihr eine passende Wohnung zu mieten, und es ging Madame du Deffand sehr nahe, daß von ihrem eigenen Salon eine Auswanderung nach der Rue de Belle-Chasse stattfand, wo Fräulein de L'Espinasse nun Haus hielt. Allein die Persönlichkeit D'Alemberts und ihr Einfluß auf D'Alembert machten sie zu einem gesellschaftlichen Mittelpunkt. Aber ihr bescheidenes Heim wurde der Ort, wo D'Alembert ihre anderen Freunde traf, Turgot, den Chevalier von Castellux, den späteren Kardinal Brienne, den Erzbischof von Aix, Boisgelin, den Abbé de Boismont, die besten Geister der damaligen Zeit.
Die Zeitgenossen waren sich einig über die Anziehungskraft, die sie als Wirtin in diesem improvisierten Heim ausübte, sie, die niemals jemanden zu größeren Mahlzeiten einladen konnte.
Der erste Salon jener Zeit war sonst der der Madame Geoffrin. Sie war eine sehr reiche Dame, die eine großartige Wohltätigkeit entfaltete. Ihr Einfluß war bedeutend (Voltaire schreibt an sie und bittet sie, ihn für die Familie Sirven in die Wagschale zu legen). Sie gab in jeder Woche zwei große Diners, eins für Künstler: Vanloo, Vernet, Boucher, La Tour, Vien, Lagrenée, Soufflot, Lemoine, eins für Schriftsteller: D'Alembert, Mairan, Marivaux, Marmontel, Saint-Lambert, Raynal, Grimm. Die einzige Dame, die zugelassen wurde, war gerade Fräulein L'Espinasse. Aber alle bemerkenswerten Fremden wünschten eine Einladung zu Madame Geoffrin: der Schwede Creutz, Galiani, Hume, Gibbon. Sie war mütterlich, verstand eines jeden Charakter, leitete nach Möglichkeit. Zu geben und zu vergeben war ihre Losung. Da sie selbst ohne Kenntnisse und ohne Leidenschaft war, wirkte sie besänftigend. Da sie von Natur etwas furchtsam war, litt sie nicht, daß an ihrem Tisch heftige Äußerungen fielen, die bekannt werden und kompromittierend wirken konnten.
Jeder sieht, in wie vielen Punkten es für Fräulein L'Espinasse unmöglich war, mit Madame Geoffrin zu rivalisieren. Aber in ihrem Heim, dem Lagerplatz der Enzyklopädisten, wurden keinem Temperament Zügel angelegt; hier war das Wort – innerhalb der Grenzen des Schicklichen – vollkommen frei, und sie besaß das in allen Zeiten seltene, für derartige Zusammenkünfte unschätzbare Talent, zersplitterte Gespräche zwischen den einzelnen auf ein und denselben Gegenstand zu führen, so daß die Unterhaltung allgemein wurde, und jeder seinen Beitrag zur Beleuchtung derselben Sache gab.
Es scheint bei D'Alembert eine ähnliche Bewunderung und Ergebenheit für Julie de L'Espinasse vorgelegen zu haben wie die, die Voltaire für Emilie du Châtelet fühlte. Als D'Alembert einmal eine schwere Krankheit durchzumachen hatte, saß sie täglich an seinem Bett und pflegte ihn. Da er aber damals noch bei der Amme seiner Kindheit wohnte, einer braven Glasermeisterswitwe, und die Ärzte ihm bessere Luft empfahlen, zog er mit Julie de L'Espinasse zusammen. Die gute Gesellschaft fand dagegen nichts einzuwenden.
Doch es sind nicht die zärtlichen Gefühle, die von der ausgezeichneten Frau für ihren großen Freund gehegt wurden, die ihren Namen unter den Frauennamen des achtzehnten Jahrhunderts unvergeßlich gemacht haben. Es ist die Liebe, die sie zuerst im stillen fünf oder sechs Jahre lang für den hervorragenden Spanier, Marquis de Mora, fühlte, doch besonders die heftige erotische Leidenschaft, die sie danach für den jungen Herrn de Guibert ergriff. Im Jahre 1809 wurden ihre Briefe an ihn in zwei Bänden herausgegeben. Diese Briefe sind stets mit Recht als eine der schönsten und rührendsten Äußerungen eines leidenschaftlichen Gefühlslebens betrachtet worden. Es ist die grenzenlose und demütige, aber deshalb nicht minder unersättliche Leidenschaft einer feurigen Frau für einen kühlen, von mehreren Frauen in Anspruch genommenen Mann. Es ist die tiefe Verliebtheit einer vierzigjährigen Frau in einen dreißigjährigen Mann. Es ist das Aufgehen einer glänzend ausgestatteten, hochbegabten Frau in einen Mann, der als angebliches Genie in Mode gekommen ist und dem ständiges Glück eine eitle Freude, Aufsehen zu erregen, eingeflößt hat. Wehmütig stimmt es, daß diese seltene Frau für diesen Mann einen Brief folgendermaßen datiert:
Mein Freund, ich leide, ich liebe Sie und ich erwarte Sie.
Jeden Augenblick meines Lebens.
Er hielt nicht ein einziges der Versprechen, die er gab. Er enttäuschte die Welt, wie er sie enttäuschte. Sie verzehrte sich an ihrer unbeherrschbaren und qualvollen Leidenschaft, die D'Alembert nicht einmal ahnte, und er mußte sie im selben Alter sterben sehen, in dem Emilie du Châtelet wegen einer ebenso unbefriedigenden Verliebtheit in den flachen Saint-Lambert starb.
Außer der Waffengemeinschaft haben Voltaire und D'Alembert in ihrem intimen Privatleben ein gemeinsames Schicksal.
Die Enzyklopädie, dies Riesenwerk, das reichste Arsenal, das die Wissenschaft des achtzehnten Jahrhunderts zur Bekämpfung des Aberglaubens anlegte, war kaum angefangen, als D'Alembert und Diderot, die beiden gleich kühnen und kenntnisreichen Baumeister, bereits verfolgt wurden. D'Alembert schreibt (24. August 1752) an Voltaire: »Wir waren in diesem Winter einem heftigen Gewitter ausgesetzt; ich hoffe, wir werden endlich in Ruhe arbeiten können. Ich dachte mir ja, wenn man uns erst mißhandelt hätte, wie man es getan hat, dann würde man kommen und uns bitten, weiterzuarbeiten. Und darin habe ich mich nicht geirrt. Ich habe ein halbes Jahr lang nein gesagt. Ich habe geschrien, wie Ares bei Homer und ich kann sagen, daß ich nur dem ungewöhnlichen Drängen des Publikums nachgegeben habe. Ich hoffe, daß uns dieser so lange Widerstand für die Zukunft etwas mehr Ruhe verschaffen wird.« Und Voltaire antwortet (Potsdam, 5. September 1752): »Sie und Diderot führen ein Werk aus, das Frankreich zur Ehre gereichen wird, und denen, die Sie verfolgt haben, zur Schande. Paris ist reich an Schmierfritzen, aber von beredten Philosophen kenne ich nur Sie und ihn.«
Bald wurde Voltaire selbst einer der eifrigsten Mitarbeiter an der Enzyklopädie, und was zu bewundern ist: er wurde es mit einer Bescheidenheit, die sich niemals verleugnete, er spricht immer, als führte er Anordnungen seiner Freunde aus, hebt hervor, daß ihm weder seine Kenntnisse, noch seine Zeit, noch seine Gesundheit gestatten, seine Artikel so vollendet zu machen, wie es im Interesse eines derartigen Unternehmens notwendig wäre. Er sendet Material, das sie bei ihrem Ewigkeitsbau verwenden können, wie sie wollen, Feldsteine, die sie nach Erfordernis behauen mögen, mit denen sie die eine oder andere Lücke in einer Mauer oder Wand ausfüllen können. Wieder und wieder führt er an, daß sich in diesem Fall persönliche Eitelkeit nicht geltend machen könne oder dürfe, daß es sich um eine Sache handelt, bei der nur das allgemeine Wohl gilt:
So lange ein Hauch Leben in mir ist, stehe ich den ruhmvollen Verfassern der Enzyklopädie zu Diensten. Ich werde es stets als eine Ehre für mich ansehen, wenn auch nur schwach an dem schönsten Denkmal mitwirken zu können, das sich das französische Volk und die französische Literatur setzen.
(9. Dezember 1755.) Er wirkt übrigens nicht nur mit, sondern leitet an und beurteilt. Er bedauert die mittelmäßigen Artikel, die sich hier und da einschleichen. Mit seinem Abscheu gegen das Verschwommene, Weitläufige, Überflüssige, die leeren Redensarten, drängt er darauf, daß die Artikel kurz und gehaltvoll seien; sie sollen das Wort bestimmen; sie sollen einen Fall durch Beispiele erklären.
Die Enzyklopädie war im Gegensatz zu all dem Zeug und all der Gedankenspielerei, die sonst gedruckt und gelesen werden, Belehrung für die Gebildeten, Aufklärung für das Volk. Sie war außerdem im Gegensatz zu all dem sogenannten erbaulichen Gefasel und verworrenen Unsinn, der gepredigt und geglaubt wird, ein Mauernbrecher schwerster Konstruktion gegen Aberglauben und Fanatismus. Da ihre Veröffentlichung aber am selben Tage verboten werden konnte, an dem man beweisen konnte, daß sie das war, mußten D'Alembert, Diderot und Voltaire – mit blutendem Herzen – bei theologischen und metaphysischen Fragen Artikel aufnehmen, die in ihren Augen nur Mönchsgeplapper enthielten, die aber als Deckung für andere dastanden, die Wahrheiten enthielten. Sie litten darunter. »Es ist grauenhaft«, schreibt Voltaire im Oktober 1756, »daß man gezwungen ist, das Gegenteil von dem zu drucken, was man denkt.« Es waren aber sowohl List wie geistige Gewalt, Diplomatie wie Offenheit erforderlich, sollte überhaupt Aussicht sein, das Werk durchzuführen. Wenn ein vereinzelter Minister wie Malesherbes etwas weniger abweisend war, mußte man das ausnutzen. Wenn Justiz und Geistlichkeit, Parlament und Bischöfe in ewiger Fehde miteinander lagen, konnten die Philosophen hier und da hindurchschlüpfen, während sich die Pedanten und die Pfaffen prügelten.
Frankreichs Zustand machte damals das Lesepublikum der Kritik gegenüber hellhörig. Das Elend war unermeßlich. Die Landbevölkerung war derart ausgeplündert und ausgehungert, daß sie buchstäblich versuchte, wie ihr Vieh, sich mit Gras zu ernähren. Frankreichs damalige Staatsform fand den schärfsten Ausdruck darin, daß an Brot direkt Mangel herrschte.
Voltaires Briefe über England waren der erste Versuch gewesen, die Aufmerksamkeit auf die Ursache des Elends hinzulenken. Nun stand die ganze Literatur unter seinem Einfluß. Die Machthaber versuchten den Eindruck zu erwecken, als würde ein ehrwürdiger Glaube angegriffen, als gäbe es etwas weniger Ehrwürdiges, als einen fanatisierten Glauben. Aber in Wirklichkeit war in erster Linie gar nicht von dem von der Geistlichkeit verkündigten Glauben die Rede. Es handelte sich um ihre Steuerfreiheit, um ihre Vorrechte.
Für alle, die die Reform der Gesellschaft erstrebten, war die Geistlichkeit das große Hindernis. Ihre Macht beruhte auf ihrem Reichtum. Sie besaß ein Drittel des französischen Bodens. Sie bot dem Königtum und den Forderungen des Volkes die Spitze; sie war solidarisch mit dem Adel, dessen Mitglieder sie in sich aufnahm; sie war eine politische Organisation, die ihr weltliches Wesen mit der Ehrfurcht verhüllte, auf die sie als kirchliche Körperschaft Anspruch erhob. Es war jedoch klar: wurde der Glaube, auf dem die Ehrfurcht beruhte, ernstlich erschüttert, dann würde sich der Stoß allmählich wie ein Erdbeben ausbreiten. Die Enthüllung der Offenbarung als Menschenwerk und das Durchsägen dieses Menschenwerks würden den Fall der Kirche mit sich bringen, und da die Alleinherrschaft auf der Kirche beruhte, würde auch ihr Sturz nur eine Frage der Zeit sein.
Am 23. Juni 1760 schrieb Voltaire an D'Alembert: »Ich möchte, Sie zerschmetterten die Infame, das ist die Hauptsache. Man muß sie auf den Zustand zurückführen, in dem sie sich in England befindet, und es wird Ihnen gelingen, falls Sie es wollen. Das ist der größte Dienst, den man der Menschheit erweisen kann.«
Bereits zwanzig Jahre früher hatte Voltaire in einem Briefe an den Präsidenten Hénault von dem »niedrigen und infamen Aberglauben« gesprochen. Dann verschwindet das Wort aus seinen Briefen und Schriften. Als es das erstemal wieder auftaucht, und zwar als Formel, geschieht es nicht in einem Briefe Voltaires, sondern in einem Friedrichs an ihn vom 18. Mai 1759, in dem der König, dessen Haß gegen alles Kirchliche in Wirklichkeit stärker ausgeprägt war als Voltaires, spottend schreibt:
»Sie werden noch lange von Les Délices aus dem Parnaß Gesetze diktieren; Sie werden auch in Zukunft die Infame mit der einen Hand liebkosen und sie mit der anderen Hand kratzen; Sie werden sie behandeln, wie Sie mich und die ganze Welt zu behandeln pflegen.«
Voltaire antwortet: »Eure Majestät werfen mir in sehr schönen Versen vor, daß ich die Infame gelegentlich liebkose; mein Gott! das tu ich nicht; ich arbeite nur daran, sie mit der Wurzel herauszureißen, und ich habe ab und zu Erfolg dabei gehabt unter gebildeten Menschen.«
Ende 1757 schrieb Voltaire an D'Alembert: »Ich mache es wie Cato. Ich ende jede Rede mit einem Deleatur Carthago. Um den Koloß umzustürzen, sind nur fünf oder sechs Philosophen nötig, die in Übereinstimmung miteinander vorgehen. Es gilt ja nicht, unsere Lakaien daran zu hindern, eine Messe oder Predigt zu hören; es gilt, unsere Familienväter der Tyrannei von Betrügern zu entreißen und ihnen den Geist der Verträglichkeit einzuflößen. Diese große Sendung hat schon Erfolge aufzuweisen. Der Weinberg der Wahrheit wird von Männern wie D'Alembert, Diderot, Bolingbroke, Hume usw. gepflegt. Falls sich Ihr König von Preußen (Voltaire nennt ihn nicht mehr seinen) auf dies geheiligte Wirken beschränkt hätte (statt dauernd Krieg zu führen), hätte er glücklich leben können und alle wissenschaftlich Gebildeten in Europa hätten ihn gesegnet.«
Es liegt keine Geringschätzung für den Mann des Volkes in Voltaires Wort von den Lakaien, die es nicht zu bekehren gilt. Er zeigt an zahllosen Stellen und hat durch die Tat gezeigt, wieviel Herz er für den gemeinen Mann hatte. Aber er meinte, wie er oft gesagt hat, daß diejenigen, die von ihrer Hände Arbeit leben mußten, unmöglich Zeit und Kraft erübrigen konnten, um genug zu lernen, daß die Denker für ihre Unterweisung sich hätten einsetzen sollen. Und wenn man die Bildungsstufe der Bauern und Arbeiter Frankreichs um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts kennt, versteht man, daß er sich nicht vorstellen könnte, es würde in absehbarer Zeit etwas nützen, sich an diese Gesellschaftsschicht mit einer antikirchlichen Propaganda zu wenden. Und doch wird sein Vertrauen zum Volk größer und größer. Am 28. September 1768 schreibt er: »Man öffnet in ganz Europa die Augen. Es geht eine Revolution des menschlichen Geistes vor sich, die große Folgen haben wird.«
Während Voltaire so sich und seine Freunde aus ganzer Seele dem Kampf gegen die Überlieferung weihte, die in seinen Augen die Grundlage der Infamen war, dachte man am französischen Hofe daran, ihn in den Dienst dieser Überlieferung zu ziehen. Madame de Pompadour, die nicht mehr jung war und deren Schönheit mit der Jugend zu entfliehen begonnen hatte, sah sich nach einer dauerhafteren Unterlage ihrer Stellung um. Sie wußte zu gut, daß es nur die Macht der Gewohnheit war, die den König an sie band. Lange hatte sie gegen ihr eigenes kühles Temperament gekämpft, das nur durch aufstachelnde Mittel, die ihre Gesundheit zerrütteten, dem Verlangen ihres Herren entgegenkommen konnte, wie er es verlangte. Dann hatte sie es aufgegeben, und sie erhielt sich seine Gunst, indem sie junge Schönheiten, die zwar neue Liebkosungen, wenn auch nicht das Pulver erfunden hatten, in dem kleinen Haus im Parc-aux-Cerfs einander ablösen ließ.
Ihr ganzer Sinn stand jetzt auf eine feste und ehrenvolle Stellung am Hofe ähnlich der Madame de Maintenons unter Ludwig dem Vierzehnten. Sie wollte zur Palastdame der Königin ernannt werden. Zu diesem Zweck hatte sie schon früher verschiedentlich gesagt und sagen lassen, daß jeder intime Verkehr zwischen ihr und dem König längst aufgehört hatte. Um die kirchliche Sündenvergebung zu erlangen, fügte sie eine vorgebliche Bekehrung hinzu, eine neu gewonnene Religiosität, und sie wandte sich an den Heiligen Vater selbst, um zu erreichen, wonach sie trachtete.
Obwohl die Entrüstung der Jesuiten und der Unwille, der sich am Hofe des Dauphin äußerte, sie zwangen, ihre Übungen in wahrem Christentum mit dem Père Sacy einzustellen, gelang es ihr durch ein geschicktes Manöver anscheinend zu ihrem, übrigens abweisenden, Ehemann zurückkehren zu wollen, die Königin der Demütigung zu unterwerfen, die ihre Ernennung zur Palastdame war.
Doch während Madame de Pompadour noch den Versuch machte, sich bei der Kirche einzuschmeicheln, versuchte sie, Voltaire zu etwas Ähnlichem zu bewegen. Da ein Strahl der Gnadensonne sie erleuchtet hatte, warum sollte diese nicht auch ihn erleuchten? Und welcher Triumph für die Marquise, das verirrte – ach, so weit verirrte – Lamm zurück in die kirchliche Hürde zu führen!
Auf Veranlassung der Madame de Pompadour fragte der Herzog von La Vallière bei Voltaire wegen einer Übersetzung der Psalmen Davids in schönen Versen an. Er würde ja mit Leichtigkeit J. B. Rousseau als geistlichen Dichter übertreffen können. Er würde seine Leser erbauen und Madame de Pompadour die größte Freude bereiten. Er sollte David gleichkommen, David bereichern. Man würde von diesen Psalmen eine prachtvolle Ausgabe in der Druckerei des Louvre veranstalten.
Condorcet behauptet, daß man Voltaire sogar einen Kardinalshut in Aussicht stellte, falls er den Wünschen entgegenkam – was doch wohl kaum ernst gemeint war. Voltaire selbst begnügt sich im einem Brief an Thiériot mit der Andeutung, daß man von ihm Umdichtungen des Alten Testaments haben möchte. Das einzige was er in Übereinstimmung mit der ihm gegebenen Anregung tat, war eine freie Wiedergabe vom Hohen Lied und vom Kohelet, zwei Büchern, die ja nur in geringem Grade zur Erbauung geeignet waren, und deren Übertragung ins Französische wohl kaum mit dem Kardinalspurpur belohnt werden konnte.
Madame de Pompadour trug keine Bedenken, religiöse Heuchelei als Mittel zum Zweck anzuwenden. Voltaire war zu stolz dazu.
Das einzige, was er überhaupt vom französischen Hofe erreichen wollte, war die allen anderen französischen Bürgern zugestandene Erlaubnis, sich in Frankreich aufzuhalten und in Paris einen Wohnsitz zu haben. Aber das wurde und blieb ihm verweigert. Im Juli 1756 schreibt der Marquis d'Argenson in seinem Tagebuch: »Als der Dichter Voltaire meinen Bruder um Erlaubnis gebeten hatte, wegen geschäftlicher Angelegenheiten nach Paris zurückzukehren, wurde ihm diese verweigert.« Es ist sicher, daß der Graf von Argenson seine alte Schulfreundschaft zu Voltaire ganz vergessen hatte; er war ihm gegenüber kühl, wie er Madame de Pompadour gegenüber gehässig war. Endlich im Jahre 1757 gelang es ihr, nach einer Szene mit überströmenden Tränen und einer Ohnmacht, die mit Hilfe einiger Hoffmannstropfen aufhörte, den König bezüglich des Grafen d'Argenson umzustimmen, und zwei Tage darauf erhielt der Minister eine lettre de cachet, in der stand:
Ihre Dienste sind für mich nicht mehr nötig. Ich befehle Ihnen, mir Ihr Abschiedsgesuch als Kriegsminister und in allen Eigenschaften, die mit dieser Stellung zusammenhängen, einzureichen und sich auf Ihre Güter bei Ormes zurückzuziehen.
D'Argensons Sturz war für Voltaire kein Kummer. Umsomehr trauerte er bei dem ungefähr gleichzeitigen Tode des Bruders. Der Marquis d'Argenson hatte seinem Herzen stets weit näher gestanden und hatte sich oft als ein verläßlicher Freund erwiesen. Die Nachwelt erinnert sich seiner nur auf Grund einer Antwort, die er eines Tages in einer Voltaireschen Angelegenheit gab: als er in seiner Eigenschaft als Minister Desfontaines fragte, warum er gegen seinen Wohltäter geschrieben habe, antwortete dieser: Il faut que je vive, worauf er mit der Wendung antwortete, die in der französischen Sprache zur stehenden Redensart geworden ist: Je n'en vois pas la nécessité.
Darin liegt mehr als Humor; ein überlegener, vernichtender Witz, ein Todesurteil der Verachtung, mit schneidender Ironie gefällt.
Les Délices war ein Sommeraufenthalt. Den Winter verbrachte Voltaire in Monrion bei Lausanne, einer Stadt, die ihm viel lieber wurde als Genf. Lausanne war eher eine französische als eine schweizerische Stadt, da die gute Gesellschaft des Orts aus französischen Familien bestand, die durch die Aufhebung des Edikts von Nantes vertrieben worden waren, und französische Gewohnheit und Sitte, französische Höflichkeit und Anmut bewahrt hatten. Diese Familien nahmen Voltaire mit höchster Achtung auf; sie teilten nicht das hugenottische Vorurteil gegen Bühnenkunst. Man spielte alte und neue Stücke, Komödien und Tragödien von Voltaire, und er selbst setzte sie immer in Szene.
In Lausanne machte Voltaire die Bekanntschaft zweier allein und bescheiden wohnenden Damen, der Gräfin Nassau und des Fräulein Rieu, die er wahrscheinlich aufsuchte, weil er erfahren hatte, daß die zuletzt genannte eine Sammlung höchst fesselnder Briefe von einer merkwürdigen Frau aufbewahrte, die er in jüngeren Jahren selbst gekannt hatte, ebenso wie den Mann, von dem die Briefe sprachen. Fräulein Rieu war die Enkelin der Madame Calandrini, an die Mademoiselle Aïssé diese Briefe gerichtet hatte, die heute als ein kostbarer Schatz der französischen Literatur aus dem achtzehnten Jahrhundert gewürdigt werden, als eine mit köstlicher Essenz gefüllte Alabasterurne.
Wie gesagt: Voltaire hatte sowohl Mademoiselle Aïssé wie den Ritter von Aydie gekannt. Es mußte auch ihn tief rühren, daß im Anfang jenes achtzehnten Jahrhunderts, das so reich an Wollust und so arm an Liebe war, während der Regentschaft in Frankreich eine junge Frau in stärkster und zärtlichster Liebe gelebt hatte, so sanft wie jenseits der Mitte des Jahrhunderts Mademoiselle de L'Espinasse heftig war.
Die Briefe dieser beiden Frauen – Flammen, Tränen – sind die bedeutendste erotische Dichtung des Jahrhunderts. Inmitten der Frivolität ihrer Zeit und der geschlechtlichen Ausschweifungen, die mit immer steigender Herzlosigkeit begangen wurden, bewachten diese beiden Frauen wie geweihte Priesterinnen das heilige Feuer der Liebe.
Von beiden war ohne Zweifel Aïssé (ursprünglich Haydie) poetischer. Ihr Lebensgang ist wie ein orientalisches Märchen: Herr de Feriol, der Gesandte Ludwigs des Vierzehnten in Konstantinopel, sah dort eines Tages auf dem Sklavenmarkt ein kleines vierjähriges Tscherkessenmädchen zum Verkauf ausgestellt. Sie war aus einer tscherkessischen Stadt, die von den Türken eingenommen und geplündert worden, und war im Palast eines Fürsten gefunden. Herr de Feriol kaufte das kleine Mädchen, und sandte sie nach Frankreich zu seiner Schwägerin, Madame de Feriol, damit sie dort zu einer Mustergeliebten reifte, einer Sklavin oder einer Odaliske, für das Alter eines orientalisierten Franzosen aufgespart.
Das junge Mädchen wuchs auf und war entzückend, hatte ein fast kindlich unschuldiges Aussehen, ein liebliches Mienenspiel, die Leichtigkeit der Gazelle und einen zugleich naiven und schmachtenden Blick. Man weiß nicht, ob sie, die ihre Freiheit gegen die verliebten Nachstellungen des Regenten zu wehren verstand, Widerstand zu leisten vermochte, als ihr gesetzlicher Herr zehn Jahre nach ihrer Ankunft heimkehrte und seine Pascharechte geltend machen wollte. Aber das weiß man, daß ihr ganzes Wesen in einer einzigen Liebe von dem Tage an aufging, als sie bei Madame du Deffand zum erstenmal den Chevalier d'Aydie traf. Und – sonderbar genug – ihr Auserkorener war ihrer wert, liebte sie so tief und ernst, daß Madame de Feriol sie eines Tages fragte, ob sie ihn verzaubert habe? »Der Zauber, den ich angewandt«, war die Antwort, »ist der, ihn unfreiwillig zu lieben und alles zu tun, um ihm das Leben so schön zu machen, wie es mir möglich ist.« Sie schreibt: »Viele Menschen kennen die Befriedigung nicht, die darin liegt, mit solcher Zärtlichkeit zu lieben, daß man das Glück des Geliebten dem eigenen vorzieht.«
Aydie bot ihr zu wiederholten Malen seine Hand an. Sie schlug es mit den Worten ab: »Nein, sein Ruhm ist mir zu teuer.« Sie betrachtete es mit ihrem reinen Gemüt als eine Art Pflicht, sich von dem zärtlichen Zusammenleben mit Aydie zurückzuziehen. Aber es gelang ihr sehr schwer: »In Lebendiges zu schneiden, in eine heftige Leidenschaft zu schneiden, das ist furchtbar. Der Tod ist nicht schlimmer. Ich zweifle, ob ich in dieser Krise das Leben behalte.« Ihr Herz blutete, Tropfen um Tropfen; sie bereute ihre Hingebung; sie schämte sich ihrer, wie man sich denken mag, daß sich ein gefallener Engel schämt. Ihre Kräfte nahmen ab, ihre Gesundheit verzehrte sich, ihre Schönheit schwand. Aber der Chevalier von Aydie blieb gleichmäßig liebevoll und herzlich.
Er bildet einen scharfen und wohltuenden Gegensatz zu jenen Männern, die von hervorragenden Frauen geliebt wurden, Saint-Lambert, de Guibert usw., die nur Miniaturausgaben des wahren Modehelden sind, jenes Richelieu, der von drei Frauengeschlechtern nacheinander angebetet wurde, so daß er zum Schluß einem Abgottbilde ähnelte, vor dem die Andächtigen aus Aberglauben und Gewohnheit auf den Knien lagen. Doch er war zum mindesten ein Mann von Wert, und wenn er blendete, dann machten ihn seine großen Eigenschaften, Geistesgegenwart, Mut, Feldherrngabe, für das andere Geschlecht unwiderstehlich. Diese Männer dagegen waren nur eitel, und waren mit scheinbarer Genialität sowohl ohne Kraft zum Handeln wie ohne künstlerische Gabe.
Aïssé gehörte auch nicht, wie Emilie du Châtelet zu den vornehmen Damen jener Zeit, die ohne heilige Scheu waren, ja kaum von Schamhaftigkeit wußten. Im Gegenteil! Sie schreibt (anläßlich des übertriebenen Spieles einer Schauspielerin als Liebende) diese Worte, die ihr eigenes Wesen zeichnen: »Es kommt mir vor, daß für diejenige, die eine liebende Frau darstellen will, Bescheidenheit und Zurückhaltung notwendige Eigenschaften sind, wie aufregend die Situation auch sei. Alle Leidenschaft muß durch Biegung der Stimme und durch die Betonungen ausgedrückt werden. Die gewaltsamen Armbewegungen soll man Männern und Zauberern überlassen. Eine junge Prinzessin muß mehr Schamgefühl haben.«
Aïssé selbst ähnelt der jungen türkischen Prinzessin, Atalide, in Racines Bajazet, die von der Hauptperson geliebt wird und ihn liebt, aber mit einer so rührenden Sanftheit und einer solchen Angst, seiner Zukunft im Wege zu stehen, wenn sie seine Hand annehme, daß sie alle Herzen gewinnt. Wie schön hat nicht Aïssé in ihrer letzten Krankheit den Geliebten und sich selbst gezeichnet, wenn sie sagt: »Er bildet sich ein, daß er durch seine Freigebigkeit mein Leben erhalten könne; er gibt dem ganzen Haus; ja, er gibt sogar der Kuh; der gibt er Heu. Er gibt der einen, damit sie ihren Sohn ein Handwerk lernen lassen kann, der anderen, daß sie sich einen Pelzkragen und ein paar Bänder kaufe; er gibt allen, die ihm nahekommen und ihm hier begegnen; es nähert sich schon dem Wahnsinn. Wenn ich ihn frage: wozu soll das gut sein? antwortet er: es soll alle, die in Deiner Nähe sind, verpflichten, damit sie noch größere Sorgfalt für Deine Pflege zeigen.«
Unglücklicherweise war es Voltaire versagt, etwas in diesem Maße Zartes und Erlesenes in einer weiblichen Gestalt zu schaffen. Aber dem Chevalier von Aydie hat er mit voller Absicht ein Denkmal gesetzt im Ritter von Couci in Adélaïde de Guesclin; wahrscheinlich hat er sich seiner auch bei der Hauptperson im Tancrède erinnert.
Da unternimmt Voltaire einen Schritt, der gewissermaßen der erste auf einer Bahn ist, die später die seinige wurde. Er bemüht sich, das Leben eines unschuldig Angeklagten zu retten, als dieser sich aus weiter Ferne an ihn wendet. Wir haben gesehen, mit welcher Bravour Richelieu 1756 Minorca von den Engländern eroberte. Beim Beginn des Feldzuges hatte Voltaire die Taten seines Jugendfreundes in zahlreichen Auslassungen voraus gesagt, und wenn sie der Abwesende auch nicht zu sehen bekam, gerieten sie doch in Paris in lebhaften Umlauf, und wurden mit den verschiedensten Bemerkungen versehen, je nach der größeren oder geringeren Sympathie für Voltaire. Als Richelieu nun im großen Stile siegte, war es natürlich, daß Voltaire seine Befriedigung zu erkennen gab.
Der Eindruck war um so stärker, als die Engländer, die von der Überzeugung ihrer unendlichen Überlegenheit zur See durchdrungen waren, im voraus die Franzosen verhöhnt hatten, und z. B. die französische Flottenstärke folgendermaßen angegeben hatten: Die Fährboote bei Corbeil und Auxerre, die Fähre bei Asnières und die Galiote bei Saint Cloud. Es wurden in London öffentliche Wetten abgeschlossen, ob Richelieu innerhalb vier Monaten wohlverwahrt im Tower sitzen würde. Es war also in England für unmöglich angesehen worden, daß ein englischer Admiral von einer französischen Flotte überwunden werden oder, wie man es nannte, vor ihr die Flucht ergreifen konnte, und es regnete Verwünschungen und Anklagen über den unglücklichen Admiral Byng, für den man ein Kriegsgericht verlangte, und der denn auch wirklich vor eins gestellt wurde.
Voltaire, der während seines Aufenthalts in England Byng persönlich kennen gelernt hatte, fühlte die schneidende Ungerechtigkeit, einen einzelnen Menschen für die verletzte Nationaleitelkeit der Engländer büßen zu lassen, fühlte sie um so schärfer, als er von Richelieu wußte, wie tapfer Byng gekämpft hatte. Er wandte sich da an den Freund und bat ihn, einen Zeugenbericht niederzuschreiben, den er Byng senden und seinen Richtern vorlegen lassen konnte. Richelieus feine, würdevolle Antwort, die nicht auf sich warten ließ, lautet folgendermaßen:
Ich bin sehr betrübt über die Anklage gegen den Admiral Byng; ich kann versichern, daß, was ich von ihm gesehen und über ihn gehört habe, ihm nur zur Ehre gereicht. Da er alles getan hat, was man vernünftigerweise von ihm erwarten durfte, sollte er nicht getadelt werden, daß er eine Niederlage erlitten hat. Wenn zwei Höchstkommandierende um den Sieg kämpfen, dann muß, auch wenn sie im gleichen Maße ehrenhaft sind, der eine von ihnen notwendigerweise geschlagen werden; und nichts anderes spricht gegen Byng, als daß er das ward. Sein ganzes Verhalten war das eines tüchtigen Seemannes, und es wäre einfach zu bewundern, wenn Gerechtigkeit bewiesen werden soll. Die beiden Flotten waren, praktisch genommen, gleich stark: die Engländer hatten dreizehn Schiffe und wir zwölf, aber unsere waren weit besser ausgerüstet und leichter zu manövrieren. Das Kriegsglück, das den Ausfall aller Schlachten, besonders der Seeschlachten bestimmt, war uns günstiger als unseren Gegnern, denn unsere Geschosse richteten größeren Schaden an als die ihren. Ich bin überzeugt, und es ist die allgemeine Ansicht, wenn die Engländer die Schlacht fortgesetzt hätten, wäre ihre ganze Flotte zerstört worden. Kein Verfahren kann ungerechter sein als das jetzt gegen Admiral Byng eingeleitete. Jeder Mann von Ehre, jeder Offizier in den beiden Heeren muß dem Prozeß mit gespannter Aufmerksamkeit folgen.
Voltaire übersandte Byng das Schreiben des Marschalls mit folgendem Billet:
Mein Herr, obwohl ich Ihnen fast unbekannt bin, halte ich es für meine Pflicht, Ihnen die Kopie eines Briefes zu senden, den ich eben von dem Herrn Marschall von Richelieu erhalten habe. Ehre, Menschlichkeit und Billigkeit gebieten mir, sie in Ihre Hände gelangen zu lassen. Dies edle und so unerwartete Zeugnis von einem der aufrichtigsten und hochherzigsten unter meinen Landsleuten läßt mich annehmen, daß Ihre Richter Ihnen die gleiche Gerechtigkeit erweisen werden.
Richelieus Brief gewann dem Angeklagten nur vier Stimmen. Er wurde zum Tode verurteilt und am 14. März 1757 erschossen. Er starb mit großer Festigkeit. Vor seinem Tode sandte er das Memorandum, das er zu seiner Rechtfertigung geschrieben hatte, an Voltaire und ließ ihm durch seinen Testamentsvollstrecker folgende Zeilen senden: »Der verstorbene Admiral Byng versichert Sie seines Respekts, seiner Erkenntlichkeit und seiner vollkommenen Achtung; er würdigt Ihr Verhalten durchaus und stirbt getröstet durch die Gerechtigkeit, die ihm ein edler Soldat erwiesen hat.«
Wenn man bedenkt, wie fern Voltaire Byng stand, und daß er nur als Privatmann, ohne Auftrag von irgendeiner Seite handelte, dann fühlt man, wie stark selbst eine ferne und fremde Ungerechtigkeit sein Gerechtigkeitsgefühl in Bewegung setzte und wie fern es ihm lag, Mühe zu scheuen, um die Fälle von Unglück und Gewalt zu vermindern, die nationale Vorurteile nicht weniger als religiöse zu seiner Zeit verschuldeten.
In der Zueignung an Monseigneur le maréchal de Richelieu, mit der Voltaire seine Tragödie L'Orphelin de la Chine einleitete, die auf der Bühne sowohl in Paris wie in Fontainebleau einstimmigen Beifall gefunden hatte, teilt er mit, daß er die Idee zu dem Stück erhielt bei der Lektüre einer alten chinesischen Tragödie in der französischen Übersetzung eines Missionars.
Die Tragödie ist fest und sicher gebaut, die theatralische Spannung und Wirkung steigert sich ununterbrochen, und das Ganze gestaltet sich zu einer Verherrlichung der zu jener Zeit sogenannten »Tugend«, was ein Leben für Ideale bedeutete. Der Eroberer Tschengis-Khan, ein geborener Skythe, der in seiner Jugend nach der Hauptstadt Chinas kam, hat dort seinerzeit Idame, eine vornehme Chinesin, geliebt, die ihn jedoch zurückweisen mußte, da die Vorschriften und Gebräuche der alten Kultur Chinas ihr die Ehe mit einem Fremden nicht gestatteten. Danach lebte sie in einer ruhigen und würdigen Ehe mit dem gerechten Mandarinen Zamti, mit dem sie einen kleinen Sohn hat.
Tschengis-Khan kehrt als Welteroberer nach China zurück und läßt das nationale Kaiserhaus ausrotten, dessen jüngere und ältere Angehörigen niedermachen. Es gelingt nur, den jüngsten Sproß der Kaiserfamilie zu retten, der vater- und mutterlos ist. Nach ihm ist das Stück benannt. Dies Kind ist in Zamtis Obhut gegeben und wird von ihm verborgen gehalten.
Da aber der Tyrann, der sonst wohl zur Milde gegen die Überwundenen neigt, sich gegen jede zukünftige Beunruhigung durch die früher herrschende Dynastie schützen will, verlangt er die Auslieferung des Kindes, und Zamti hat in seiner Kaisertreue keinen anderen Ausweg finden können, als ohne Wissen seiner Frau seinen eigenen Sohn auszuliefern, als wäre er das gesuchte Kind. Als Idame davon hört, wehrt sie sich gegen die Auslieferung ihres Sohnes und erklärt voll verzweifelnder Mutterliebe, daß das Kind ihr Sohn sei. Der Eroberer kommt hinzu und sieht sie voll Bewegung wieder. Sie ruft ihn um Schonung für ihr unschuldiges Kind an. Er gewährt sie sofort, denn er weiß nicht, daß es eben das Kind ist, das seinen Männern als Fürstenkind übergeben worden ist. Zamti wird dadurch gezwungen, die Wahrheit zu bekennen. Er ist jedoch ruhig, denn soweit man vermuten kann, ist der jüngste Sproß des Kaiserhauses nun in Sicherheit. Nach den Kriegsgesetzen der Mongolen muß dieser Betrug natürlich bestraft werden, und Idame ist eher bereit, mit ihrem Mann zu sterben, als daß sie den Aufenthalt des Kaiserkindes verrät.
Auf diese Weise erfährt Tschengis, welche Blüten eine alte, friedlich aufbauende Kultur an Edelmut und Opferwilligkeit gedeihen läßt. Mit Verwunderung vergleicht er jene Zivilisation mit der Verwüstungswut seiner Tataren, er ist nicht mehr so stolz darauf, daß er Asien unterworfen hat:
Le ciel ne nous donna que la force en partage.
Nos arts sont les combats; détruire est notre ouvrage.
Ah, de quoi m'ont servi tant de succès divers!
Quel fruit me revient-il des pleurs de l'Univers!
Nous rougissons de sang le char de la victoire.
Peut-être qu'en effet il est une autre gloire.
Das Edle in ihm erwacht; er will auf seine Rache verzichten; Zamti kann das Leben behalten. Aber voll Würde erinnert er Idame an ihre frühere, gegenseitige Zuneigung. Sie ist bei ihm nun zur Leidenschaft gestiegen. Da er jedoch ihren Wert vollkommen eingesehen hat, bietet er ihr seine Hand, sie soll seinen Thron teilen; sich nur von Zamti trennen, dem nichts Böses widerfahren soll. Ja, sogar das Leben des Thronerben soll geschont werden. Zamti ist entschlossen, Idames Glück nicht im Wege zu stehen; aber für sie gibt es kein anderes Glück als in seiner Nähe. Eine derartige Bewunderung haben sein Wesen und seine Haltung in ihrem Gemüt geweckt.
Vergebens ruft Idame Tschengis-Khans Gerechtigkeitsgefühl an; seine unerwiderte Liebe wird zum Haß, und er droht, von nun an nur Herrscher zu sein, nur als Herrscher zu handeln. Da beschließen Idame und Zamti, gemeinsam Selbstmord zu begehen. Sie stehen im Begriff, diesen Vorsatz auszuführen, als der Welteroberer dazwischentritt und Idame verhindert, sich von Zamtis Dolch durchbohren zu lassen. Tschengis-Khan ist durch ihren Geistesadel überwunden, den er zuerst nicht verstanden:
Gengis:
Que la sagesse règne, et préside au courage!
Triomphez de la force; elle vous doit hommage.
J'en donnerai l'exemple, et votre souverain
Se soumet à vos lois, les armes à la main …
Zamti:
Ah, vous ferez aimer votre joug aux vaincus.
Idamé:
Qui peut vous inspirer ce dessein?
Gengis:
Vos vertus.
Diese Tragödie ist die typische Voltairesche Tragödie seiner reifsten Jahre. An äußerer Anziehungskraft das fremdartige ostasiatische Gewand, wodurch der Dichter den gewöhnlichen Horizont seiner Zuschauer erweiterte. Als Hintergrund Voltaires tief empfundene, oft ausgedrückte Achtung vor Chinas uralter, heidnischer, aber sittenreiner Friedenszivilisation. Dann die Verherrlichung der rein menschlichen Tugenden, Treue und Opferwilligkeit und des unverbrüchlichen Festhaltens an einem rein menschlichen Ideal.
Schließlich ist L'Orphelin de la Chine merkwürdig genug der Ausdruck einer lichten Lebensanschauung, die stark im Gegensatz zu der Satire über sie in Candide und verschiedenen der kleinen philosophischen Erzählungen steht. In der Tragödie steckt ein auffallender Glaube an das Gute als Grundlage der menschlichen Natur, der Voltaire seinem Gegner Jean Jacques nähert. Dieser geriet allerdings nicht selten nur deshalb in Streit mit ihm, weil er Streit suchte.
L'Orphelin ist das erste französische Stück, bei dessen Aufführung die Schauspielerinnen keine Reifröcke trugen. Diese standen in zu großem Gegensatz zum chinesischen Kostüm. Beinahe wäre das Stück in Fontainebleau überhaupt nicht zur Aufführung gekommen. Die geistliche Gesellschaft bei Hofe hatte der Königin erzählt, daß es Angriffe auf die Religion enthielt. Sie verlangte, daß die Stellen, wo sich solche Angriffe fanden, unterdrückt wurden. Als man jedoch ehrfurchtsvoll fragte, welche Stellen die Königin entfernt wünschte, zeigte es sich, daß sie das Stück gar nicht gelesen hatte. Dies wurde nun von der Polizei sorgfältig durchforscht, die jedoch nichts daran auszusetzen fand als die folgenden Verse, die als Verteidigung des Deismus aufgefaßt werden konnten:
La nature et l'hymen, voilà les lois premières,
Les devoirs, les liens des nations entières:
Ces lois viennent des dieux, le reste est des humains.
Bei weiterer Erwägung fand die Zensur die Stelle jedoch so unschuldig, daß man sie stehen ließ.
Dafür daß L'Orphelin de la Chine auch außerhalb Frankreichs und ein gut Stück in das neue Jahrhundert hinein seine Macht über die Gemüter in verschiedenen Kreisen bewahrt hatte, liegt ein Beweis in der dänischen Übersetzung des Stückes von C. H. Pram vor (Kopenhagen 1815). In einer langen, unglaublich schlecht geschriebenen Zueignung dieser Arbeit an Oehlenschläger sieht er es als gegeben an, daß alle Urteilsfähigen dies Schauspiel als »eines der glänzendsten, die jemals geschaffen wurden,« betrachten, und er beklagt es, daß »unsere südlichen Nachbarn ihr entschiedenes Vernichtungsurteil über jene Muster anscheinend auch hier geltend machen wollen.« Die Übersetzung in ungereimten Jamben ist schwach, aber nicht ganz schlecht; doch die Zeit für Voltaires Theaterstücke war ja besonders in Dänemark unwiderruflich vorbei.
Seit Voltaire sich in der Schweiz aufhielt, war er die größte Sehenswürdigkeit der Schweiz geworden. Sein Aufenthaltsort am Genfer See, gleichgültig, wo er gerade war, wurde der Wallfahrtsort für Reisende von Distinktion aus ganz Europa. Zahlreiche Zeugnisse liegen deshalb über ihn aus dem Vierteljahrhundert vor, das er sich dort aufhielt, sowohl von Leuten, die er niemals in seinen Schriften oder Briefen erwähnt, wie von Europas hervorragenden Frauen und Männern jener Jahre.
Unter den Damen, die ihn damals aufsuchten, muß Madame d'Epinay genannt werden, die durch ihre Sorge für Jean Jacques Rousseau und ihr nahes Verhältnis zu Grimm bekannt ist; sie war nach Genf gekommen, um Tronchin um Rat zu fragen, der damals das Orakel aller Frauen war, offiziell wegen ihrer schwachen Nerven, vielleicht aber aus Anlaß einer angenommenen Schwangerschaft, die bei ihrem Gesundheitszustand gefährlich werden konnte. Sie wünschte, daß Rousseau sie auf dieser Reise begleitete, mußte sich aber schließlich mit der Gefolgschaft ihres Ehemannes begnügen; es war dies die Reise, die den Bruch zwischen Grimm und Rousseau verursachte.
Voltaire überhäufte sie mit Höflichkeiten jeder Art, stellte ihr und ihrem Mann seinen Wagen zur Verfügung; nannte sie »den wahren Philosophen unter den Frauen«, pries in jedem Billet an sie die großen schwarzen Augen, die ihm Bewunderung und Achtung einflößten. Niemals lud er sie ein, ohne sie mit seinem Wagen abholen zu lassen.
Louise Tardieu d'Esclavelles (in ihren Memorien Emilie) wurde 1725 geboren, und heiratete mit 20 Jahren Herrn d'Epinay, den ältesten Sohn eines Steuerpächters, der sich schmählich gegen sie benahm. Diderot antwortete auf die Frage, was für ein Mann das wäre: »Einer, der zwei Millionen geschluckt hat, ohne ein amüsantes Wort zu sagen oder eine gute Tat zu vollbringen.«
Sie war klein, mager, außerordentlich wohl gebaut, sah ohne sonderliche Frische sehr jung aus, war rechtschaffen, lebhaft, geistreich. Sie hatte weiße Schultern und schön gelocktes Haar. Sie hat sich selbst mit den Worten gekennzeichnet: »Ich besitze Mut, Entschiedenheit und eine ungeheure Verlegenheit. Ich bin wahrhaftig, ohne offen zu sein (je suis vraie sans être franche).«
Voltaire seinerseits hat sie mit den Worten gezeichnet: »Sie hat das große Geheimnis gefunden, das beste, was ihrem Wesen möglich war, zu werden. Ich möchte ihr Lehrling sein; aber dazu ist es zu spät; die Falte ist gelegt. Sie ist ein Adler in einem Käfig aus Musselin.«
Sie hatte sich erst in einen gewissen Francueil verliebt; aber er kühlte sich schnell ab und wurde ein lasterhafter Mensch. Duclos, Sekretär der französischen Akademie, versuchte ihn durch ein Gemisch von Zartheit und Brutalität zu verdrängen, wurde aber abgewiesen.
Beim Tode ihrer Schwägerin, Madame de Jully, geriet sie in Verdacht, mit einer Anzahl kompromittierender Briefe ein Papier verbrannt zu haben, das sich auf die Geschäfte ihres Mannes und Jullys bezog; Grimm, der deutsche Baron, der ein vortrefflicher französischer Kritiker wurde, übernahm ihre Verteidigung. Er war zuverlässig und beständig, ein guter Beobachter des Lebens, der von jeder Überschätzung der Menschen frei, eher etwas misanthropisch war. Grimm war zwei Jahre älter als sie, 33 Jahre alt, als er sie kennen lernte. Ihre Verbindung währte 27 Jahre und in der ganzen Zeit verleugnete sich sein Gefühl niemals.
Madame d'Epinay gehörte zu dem Kreis der Enzyklopädisten, wo es gegen den Ton verstieß, sich von Bewunderung hinreißen zu lassen. Man übte Kritik.
Sie wußte außerdem, daß zahlreiche Frauen Voltaire mit ihrem Entzücken und ihren Schmeicheleien überfielen, und daß er sich über sie lustig machte, wenn sie aus der Tür waren. Sie wollte ihn fühlen lassen, daß sie aus anderem Guß war. Wenn man ihre Eindrücke von den Besuchen bei ihm in ihren Briefen an Grimm verfolgt, sieht man, daß sie an ihm doch wenig oder nichts zu kritisieren hat und ihren Witz nur über die dicke, runde Nichte, Madame Denis, ergehen läßt, die schon alt und häßlich und gutmütig war und über alles mitsprach, ohne irgend etwas zu verstehen. Über Voltaire selbst ist der Ton sehr verschieden:
Ich habe wieder einen Tag bei Voltaire verbracht. Ich wurde mit einer Höflichkeit, Ehrerbietung und Aufmerksamkeit empfangen, die ich zu verdienen glaube, an die ich aber nicht gewöhnt bin. Er fragte mich nach Neuem über Sie, Diderot und alle unsere Freunde. Er tat das Äußerste, um liebenswürdig zu sein. Und es gelang ihm; es fällt ihm nicht schwer.
Doch wollte sie, soweit sie urteilen konnte, ihr Leben lieber mit Diderot als mit Voltaire verbringen. Sie fand nicht, daß Diderot in diesem Hause seinem vollen Werte gemäß anerkannt wurde, da man, wenn man die Enzyklopädisten erwähnte, ständig von D'Alembert sprach. (Das beruhte doch nur darauf, daß D'Alembert ein näherer Freund und ein fleißigerer Korrespondent war.)
Sie zog wieder nach Les Délices, um dort drei, vier Tage zusammen mit ihrem Arzt, Tronchin, zu verbringen. Und sie schreibt von dort aus an Grimm:
Man hat keine Zeit, etwas vorzunehmen, wenn man bei Voltaire ist. Ich kann nichts weiter tun, als meinen Brief schließen, lieber Freund. Ich habe den Tag allein mit ihm und seiner Nichte verbracht, und nun ist er müde von den vielen Geschichten, die er mir erzählt hat. Als ich ihn bat, vier Zeilen an Sie schreiben zu dürfen, damit Sie wegen meines Gesundheitszustandes, der übrigens gut ist, nicht beunruhigt wären, äußerte er den Wunsch, sitzen bleiben zu dürfen, um zu sehen, was meine schwarzen Augen sagen, wenn ich schreibe. Er sitzt mir nun auch gegenüber. Er stochert im Kaminfeuer; er lacht; er sagt, daß ich mich über ihn lustig mache und daß ich aussehe, als ob ich ihn zum Narren hielte. Ich antwortete, daß ich alles niederschreibe, was er sagt, weil das wohl so gut ist wie das, was ich denke. Am Abend fahre ich nach der Stadt zurück und werde da auf Ihre Briefe antworten. Hier ist es unmöglich, etwas zu schreiben.
Noch berühmter als Madame d'Epinay wurde der nächste Besucher, der große englische Geschichtsschreiber Gibbon, der damals in seiner schönsten Jugend stand und keinen heftigeren Wunsch hegte, als Voltaire kennen zu lernen. Als Junge von fünfzehn Jahren war Gibbon zum katholischen Glauben übergetreten und war deshalb von seinem Vater nach Lausanne geschickt worden, um unter calvinistischen Einfluß zu kommen. Er brachte dort fünf volle Jahre zu (1753-1758). In seinen Erinnerungen hat er darüber geschrieben:
Ehe ich aus der Schweiz zurückgerufen wurde, hatte ich die Befriedigung, den außergewöhnlichsten Mann der Zeit zu sehen, Dichter, Historiker, Philosoph, der dreißig Quartbände mit seiner Produktion in Prosa und Versen gefüllt hatte, die oft vortrefflich, stets unterhaltend war. Ist es nötig, daß ich den Namen Voltaire hinzufüge? … Der größte Vorteil, den ich aus Voltaires Aufenthalt in Lausanne zog, war der so seltene, auf der Bühne einen großen Dichter seine eigenen Werke selbst rezitieren zu hören. Er hatte eine Gesellschaft von Damen und Herren gebildet, unter denen einige nicht ganz ohne Talent waren. Ein zierliches Theater wurde in Monrepos, einem Platz am Ende der Vorstadt eingerichtet, Kostüme und Dekorationen waren auf Kosten der Schauspieler angefertigt worden, und die Proben wurden von dem Verfasser mit Aufmerksamkeit und dem Eifer der Vaterliebe geleitet. Zwei Winter hintereinander wurden seine Tragödien Zaïre, Alzire, Zulime und seine empfindsame Komödie L'Enfant prodigue im Theater in Monrepos aufgeführt. Voltaire spielte selbst die Rollen, die seinem Alter angemessen waren, Lusignan, Alvarès, Benassar, Euphémon. Sein Vortrag war im Stile des alten Theaters moduliert mit pompöser Betonung und atmete Begeisterung für die Poesie, drückte aber nicht eben die natürlichen Gefühle aus.
Ohne es zu wollen verursachte Gibbon dem bewunderten Dichter nicht geringen Ärger und viel Unannehmlichkeit. Nur um sich und einigen Freunden ein Vergnügen zu machen, hatte Voltaire seine schöne Epistel 91 über seine Stimmung bei der Rückkehr auf sein Landgut in der Schweiz geschrieben. Das Gedicht gibt eine malerische Beschreibung des Genfer Sees und eine schöne Schlußhymne auf Freiheit und Freundschaft, die folgendermaßen endet:
O deux divinités! vous êtes mon recours.
L'une élève mon âme et l'autre la console,
Présidez à mes derniers jours!
Nach seiner Gewohnheit achtete er aus Furcht vor Verfolgungen darauf, keinerlei Abschrift des Gedichtes von sich zu geben. Aber er gestattete dem englischen Gesandten und dem jungen Gibbon, den der Minister eingeführt hatte, das Gedicht bei ihm zu lesen. Als der junge Mensch mit dem starken Gedächtnis des Historikers es zweimal gelesen hatte, wußte er es auswendig, schrieb es nieder und machte mit der Verbreitung der Epistel in Lausanne sein Glück.
In dem Gedicht fand sich jedoch eine Strophe, die nicht bekannt werden sollte, da sie einen alten Amadeo von Savoyen behandelte, der um 1440 in dem Kloster Ripaille jenseits des Sees gelebt hatte, das Voltaire täglich vor Augen hatte. Dieser Herzog hatte ein maßlos lustiges und epikuräisches Leben geführt, bis er das eines Tages aufgab, um als Gegenpapst gegen Nikolaus den Fünften aufzutreten. In der ursprünglichen Form, die Gibbon hörte, lauteten die Verse folgendermaßen:
Ripaille, je te vois. O bizarre Amédée,
Est-il vrai que dans ces beaux lieux,
Des soins et des grandeurs écartant toute idée
Tu vécus en vrai sage, en vrai voluptueux?
De quel caprice ambitieux
Ton âme fut-elle possédée?
Duc, ermite et voluptueux,
Ah, pourquoi t'échapper de ta douce carrière?
Comment as-tu quitté ces bords délicieux,
Ta cellule et ton vin, ta maîtresse et tes jeux,
Pour aller disputer la barque de Saint-Pierre?
Lieux sacrés du repos, je n'en ferais pas tant.
Et malgré les deux clefs, dont la vertu nous frappe,
Si j'étais ainsi pénitent,
Je ne voudrais point être pape.
Obgleich die Begebenheit, auf die hier angespielt wird, mehr als 300 Jahre zurücklag, geriet der Turiner Hof doch in Bewegung, als das Gedicht durch Gibbons Indiskretion verbreitet wurde, und ruhte nicht, ehe er erreichte, daß es in Genf verboten wurde.
Eine Berühmtheit unter den Besuchern, die Voltaire niemals nennt, die sich aber um so weitläufiger, wenn auch vielleicht nicht ganz zuverlässig, über Gespräche mit dem gastfreien Wirt ausgelassen hat, ist Jacques Casanova de Seingalt, der das neunte Kapitel des vierten Bandes seiner Memoiren der Wiedergabe seiner Gespräche mit Voltaire widmet. Wenn ein Zweifel hinsichtlich der vollen Zuverlässigkeit ausgesprochen wird, geschieht das nicht, weil die Gespräche Leben und Wahrscheinlichkeit vermissen lassen; im Gegenteil; sie scheinen, wie auch behauptet wird, sofort, nachdem sie stattgefunden hatten, aufgezeichnet zu sein; sonst wären auch manche kleinen Umstände, die erwähnt werden, in Vergessenheit geraten.
Es ist ganz natürlich, daß sich die Rede wesentlich um italienische Persönlichkeiten und um vergangene und zeitgenössische italienische Literatur dreht; aber man spürt ein zu deutliches Bestreben, Casanova auf jedem Gebiet, das behandelt oder gestreift wird, seine Überlegenheit zeigen zu lassen. Er sagt Voltaire auch häufig Unannehmlichkeiten, die er sich in Wirklichkeit wohl kaum erdreistet haben wird, in so naseweiser Form vorzubringen. Kennt man Voltaires vielfach geäußerte überschwengliche Bewunderung für Ariosto, dann klingt es sonderbar, daß ihm Casanova eine Jugendäußerung (aus dem Versuch über epische Poesie) vorgeworfen haben soll, in der die Anerkennung etwas begrenzt war. Dagegen scheint es glaubhaft, daß Voltaire dem jungen Italiener eine bestimmte Strophe aus den Fragmenten vorgetragen hat, die er von Ariosto übersetzt hat, und die im Dictionnaire philosophique gesammelt sind; denn der Gedanke in dieser Strophe von Ariosto stimmt ganz mit seiner eigenen Ansicht überein. Sie lautet:
Les papes, les Césars, apaisant leur querelle,
Jurent sur l'Evangile une paix éternelle;
Vous les voyez demain l'un de l'autre ennemis;
C'était pour se tromper qu'ils s'étaient réunis;
Nul serment n'est gardé, nul accord n'est sincère.
Quand la bouche a parlé, le cœur dit le contraire,
Du ciel qu'ils attestaient, ils bravent le courroux;
L'intérêt est le Dieu qui les gouverne tous.
Recht humoristisch wirkt es, daß Casanova Voltaire gegenüber als Verteidiger der Religion auftritt. Als Voltaire seinen Kampf gegen den Aberglauben erwähnt, sagt Casanova:
Sie könnten, meiner Ansicht nach, es sich ersparen, zu bekämpfen, was Sie doch nicht zerstören können. –
Was ich nicht ausführen kann, werden andere ausführen, und mir wird doch immer die Ehre zukommen, begonnen zu haben.
Das ist sehr schön. Aber angenommen, es gelänge Ihnen, den Aberglauben auszurotten, wodurch wollten Sie ihn ersetzen?
Wenn ich die Menschheit von einem wilden Tiere befreie, das sie auffrißt, darf man dann fragen, was ich an seine Stelle setze?
Es frißt sie nicht auf. Es ist im Gegenteil für ihr Bestehen nötig.
Voltaire betont, daß er die Völker glücklich und frei sehen will. Frei können sie aber nicht sein, solange der Aberglaube herrscht. Casanova fragt, ob er an die Volkssouveränität glaube? Nein, ein Herrscher ist erforderlich, um zu führen. Er soll aber kein Despot sein, soll ein freies Volk leiten. Hierauf gibt Casanova als Antwort die Erklärung, daß er ein Anhänger Hobbes sei; das Volk müsse geknechtet, gezähmt, in Fesseln gehalten werden. Lassen Sie dem Volk das Tier, das es so gern hat. Casanova findet, daß Voltaire an Don Quixote erinnert, der die Galeerensklaven befreite, die ihn zum Dank überfielen usw.
Ob nun diese Äußerung, wie es scheint, nach dem Ausbruch der französischen Revolution eingefügt ist oder nicht, der Sinn ist doch nicht zweifelhaft und außerdem offen ausgesprochen, Voltaire als den naiven Liberalen darzustellen, der daran glaubt, daß sich die gesunde Vernunft des Volkes wecken und entwickeln läßt, während Casanova als der entschiedene Menschenkenner und Menschenverächter auftritt, der voraus fühlt, daß die Revolution die Folge der Freidenkerei der Massen sein wird, und der auf die Religion hält – zwischen zwei Orgien, die zu beschreiben einzig seine Feder geeignet ist.
Da es jedoch nicht nur dieser ewig Frauen nachjagende Wichtigtuer ist, der den Anschein hat erwecken wollen, als ob Voltaire ohne die leiseste Ahnung von der ungeheuren Umwälzung gewesen wäre, die nur zehn Jahre nach seinem Tode bevorstand, soll hier eine Stelle aus einem höchst bezeichnenden Brief angeführt werden, den er (am 2. April 1764) an den französischen Botschafter in Turin, seinen Freund, den Marquis von Chauvelin, schrieb, der sich mit seiner Frau bei ihm aufgehalten hatte:
»Alles, was ich sehe, wirft Saat für eine Revolution, die unfehlbar eintreten wird, deren Zeuge zu sein ich aber nicht das Vergnügen haben werde. Die Franzosen kommen spät zu allem; aber schließlich kommen sie doch. Die Aufklärung hat sich derart von Mann zu Mann ausgebreitet, daß bei der ersten Gelegenheit alles gesprengt werden kann. Das wird einen lauten Knall geben. Die jungen Menschen sind glücklich; sie werden schöne Dinge zu sehen bekommen.«
Alles, was in Wahrheit darüber gesagt werden kann, ist, daß Voltaire nicht die Schreckensperiode der Revolution vorausgesehen hat; dagegen hat er sie unzweifelhaft als reinigende, aufklärende, befreiende Macht aufgefaßt und so vorausgesagt.
Sehr bezeichnend sagt im Laufe des Gesprächs der ehrbare Casanova, daß Chapelains La Pucelle, die ein schlechtes Gedicht zu nennen Voltaire sich erlaubt hat, mindestens nicht (wie eine gewisse andere Pucelle) dadurch um den Beifall der Leser buhlt, daß sie das Schamgefühl verletzt und die Frömmigkeit kränkt, und er verabschiedet sich, nachdem er seinem Wirt noch die angenehme Mitteilung gemacht hat, daß der Schweizer Schriftsteller, der sogenannte »große« Haller, über den sich Voltaire mit gebührender Achtung ausgesprochen hat, leider im Gespräch eine ähnliche Hochachtung für Voltaire nicht erkennen läßt. –
Etwas später wird Casanova noch verbitterter, weil Voltaire seine italienische Übersetzung der L'Ecossaise nicht einmal einigermaßen gut gefunden hat.
Er beendet seine Schilderung mit den folgenden höchst lehrreichen Worten:
Ich ging meines Wegs, zufrieden damit, wie ich törichterweise annahm, diesen Athleten an die Wand gedrückt zu haben. Zum Unglück blieb in mir ein Rest an schlechter Stimmung gegen diesen großen Mann, was mich volle zehn Jahre hindurch zwang, alles herabzusetzen, was aus seiner unsterblichen Feder kam. Jetzt bereue ich es, wenn ich auch bei der Durchsicht meiner Kritiken finde, daß ich oft recht gehabt habe. Ich hätte schweigen sollen, ihn achten und an meiner Urteilskraft zweifeln. Ich hätte bedenken sollen, daß ich ihn ohne seine Foppereien, um die ich ihn am dritten Tage haßte, in jeder Hinsicht erhaben gefunden hätte … Die Nachwelt, die mich lesen wird, wird mich mit unter die Zahl seiner Schmäher rechnen, und die Genugtuung, die ich dem großen Mann nun hier gebe, wird vielleicht nicht beachtet werden. Wenn wir uns nach dem Tode bei Pluto treffen … wird er mein Freund, werde ich sein aufrichtiger Bewunderer sein.
Diese Stelle legt ein bezeichnendes Zeugnis dafür ab, wie wenig dazu gehörte, um Voltaire – zur Strafe für die einem ihm unbekannten Fremden erwiesene Gastfreundschaft – eine zehnjährige, gehässige Verfolgung auf den Hals zu schaffen, und wie groß die liebenswürdige Ungezwungenheit war, mit der man sich in solchen Fällen freisprach und sich noch dazu als Lohn des hervorragenden Mannes Freundschaft zuerkannte – nach dem Tode.
Voltaire stand im Begriff, zum Kurfürsten von der Pfalz in Schwetzingen zu reisen, wohin ihn Geldgeschäfte riefen, als er höflich seine Abreise hinausschob, weil eine damals fast berühmte, heute vergessene Schriftstellerin, Madame Bocage, ihm ihren Besuch anzeigte. Sie war zu ihrer Zeit so beliebt, daß ihr Porträt mit der (lateinischen) Unterschrift erschien: »In ihrem Äußeren Venus, in ihrer Kunst Minerva«. Sie besaß den guten Geschmack, nichtsdestoweniger bescheiden und einfach im Auftreten zu sein.
Voltaire empfing sie mit einer Artigkeit, die so weit ging, daß er der schönen Frau sein eigenes gutes Bett abtrat, als sie sich bitter über die harten und schlechten Lager beklagte, die sie in den Wirtshäusern auf dem Wege von Paris nach der Schweiz gefunden hatte. Er konnte ihrer ganz unplastischen Kunst unmöglich Wert beilegen, aber er brachte ihrer Weiblichkeit und Schönheit seine Huldigung dar. Sie schreibt an ihre Schwester:
Mit der Feinheit, die man bei einem Mann von Herz findet, vereint er all das Reizende, das in gewählten und treffenden Umgangsformen liegt, all das Anziehende, das der Geist der Höflichkeit verleiht, und er kommt mir jünger, zufriedener und gesünder vor als vor seinem Aufenthalt in Preußen. Seine Gespräche haben nichts von ihrer Gefälligkeit verloren, und sein Geist, der sich freier fühlt, ist deshalb auch heiterer.
Der Kurfürst von der Pfalz hatte ihm seinen Beistand bei einer Ordnung seiner Vermögensverhältnisse versprochen, nach der ihm und seiner Nichte eine bedeutende Lebensrente ausgezahlt werden sollte. Der hohe Herr hielt sein Wort, erwies, nicht weniger als die andern deutschen Fürsten in seiner Nähe, Voltaire das herzlichste Entgegenkommen und die größte Gastfreundschaft. Auf dem Wege zum Kurfürsten hielt Voltaire sich einige Zeit in Karlsruhe beim Markgrafen von Baden-Durlach auf, dessen Gemahlin, Charlotte Luise von Hessen-Darmstadt, zu den feurigsten Verehrerinnen des Dichters gehörte. Der Aufenthalt in Schwetzingen hat für uns aus dem Grunde Interesse, weil nach einer Überlieferung, die nicht grundlos scheint, Voltaire hier die Niederschrift des Candide begann, und dem Kurfürsten die Kapitel vorlas, wie er sie beendete.
Schon lange hatte Voltaire seine Briefe scherzend: der Schweizer Voltaire unterzeichnet. Mit jedem Jahr, das vergangen war, war er mehr und mehr Schweizer geworden, Landmann und Gutsbesitzer.
Er hat seine kleine Eremitage Monrion bei Lausanne, mit der er fast nicht mehr rechnet, seit er sich in Lausanne selbst ein hübsches Haus mit fünfzehn Fenstern Front gekauft hat, so daß er von seinem Bett aus über den schönen Genfer See sehen kann und ganz Savoyen außer den Alpen vor Augen hat. Hunderte von Gärten liegen unter seinem Garten. Diesseits Savoyens auf der anderen Seite des Sees, in dessen Spiegel sich die Gärten abzeichnen, erheben sich die Alpen amphitheatralisch. Mit dieser Aussicht vor seinen Augen entbehrt er Potsdam nicht. Und sein Landsitz Les Délices ist ihm im Sommer ebenso lieb wie das Haus in Lausanne im Winter.
Doch er nimmt bald ganz andere und größere Erwerbungen vor, nicht aus reiner Erwerbslust, sondern im Interesse seiner Sicherheit.
Sobald er sich entschlossen hatte, sich für den Rest seiner Tage am Genfer See niederzulassen, mußte er aus den Erfahrungen, die er bis dahin gemacht hatte, die Folgerungen ziehen. Er hatte ja schnell entdeckt, daß es in Genf wie anderwärts Pastoren gab, und daß es nicht leichter war, mit protestantischen Pfarrern auszukommen als mit katholischen Priestern. Er hatte hier wie in Frankreich alle Arten Quälereien mit den Behörden gehabt. Er richtete sich dort ein wie ein Fuchs mit vielen Löchern und vielen Ausgängen aus jedem Loch.
Zwar war er Schweizer, durch und durch Schweizer; aber er kaufte sich den Herrensitz Ferney auf der anderen Seite der Grenze, und beim ersten Zusammenstoß mit den Herren in Genf war er dann in Ferney, wo er Franzose, durch und durch Franzose war, und wo sie ihm nichts antun konnten. Sollte dagegen das französische Ministerium einen seiner häufigen, unangenehmen Anfälle von Neugierigkeit bekommen, um zu erfahren, wer wohl der Verfasser dieser oder jener Flugschrift sein mochte, schwupp war er in Les Délices auf Schweizer Boden. Und da nichts so nützlich ist wie Macht und nichts so geachtet wird wie Macht, war es verständig, so viele kleine Schweizer Machthaber wie möglich sich zu Vasallen zu machen.
Dadurch daß er von dem Präsidenten de Brosses Tournay kaufte, ein Rittergut, das zwischen der französischen Grenze und Genf lag, erhielt er das Eigentum mit allen herrschaftlichen Rechten und Privilegien, die das Lehnsverhältnis mit sich führte. Tournay war eine Grafschaft, und es sind Briefe vorhanden, ein paar Stück, die Voltaire unterzeichnet hat: Comte de Tournay, zum größten Spaße Friedrichs, der ihn aus Schalkhaftigkeit auf verschiedenen Anschriften so nennt. Voltaire hat jedoch in einem der Briefe an Tronchin sehr unzweideutig die Annehmlichkeit für sich dargelegt, Männer zu Lehnsleuten zu bekommen, die begonnen hatten, Eingriffe in seine Ruhe vorzunehmen.
Mit dem Kauf von Ferney waren direkt wohl nicht so viele herrschaftliche Rechte verbunden, aber durch das Wohlwollen des französischen Ministeriums erlangte er Begünstigungen für Ferney, die den Rechten entsprachen, die er durch den Kauf von Tournay erwarb. Tournay war vernachlässigt, aber ausgedehnt, und Voltaire wollte es anbauen. Seine beiden großen Besitzungen reichten beinahe bis an Les Délices, so daß er sich »ein hübsches kleines Königreich in einer Republik« zusammengefügt und angepaßt hatte.
An Thiériot schreibt er (am 24. Dezember 1758) lustig: »Sie irren sich, alter Freund, wenn Sie glauben, ich hätte hier nur zwei Beine. Ich habe vier Pfoten statt zwei. Ein Bein habe ich in Lausanne, in einem sehr schönen Winterhaus, ein Bein in Les Délices bei Genf, wohin die gute Gesellschaft mich besuchen kommt. Die beiden sind meine Vorderbeine. Die Hinterbeine stehen in Ferney und in der Grafschaft Tournay, das ich in Erbpacht vom Präsidenten de Brosses gekauft habe.
Und der Vertrag über den Kauf von Ferney war noch nicht einmal unterzeichnet, bevor er seine zukünftigen Lehnsleute gegen einen Pfarrer verteidigte, der erklärt hatte, »sie bis zum Äußersten verfolgen zu wollen«, und bevor er sich schon der Wege in der Umgebung annahm, die andere seiner Lehnsleute pflichtwidrig vernachlässigt hatten. Alles, vom größten bis zum geringsten, war Gegenstand seiner Sorgfalt. Es fehlte ein Hengst in seinen Ställen in Les Délices, und er schrieb an den Marquis de Voyer, den Intendanten der königlichen Ställe, um einen ausgezeichneten Hengst für sein Gestüt zu bekommen. Allerlei Vergünstigungen erreichte er auch durch ein Wort der Madame de Pompadour an den Minister, den Herzog von Choiseul.
Nennt sich Friedrich in seinen Briefen während des ewigen Krieges »Don Quixote des Nordens«, so nennt Voltaire sich jetzt »der Alte vom Berge« (le vieux de la montagne) wie zu seiner Zeit das Haupt der Assassinen, doch »mit besserem Gewissen, da er niemanden ermordet«.
Alles in allem, tut er auf Schweizer Boden, was er vermag, um seine Unabhängigkeit nach jeder Seite zu sichern, und er genießt sie, als hätte er niemals etwas anderes erstrebt. Er hat entdeckt, daß vor allen anderen Gütern die Unabhängigkeit erstrebenswert ist.