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So gut Voltaire auch wußte, daß sein bloßer Name ein Grauen für die Anhänger Calvins war und so wenig er selbst ihre Unverträglichkeit und Beschränktheit schätzte, der Umstand, daß sein Name nun wie eine Flamme über ganz Europa leuchtete und daß die Protestanten in Frankreich und der Schweiz keinen anderen Beschützer hatten, verursachte eine allgemeine Pilgerung protestantischer Geistlicher nach dem Schloß in Ferney.
Das erste, was der unglückliche Chaumont, den Voltaire von der Galeere befreit hatte, sich vornahm, war, seinen Retter aufzusuchen und ihm zu danken. Sein Vergehen war ja gewesen, einen protestantischen Gottesdienst angehört zu haben – ein Genuß, den man ihm gegönnt haben konnte. Ein protestantischer Pfarrer, der uns die Szene beschrieben hat, führte ihn zu Voltaire:
Ich sagte ihm, daß ich einen kleinen Mann mitgebracht hatte, der sich ihm zu Füßen werfen wollte, da er ihm für seine Befreiung von den Galeeren danken wollte, und daß es Chaumont war, den ich im Vorzimmer hatte warten lassen und für den ich um Zulassung bat. Beim Namen Chaumont zeigte Herr de Voltaire heftige Freude und klingelte sofort. Niemals habe ich eine so komische und zugleich so erfreuliche Szene gesehen. – Wie, Sie armer, braver Mann, man hat Sie auf die Galeeren geschickt für das Verbrechen, zu Gott in schlechtem Französisch (nicht Lateinisch) gebetet zu haben. – Er sprach wiederholt seinen Abscheu vor Religionsverfolgungen aus. Er rief mehrere, die sich bei ihm befanden, damit sie den armen Chaumont sähen, der zwar seinen Verhältnissen nach nett gekleidet, aber doch vollkommen verdutzt war, sich derart gefeiert zu sehen. Selbst der Ex-Jesuit, den Voltaire zu sich genommen hat (Vater Adam), sprach Chaumont seinen Glückwunsch aus.
Zur selben Zeit war Voltaire bei den Jansenisten der Parlamente sehr schlecht angeschrieben. Nach seinem Auftreten für die Familie Calas war er Gegenstand des ernstlichen Hasses der Parlamente geworden. Wenige Tage, nachdem les maîtres des requêtes als höchste Instanz den verstorbenen Calas wieder zu Ehren gebracht hatten, ließ das Pariser Parlament Voltaires Dictionnaire philosophique vom Henker zerreißen und auf den Scheiterhaufen werfen.
In seiner Anklage hatte der Generaladvokat Omer Joly de Fleury sein Erstaunen darüber ausgedrückt, daß »unter einem Fürsten, der ständig versuchte, in seinem Volke die Wahrheit der religiösen Lehren und die reinste Moral zu behaupten (Ludwig der Fünfzehnte!) alle Religion, Moral, Ordnung, jede göttliche und menschliche Autorität zur Zielscheibe der ruchlosen Feder werden konnten, die ein Schriftsteller führte, der seine Ehre darin setzte, Menschen und Tiere auf dieselbe Stufe zu stellen.« Falls Fleury diesen Schriftsteller gekannt hätte, würde er die härteste Strafe gegen ihn beantragt haben.
Weit gefährlicher für Voltaire als die Ablehnung des Begriffes »Offenbarung« im Dictionnaire erwiesen sich die Anspielungen auf das Parlament; da stand z. B. im Artikel »Tyran«: »Es ist besser, mit einem einzelnen Tyrannen zu tun zu haben, als mit einer ganzen Schar kleiner Tyrannen.« – Was das Parlament auf sich bezog.
Es hatte den Wink des Generaladvokaten befolgt und eine Untersuchung angeordnet, wer der Verfasser des Dictionnaire sei. Da Voltaire längst erfahren hatte, daß »von allen Seiten das Gewitter gegen den Dictionnaire aufzog«, hatte er seine Verfasserschaft eiligst abgeleugnet, was natürlich bloße Form war, da ganz Frankreich den Urheber des Werkes kannte.
In dem nun aufziehenden La Barreschen Prozeß wurde der Dictionnaire in seiner ausführlichen Form wie in der kürzeren, Le Portatif betitelten, als Waffe gegen Voltaire und seine Anhänger benutzt.
In der Nacht vom 8. zum 9. August 1765 war ein Holzkruzifix, das auf dem Pont-Neuf in Abbeville stand, durch mehrere Schläge mit einem Stock oder Jagdmesser beschädigt, und zur selben Zeit war ein Kreuz auf dem Kirchhof Sainte-Cathérine durch Schmutz besudelt worden. Die kleine Stadt geriet in mächtige Aufregung und der Unwille war allgemein. Der Anwalt des Königs reichte eine Anklageschrift ein, damit eine Untersuchung nach den Urhebern eingeleitet und ein Monitorium im Interesse der Nachforschung erlassen wurde.
Geistlichkeit und Behörden baten den Bischof von Amiens, Louis de la Motte, nach Abbeville zu kommen, um im Verein mit ihnen für das Verbrechen Buße zu tun und den Zorn des Himmels abzuwenden. Barfuß mit einem Strick um den Hals ging der Bischof an der Spitze der Prozession, an der die ganze Stadt teilnahm. Er rief den Himmel an, die Schuldigen durch einen Strahl seiner Gnadensonne zu erleuchten, und flehte die Menschen an, die Schuldigen durch die schärfste Todesstrafe büßen zu lassen. Ein Ablaß auf vierzig Tage wurde jedem gewährt, der nach Abbeville zog, das mißhandelte Christusbild zu beschauen, das zur Sicherheit in die Kirche Saint-Vulfran gebracht worden war.
Bereits am Tage, nachdem der Umzug stattgefunden und die Gemüter in stärkste Aufregung versetzt hatte, wurde die zweite Klageschrift über das Vorgefallene auf Grund der Zeugenaussagen eines gewissen Belleval, Mitglied des Abbeviller Steuergerichts, eingereicht; darin war die gottlose Sprache, die von drei (noch ungenannten) jungen Männern geführt sein sollte, gerügt, die beschuldigt wurden, ohne zu knien oder zu grüßen an der Prozession zum Fronleichnamsfest vorübergegangen zu sein. Am 26. August wurden Haftbefehle gegen diese drei ausgestellt, die Herren de la Barre, d'Etallonde und Moisnel. D'Etallonde hatte klugerweise längst die Flucht ergriffen.
Jean François Lefevbre, Chevalier de la Barre, der Enkel eines Generalleutnants war, hatte einen Vater gehabt, der das Vermögen der Familie vergeudet und seinem Sohn nur eine mittelmäßige Erziehung gegeben hatte. Halberwachsen war er nach Abbeville gekommen, wo sich eine Verwandte, die Äbtissin von Willancourt, Madame de Brou, seiner angenommen, ihm Unterricht hatte erteilen lassen und versucht hatte, ihm eine Kavalleriekompagnie zu verschaffen. Er wohnte außerhalb der Abtei, aß aber bei seiner Tante, an der Tafel der Äbtissin, und führte bei ihr seine Freunde ein, die den vornehmsten Familien der Gegend angehörten. Die jungen Leute führten eine lustige und manchmal leichtfertig freie Sprache, was die Äbtissin durchaus nicht verletzte, sondern unterhielt.
In dem vorzüglichen Werk von Eduard Hertz: Voltaire und die französische Strafrechtspflege im achtzehnten Jahrhundert (Stuttgart 1887) verweilt der Verfasser, der alle Akten dieser Prozesse studiert hat (S. 247 ff.), bei No. IX der Akten (Capture du Sieur de Febure, Chevalier de la Barre) und schreibt:
»Belleval, der mit der Äbtissin ein Liebesverhältnis gehabt haben soll, jedenfalls aber im Salon der leichtlebigen Dame eine glänzende Rolle spielte, sah sich allmählich durch la Barre verdrängt und wurde nicht mehr zu den Gesellschaften der Äbtissin hinzugezogen. Als er sich aber deshalb bitter über la Barre äußerte, beleidigte ihn dieser auf offener Straße. Die Beschädigung des Kruzifixes war nun Belleval als gute Gelegenheit erschienen, sich an dem Chevalier zu rächen.«
Da es trotz aller Nachforschung nicht gelang, den Urheber dieses Verbrechens zu finden, fragte Belleval überall, wohin er kam, Dienstleute und überhaupt gewöhnliche Leute aus, um Unvorteilhaftes über La Barre aufzuspüren, und da er alle Welt an die Pflicht erinnerte, zu erzählen, was man zu wissen glaubte, wie es das Monitorium ans Herz legte, hatte er bald heraus, daß man La Barres Namen in Zusammenhang mit dem Mangel an Achtung brachte, der der Fronleichnamsprozession erwiesen worden war. Nun bearbeitete er die Zeugen gründlich und nannte dem Gericht ihre Namen, so daß sie vorgeladen werden konnten.
Moisnel, der nur sechzehn oder siebzehn Jahr alt war, war verdächtig, mit La Barre und d'Etallonde zusammen gewesen zu sein, als diese an der Prozession vorbeigingen; auch er hatte nicht gekniet, aber er hatte den Hut unterm Arm getragen. Das einzige, was er von Anfang an über seine Gefährten gestand, war also deren Gleichgültigkeit für den geistlichen Umzug.
Beim zweiten Verhör war der Junge durch den Gefängnisaufenthalt und die Angst vor einer möglichen Hinrichtung so eingeschüchtert worden, daß er Kraut und Rüben durcheinander erzählte, sich selbst und seine Genossen mit größter Ausführlichkeit anklagte. In der Zwischenzeit hatte sich nämlich Belleval, der sein Vormund war, Zugang zum Gefängnis verschafft, ihm Vorwürfe wegen seiner anfänglichen Zurückhaltung gemacht und ihn zur Angeberei gegen La Barre aufgehetzt.
Moisnel äußerte nun tiefe Reue über sein Vergehen; die Religion hatte ihm stets am Herzen gelegen. Er beschuldigte La Barre, in seiner Gegenwart auf Heiligenbilder gespien zu haben, beschuldigte La Barre und d'Etallonde ein gewisses unanständiges Lied La Madeleine gesungen zu haben und räumte ein, daß er selbst zwei ähnliche Lieder gesungen hatte, deren Strophen er überdies auswendig zu Protokoll aufsagte.
Er gestand, daß La Barre ihm sowohl Voltaires Lettres philosophiques wie das Gedicht Epître à Uranie geliehen habe. Von d'Etallonde behauptete er, daß er gesehen habe, wie dieser das Kruzifix auf der Brücke mit seinem Stock schlug; dieser hatte auch das Kreuz auf dem Kirchhof besudelt. Moisnel bat um Verzeihung, daß er nicht beim ersten Verhör sofort alles gebeichtet hatte. Zwei junge Männer, die ebenfalls von Moisnel beschuldigt wurden, unanständige Lieder gesungen zu haben, hatten sich inzwischen durch die Flucht gerettet.
Diese Darstellung ist (im wesentlichen von Voltaire selbst 1766 gegeben in seiner Relation de la mort du Chevalier de la Barre par M. Cassen, avocat au conseil du Roi. Hier dreht sich alles um das Vorgehen Bellevals, dessen voller Name Dumaisniel de Belleval war, und von dessen amtlicher Stellung Voltaire schreibt: » Il est lieutenant d'une espèce de petit tribunal qu'on appelle l'élection, si on peut donner le nom de tribunal à une compagnie de bourgeois uniquement préposés pour régler l'impôt appelé la taille.«
Über ihn schreibt Eduard Hertz: »Indem Belleval durch sein Auftreten gegen Moisnel La Barre zu verderben trachtete, schadete er sich selbst. Moisnel hatte nämlich bei seinem zweiten Verhör auch ausgesagt, Douville de Maillefeu und Bellevals Sohn Pierre François Dumaisniel de Saveuse hätten gleichfalls die zwei Zotenlieder »La Madeleine« und »Saint-Cyr« in seiner Gegenwart gesungen, und in Folge dieser Aussage waren am 30. Oktober auch Haftbefehle gegen diese beiden erlassen worden. Dieselben wußten zwar ihre Person durch Flucht in Sicherheit zu bringen, ihr Name wurde jedoch mit in die Untersuchung verwickelt.«
Indessen hat Voltaire in einer späteren Ausgabe des Prozesses von 1775 teilweise eine andere Person die Rolle spielen lassen, die hier Belleval allein zugefallen ist. Da schreibt er (indem er den neuen Namen nicht ganz richtig buchstabiert):
»Ein gewisser Soucourt, eine Art Jurist in Abbeville, war gegen die Äbtissin verbittert, weil er von ihr für seinen Sohn ein reiches und vornehmes Fräulein erbeten hatte, sie aber dieses, das Pensionärin ihres Klosters war, an einen anderen verheiratet hatte. Soucourt hatte eben einen Prozeß verloren gegen einen Bürger in Abbeville, Vater eines der jungen Menschen, die in die gräßliche Rechtssache des Chevalier de la Barre verwickelt waren. Soucourt suchte sich zu rächen. Er hatte den ganzen Fanatismus des Capitoul David in Toulouse, des Hauptmörders von Calas, und er fügte zu diesem Fanatismus die Heuchelei.« (Der volle Name des Mannes war Nicolas Pierre Duval, sieur de Soicourt und seine Titel waren lieutenant particulier assesseur criminel en la sénéchaussée de Ponthieu et sièze présidential d'Abbeville.)
Wo in der früheren Ausgabe Voltaire von der Rachlust Bellevals erzählt hat, schreibt er in der späteren über die Rachlust Soicourts: »Der Herr Soucourt begann zuerst den Chevalier bei dem Bischof von Amiens anzuklagen, sich als Mädchen verkleidet in ein Kloster Eintritt verschafft zu haben, und er erfuhr, daß der Ritter de la Barre und der junge Etallonde, der Sohn des Präsidenten der Election kürzlich vor einer Prozession passiert waren ohne den Hut abzunehmen.«
In der weiteren Darstellung kehrt jedoch Voltaire zu Belleval als dem Haupturheber des Prozesses zurück. Er schreibt, den Leser ein wenig verwirrend: »Als der Prozeß angefangen hatte, strömten eine Menge von Angebern zusammen. Jedermann sagte, was er gesehen hatte, oder was er glaubte, gesehen zu haben, was er gehört hatte, oder was er glaubte, gehört zu haben. Wie groß aber war Bellevals Erstaunen, da die Zeugen gegen den Chevalier de la Barre, die er selbst geführt hatte, seinen eigenen Sohn angaben als einen der Hauptschuldigen in den verborgenen Ruchlosigkeiten, die man ans Tageslicht ziehen wollte! Belleval wurde wie von einem Blitzstrahl getroffen; er ließ sogleich seinen Sohn entschlüpfen, aber, was fast unglaublich klingt, er verfolgte deshalb nicht mit weniger Eifer diesen abscheulichen Prozeß.«
Es scheint, daß es Voltaire in der Entfernung schwierig gewesen ist, dem psychologischen Ursprung des Prozesses auf den Grund zu gehen und als habe er zwischen zwei Urhebern geschwankt.
Im Laufe des Prozesses wurden eine ganze Reihe gesetzwidriger Handlungen vorgenommen.
Nach einer Verfügung vom 8. Oktober 1765 wurden die beiden Klageschriften als eine behandelt statt jede für sich, was juristisch ungeheuerlich war. Dadurch sah es aus, als ob sich alle Angeklagten der Beschädigung des Kruzifixes schuldig gemacht hätten, und als ob sie eine Art Bande bildeten ungefähr wie die Bilderstürmer zu ihrer Zeit. Und zwar beging der Assessor in Abbeville, Duval de Soicourt, aus Gehässigkeit gegen die Äbtissin diese Gesetzwidrigkeit. Allein wegen dieser unfreundlichen Beziehung hätte er sein Amt niederlegen müssen; denn La Barre war der geliebte Neffe der Äbtissin, und alle anderen Angeklagten waren die nächsten Verwandten des Nebenbuhlers seines Sohnes bei dem Mädchen.
Eine andere Gesetzwidrigkeit wurde dadurch begangen, daß Soicourt als Beisitzer des Gerichts einen gewissen Broutel aufnahm, eine höchst berüchtigte Person, der sich als Advokat ausgab, es aber nicht war. Als Ersatzmänner durften nämlich in erster Linie nur Advokaten aufgenommen werden. Broutel aber war, wie Voltaire behauptet, ursprünglich Schweinehändler.
Alle diese Gesetzwidrigkeiten beging Soicourt, weil er aus einem Briefe des Marschalls von Soubise, den dieser im Namen des Königs an ihn gerichtet, ersehen hatte, daß man bei Hofe La Barre und seinen Genossen höchst ungünstig gesonnen war. Bei jeder Gelegenheit machte sich in der damaligen Zeit Ludwigs des Fünfzehnten ungewöhnliche Frömmigkeit geltend, und manchmal gab sie sich unheilschwangeren Ausdruck.
Es wäre peinvoll, all die jugendlich leichtfertigen Aussprüche und Handlungen aufzuzählen, die eine lange Reihe von Zeugen La Barre zuschob, und mit denen sie ihn überwältigte. Es drehte sich um häßliche Redensarten über heilige Dinge.
La Barre gestand, zusammen mit d'Etallonde an der Prozession mit dem Hut auf dem Kopf vorbeigegangen zu sein. Sie hatten jedoch Gott nicht lästern wollen, sondern es nur getan, um die Äbtissin nicht dadurch zu verletzen, daß sie zu spät zum Essen kamen. Als man ihm vorhielt, daß es keine sonderliche Zeit beansprucht hätte, den Hut abzunehmen und niederzuknien, räumte er ein, daß er vielleicht nicht richtig gehandelt hätte.
Daß er schlecht von der heiligen Jungfrau gesprochen habe, erklärte La Barre für möglich; aber er müsse da betrunken gewesen sein. Die irreligiösen Äußerungen, die ihm in den Mund gelegt wurden, würden vermutlich aus La Pucelle und Epître à Uranie stammen, die man Herrn de Voltaire zuschrieb. Er gab zu, einmal bei einem Zechgelage die von Moisnel angegebenen schlüpfrigen Lieder gesungen zu haben; gestand auch, daß er Pirons Ode à Priape vorgetragen und vor einigen leichtfertigen und gottlosen Büchern, die auf seinem Sims standen, mit den Worten gekniet habe, das müsse man tun, wenn man am Tabernakel vorbeiginge. Das war jedoch im Scherz geschehen. Er leugnete bestimmt, an der Besudelung des Kreuzes auf dem Kirchhof wie an der Beschädigung des Kruzifixes den geringsten Anteil zu haben. Nachdem er zunächst erklärte hatte, von dem Urheber durchaus nichts zu wissen, gestand er, daß ihm d'Etallonde eines Tages, als er zu ihm kam um sein Jagdgewehr zu leihen, erzählt hatte, daß er dem Kruzifix einige Hiebe mit seinem Jagdmesser versetzt hatte.
Es kann für bewiesen angesehen werden, daß sich La Barre wie so viele junge Männer der damaligen Zeit gern über die Lehren der katholischen Kirche lustig machte, und daß er einige der Spottlieder auf die christliche Mythologie gekannt und gesungen hat, die unter jungen Militärs im Schwange waren; dagegen ist es zweifelhaft, ob er bei seiner Jugend bereits so tüchtig war, wie Voltaire behauptet, und kriegswissenschaftliche Werke von Friedrich dem Großen und Moritz von Sachsen las und kommentierte.
Sein Unglück wurde jedoch besonders die Büchersammlung, die er besaß, da man damals in Frankreich, wie zur Zeit des Zartums in Rußland, die Menschen für die Bücher, die sie besaßen, bestrafte, wobei man naiv und gehässig von den Büchern auf die Sinnesart des Besitzers schloß. Nun zeigte es sich, daß La Barre kirchlich indifferente oder kirchenfeindliche Bücher wie Voltaires Dictionnaire philosophique, Helvetius' De l'Esprit und einige andere besessen hatte, dann verschiedene der frivolen Romane der damaligen Zeit wie Thérèse philosophe, Le Portier des Chartreux, La Religieuse en chemise usw., was ja nach modernen und gesunden Begriffen nicht nur keine Todsünde war, sondern die Staatsgewalt gar nichts anging. Seine verständige Verwandte, Madame de Brou, begriff, in welche große Gefahr diese Bücher ihren Liebling bringen konnten, und hatte befohlen, sie sofort bei seiner Verhaftung zu verbrennen, aber ein Mönch namens Schmid war bubenhaft genug, den Befehl nicht auszuführen. Er lieferte verschiedene leichtfertige Romane aus, wie Le Sultan Misopouf et la Princesse Grisemine, Le Cousin de Mahomet usw., außerdem Voltaires Le Portatif.
Das wird wenigstens behauptet. Es ist schwer, heutzutage die Wahrheit nachzuprüfen. Voltaire, der mit Recht gegen die klerikalen Ränke auf dem Posten war, hatte bereits von Anfang an, als er von der Sache hörte (1. Juli 1766), die Verlogenheit der Behauptung hervorgehoben, daß die jungen Männer, die man der Heiligtumsschändung anklagte, von den Philosophen und Encyklopädisten inspiriert waren, da diese sämtlich Gehorsam gegen das Gesetz lehrten, und war auch nach genauer Kenntnis des Prozesses von der Unwahrhaftigkeit der Anklage überzeugt. Am 18. August 1766 schrieb er an Damilaville:
Sie haben gelogen, die niederträchtigen Welschen; sie haben gelogen, diese Mörder im Richter-Ornat. Ich kann Ihnen in diesem Brief mit Sicherheit das sagen: es ist ein ausgesuchter Schurkenstreich, daß man den Dictionnaire philosophique für Le Portier des Chartreux unterschiebt, den man wegen der Lächerlichkeit nicht zu nennen gewagt hat. Mit unwiderlegbarer Sicherheit weiß ich, daß niemals ein philosophisches Buch in den Händen des unglücklichen jungen Mannes war, den man so unwürdig ermordet hat.
Grimm und Diderot behaupten dasselbe, obgleich es den Akten des Falles widerspricht. Einmal räumt La Barre dort ein, den Dictionnaire besessen zu haben, und dann scheint man ihn auch in seinem Zimmer gefunden zu haben. Jedoch ist hier Anlaß genug zu fragen: und was ist dabei?
Tatsächlich hat La Barre kein Kruzifix berührt und tatsächlich hat ihn der Dictionnaire an keiner Stelle dazu aufgefordert. Man ersieht daraus am besten, daß die Richter das Werk nicht gelesen haben. Sonst würden sie wissen, in welchem Tone es – wie kürzlich gezeigt – über Jesus spricht.
Der nächste Punkt, der während des Prozesses Aufsehen erregte, war, daß der arme Junge Moisnel gegen Schluß der Untersuchung alle seine Anklagen und Angebereien zurücknahm und erklärte, daß er sie unter dem Druck eines seelischen Zwanges, den das Gericht (d. h. Belleval) auf ihn ausübte, ausgesagt hatte. Nichtsdestoweniger lautete der Antrag des königlichen Anwalts (vom 26. Februar 1766) dahin, daß d'Etallonde zu köpfen, seine Leiche zu verbrennen sei; La Barre solle gepeitscht, gebrandmarkt und zu lebenslänglicher Galeerenstrafe verurteilt werden. Moisnel solle eine geringe Buße von 150 Francs zahlen, und d'Etallonde in contumaciam verurteilt werden.
Das Senechallurteil vom 28. Februar 1766 ging noch viel weiter: d'Etallonde, der keine volle achtzehn Jahre alt war, wurde in contumaciam als schuldig erkannt, »in ruchloser Weise in einem Abstand von fünfundzwanzig Schritt mit bedecktem Haupt und ohne niederzuknien an einer Prozession vorbeigegangen zu sein, die das Allerheiligste trug, weiter, daß er von einem gewissen Beauvarlet ein Gipskruzifix hatte kaufen wollen, um es zu zerschlagen und mit den Füßen zu zertreten, weiter, daß er abscheuliche Gotteslästerungen ausgestoßen und zwei ruchlose Lieder, die Gott, die heilige Jungfrau und gewisse Heilige verspotteten, gesungen habe, und schließlich, daß er einen Schlag gegen das auf dem Pontneuf aufgestellte Kruzifix gerichtet habe«. Zur Strafe dafür wurde er verurteilt, vor dem Hauptportal der St. Vulfrans-Kirche Kirchenbuße zu tun. Um den Hals sollte er eine Inschrift tragen: Verfluchter und verabscheuter Gotteslästerer und Kirchenschänder. Danach sollte ihm die Zunge herausgerissen und seine Hand abgehackt und er lebendig verbrannt werden. Seine Asche sollte in alle Winde gestreut, sein Vermögen eingezogen werden.
Da er geflohen war, sollte das alles mit einem Bilde von ihm vorgenommen werden.
La Barre wurde für überführt erklärt, in ruchloser Weise und absichtlich mit bedecktem Kopf und ohne niederzuknien an einer Prozession vorbeigegangen zu sein, die das Allerheiligste trug, abscheuliche Verhöhnungen Gottes, des heiligen Abendmahls, der heiligen Jungfrau, der Religion, der Gebote Gottes und der Kirche ausgestoßen, die beiden in den Akten angeführten entsetzlichen gotteslästerlichen Lieder gesungen, Ehrfurcht vor den infamen und schmutzigen Büchern, die auf seinem Bücherbrett standen, gezeigt, ja, sie unter Kniebeugung angebetet, das Zeichen des Kreuzes unter schmutzigen Äußerungen geschlagen, das Meßopfer verspottet, und in unwürdigen Ausdrücken einen gewissen Pétignot aufgefordert zu haben, die Meßgefäße zu segnen.
Dafür sollte auch er vor dem Hauptportal der Domkirche öffentliche Kirchenbuße tun; dann sollte ihm die Zunge herausgerissen und er sollte auf dem Marktplatz geköpft werden. Kopf und Körper sollten auf einen Scheiterhaufen geworfen und zu Asche verbrannt werden. Vor der Hinrichtung sollte er aber die gewöhnliche und die außerordentliche Tortur überstehen, damit die Wahrheit erforscht werden könne. Sein Vermögen sollte eingezogen werden. Der bei La Barre gefundene Dictionnaire philosophique sollte auf denselben Scheiterhaufen geworfen werden, der die Leiche verbrannte.
Im Pariser Parlament, vor das die Angelegenheit nun kommen mußte, hatte La Barre einen Verwandten, den Präsidenten d'Ormesson. Er hatte die Aktenstücke des Prozesses gelesen und geäußert, daß die Bestätigung des Urteils undenkbar sei; die Advokaten sollten aber nur davon abstehen, Eingaben für den Angeklagten einzureichen; das würde nur Anlaß zu Gerede und Diskussionen geben; die Angelegenheit müsse in Stille aus der Welt geschafft werden.
Es scheint, als ob d'Ormesson unehrlich war. Unter geistlichem Einfluß gelang es ihm, alle Schritte zugunsten La Barres zu verhindern, und dadurch der »Rache des Himmels« freien Lauf zu sichern. In aller Heimlichkeit ging die Sache vor sich und die Öffentlichkeit, die durch eine Agitation vielleicht ihrem Zorn über die Sinnlosigkeit des Prozesses Ausdruck gegeben hätte, blieb stumm. Der Referent Pelliot stellte jedoch den Antrag auf Freispruch infolge der Jugend des Angeklagten und »der Umstände des Falles«.
Aber nun erhob sich der Parlamentsrat Pasquier und forderte die Bestätigung des Urteils von Abbeville. Es galt, der immer frecheren und sich immer weiter verbreitenden Gottlosigkeit, an der die neuere Philosophie Schuld hatte, einen Riegel vorzuschieben. Ein Mann trug die Hauptschuld an all dem, da er der anerkannte Führer der Philosophen, und also der Urheber der Schändung in Abbeville war, und dieser Mann hieß Voltaire. Pasquier beschwor das Parlament, ein Exempel zu statuieren.
Die hohe Versammlung sollte das in ihrem eigenen Interesse tun; denn da sich das Parlament kürzlich den Jesuiten und der mit ihnen verbundenen höheren Geistlichkeit gegenüber feindlich gesonnen gezeigt hatte, müsse es die Gelegenheit ergreifen, seinen Eifer für die Religion zu beweisen.
Die Rede machte Eindruck und veranlaßte eine bedeutende Anzahl Mitglieder, anders zu stimmen, als sie sich zuerst gedacht hatten. Vergebens sprach der Generalanwalt Guillaume Joly de Fleury (ein Bruder Omers) gegen die Bekräftigung des barbarischen Urteils. Am 4. Juni 1766 wurde es mit fünfzehn gegen zehn Stimmen bestätigt. Da man sechs Tage lang unterließ, das Urteil zu unterzeichnen, scheint man allerdings auf eine königliche Begnadigung gewartet zu haben. Der fromme Ludwig war jedoch nicht gesonnen, die himmlischen Mächte ungerächt zu lassen.
La Barre wurde in einem Postwagen von Paris nach Abbeville gefahren, um dort mißhandelt und hingerichtet zu werden. Man fuhr auf Umwegen, da man Unruhen fürchtete, und fuhr langsam, da man dem Kurier, der vielleicht die Begnadigung brachte, Zeit lassen wollte, heranzukommen. Aber es gab keine Unruhen und es kam keine Begnadigung.
Der neunzehnjährige junge Mann starb wie ein Held, bewahrte Mut und Fassung bis zum Schluß. Als Seelsorger hatte man ihm einen Dominikanermönch gegeben, den er oft in der Abtei der Madame de Brou getroffen hatte. La Barre bat ihn, ehe er zur Tortur und Hinrichtung geholt werden sollte, sich mit ihm zu Tisch zu setzen, aß sein halbes Huhn und trank seine Flasche Wein. »Nun wollen wir Kaffee trinken, sagte er ruhig zu Vater Bosquier, der wird mich ja am Schlafen nicht hindern.«
Auf seinem letzten Wege berührte ihn am schmerzlichsten, daß er in dem ungeheuren Andrang von Neugierigen, die das Schauspiel genießen wollten, auch die gierige Lust in den Augen vieler Bekannten sah. Er sagte: »Das Schlimmste für mich ist heute, daß ich in den Fenstern Leute sehe, die ich für meine Freunde hielt.«
Als er vor das Portal der St. Wulframs-Kirche geführt wurde, weigerte er sich auf das entschiedenste, öffentliche Abbitte zu leisten, und man sah sich genötigt, einen anderen die Zeremonie für ihn vornehmen zu lassen. An diesem Platze sollten ihm die Henkersknechte die Zunge herausreißen. Aber er drohte, so verzweifelten Widerstand zu leisten, daß man sich damit begnügte, so zu tun, als ob man sie herausrisse. Mit derselben festen und entschlossenen Haltung legte er den Weg zum Schafott zurück. Als er die Stufen hinaufschritt, verlor er einen der Pantoffel, die man ihm auf die Füße gezogen hatte. Trotz der Fesseln, die seine Arme und Beine umschnürten, ging er wieder herab und nahm ihn auf den Fuß. Als er auf dem Schafott ankam, sagte er: »Ich hatte nicht geglaubt, daß man einem jungen Edelmann wegen so geringfügiger Dinge das Leben nehmen würde.«
Es waren fünf Henker aus fünf verschiedenen Städten geholt worden. Einer von ihnen näherte sich ihm, um ihm das Haar zu schneiden. »Wozu?«, sagte La Barre; »Will man mich zum Chorknaben machen?«
Als er das Scharfrichterschwert sah, unter dem sein Haupt fallen sollte, sagte er: »Ist deine Waffe gut? Hast du dem Grafen de Lally den Kopf abgeschlagen?« – Ja, Herr! – »Du hast ihn ja gefehlt!« – Er hielt sich schlecht. Nehmen Sie eine richtige Stellung ein und ich will Sie nicht verfehlen. – »Sei unbesorgt, ich werde mich gut halten und nicht kindisch sein.«
Er hatte vorher die gewöhnliche wie die außerordentliche Tortur überstanden und hatte hartnäckig geleugnet, was man besonders von ihm eingestanden haben wollte, seine Mitschuld an der Beschädigung des Kruzifixes auf der Brücke. Und er blieb bis zum letzten Augenblick fest, verband sich selbst die Augen und legte sich so, daß er dem Scharfrichter die Arbeit erleichterte. Als der Henker geschickt sein Haupt abschlug, wurde er durch allgemeinen Applaus der Volksschar und aus allen Fenstern belohnt.
Der Körper wurde zusammen mit Voltaires Dictionnaire philosophique portatif in die Flammen geworfen, und die Asche in den Wind gestreut.
Irgendein tiefergehender Unterschied zwischen der Entwickelungsstufe der Hottentotten und dieser Franzosen von 1766 läßt sich schwerlich entdecken. Die Religion hatte den Unterschied verwischt.
Da die übrigen Angeklagten, alle unter siebzehn Jahre alt, deren Verurteilung nur aufgeschoben war, nun nach La Barres Hinrichtung in die größte Gefahr gerieten, und da der Prozeß von Ungesetzlichkeiten wimmelte, veröffentlichte der Advokat Linguet zum Besten dieser eine Eingabe, und sieben andere angesehene Advokaten unterzeichneten außer ihm das Dokument. Hierin stand, daß 1. weder Duval de Soicourt noch Broutel als Richter hätten fungieren dürfen, 2. daß die Verfügung vom 8. Oktober 1765 gesetzwidrig sei, 3. da Moisnel sein Geständnis als erzwungen widerrufen hatte, liege keinerlei Beweis gegen die Angeklagten vor. – Als das Pariser Parlament Miene machte, gegen die acht Advokaten vorzugehen, und als dessen erster Präsident Maupeou ihnen heftige Vorwürfe machte, erklärten sich sämtliche Advokaten solidarisch mit den acht und bereit, die Advokatur niederzulegen. Vor Schreck gab das Parlament sein Vorhaben auf. Aber Linguets Schrift machte auf das Publikum keinen Eindruck. Es waren nämlich nur wenige Exemplare verkauft worden, da das Parlament die ganze Auflage aufgekauft hatte. So blieb in Paris La Barres Prozeß kaum beachtet, und in Abbeville fand man es nach Durchsicht der Eingabe Linguets am klügsten, Moisnel und die anderen, die ungehörige Lieder gesungen hatten, einfach freizusprechen.
Linguets Verhalten war insofern auffallend, als er einer der schlimmsten Feinde der Philosophen war. Er hatte 1764 eine Schrift Le Fanatisme des Philosophes herausgegeben, in der er unter Hinweis auf Alexander den Großen und Nero behauptete, daß Fürsten, die von Philosophen erzogen worden waren, stets Ungeheuer wurden. Über Leibniz hatte er dabei gesagt, daß »er verdiente, in ein Irrenhaus gesperrt zu werden«. – Noch sonderbarer war es, daß auch Muyart de Vouglans Name unter der Eingabe stand; denn auch er war nicht nur ein leidenschaftlicher Feind der Philosophen jener Zeit und entschieden rechtgläubig, sondern er hat später in seinem Buche Lois criminelles La Barres Urteil für eins erklärt, »das dem Eifer und der Frömmigkeit der Richter die größte Ehre machte«.
Linguet war ein Fanatiker, der trotzdem das Urteil über La Barre wahnsinnig gefunden hat, Muyart muß entweder nicht gelesen haben, was er unterschrieb, oder (wie man es in unserer Zeit so häufig beobachtet) sich im Laufe der Jahre so verändert haben, daß er nur dem Namen nach derselbe Mensch war.
Voltaire wurde durch La Barres Hinrichtung in die heftigste Aufregung versetzt. Am 12. Juli schrieb er, damit die Zensur ihn nicht verstände, an d'Argental: »Mein Herz ist zerrissen; ich halte nichts von einem Felix, der auf unmenschliche Weise und unter ausgesuchten Qualen einen Polyeucte und Nearch hinrichten läßt (Corneilles Polyeucte) … Es gibt Zuschauer, die solche Stücke durchaus nicht leiden können. Ich denke, Sie gehören zu der Zahl dieser, besonders nachdem ich die vortreffliche Abhandlung Über Vergehen und Strafe gelesen habe.«
Hier ist die Rede von einem Werk des italienischen Marchese Cesare de Beccaria (1738-1794). Er ist der Verfasser des erwähnten berühmten Buches, in dem er als Schüler Voltaires die Tortur verdammte und das Strafrecht im humanen Geiste reformierte. Voltaire veröffentlichte darüber pseudonym als ein Provinzadvokat 1766 seine große Abhandlung Commentaire sur le livre des délicts et des peines.
Ein tiefer Abscheu hatte Voltaire vor dem Parlamentsrat Pasquier ergriffen, der die Unbesonnenheit des jungen Mannes auf ihn persönlich und auf seine Schriften zurückgeführt hatte. D'Alembert hatte ihn (am 16. Juni 1766) gefragt, ob er sich eines gewissen Pasquier erinnerte? Man pflegte zu sagen, sein Kopf gliche einem Kalbskopf, dessen Zunge sich zum Braten eignete. – Voltaire antwortet, daß er Pasquier in Paris gesehen habe und schreibt (am 23. Juli 1766) an D'Alembert: »Ja, ich kenne ihn, das Ochsenmaul mit dem Tigerherzen der für sein Wüten das Los verdiente, das man einigen leichtsinnigen jungen Leuten bereitet hat.«
Es kam Voltaire vor, als wäre er in effigie auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden, der den Körper des armen La Barre verzehrt hatte. Er hatte alles zu fürchten, falls das Parlament ihn in seine Gewalt bekäme. Welch ein Streich, wenn man ihn verhaften und einen Prozeß wegen Gotteslästerung oder dergleichen gegen ihn eröffnen konnte! Welche Freude für das Parlament, das Haupt der Freidenkerei zu packen und diese in seiner Person ins Herz zu treffen.
Er war übrigens in aller Naivität über die Indiskretion der »Brüder« erzürnt. Wie hätte man außer von ihnen erfahren können, daß er der Verfasser des Dictionnaire philosophique war! Es war und blieb seine fixe Idee, daß er ohne das gedankenlose Aus-der-Schule-plaudern dauernd unerkannt geblieben wäre. Ich kann, schreibt er (18. August 1766) an Damilaville, mein lieber Bruder, heute nicht wie sonst schließen Ecr. l'inf …; denn l'inf … ecr. uns.
Er hatte zu den Bädern bei Rolle in der Schweiz seine Zuflucht genommen; er fühlte sich auf französischem Boden stets unsicher und er dachte ernstlich daran, nicht nur Frankreich zu verlassen, sondern die hervorragendsten Männer der philosophischen Partei dazu zu bewegen, es wie er zu machen. Er wollte D'Alembert, Diderot, Holbach und Damilaville bewegen, gleichzeitig aufzubrechen, und er wandte sich um Zuweisung einer Zufluchtsstätte an seinen früheren Beschützer Friedrich den Großen. Dieser antwortete im Juli (ohne Datum): »Ich ersehe mit Verwunderung aus Ihrem Brief, daß Sie daran denken, sich einen anderen Ruheort als die Schweiz zu wählen, und daß Sie an die Gegend bei Cleve denken. Dies Asyl steht Ihnen jederzeit offen. Wie könnte ich das einem Manne abschlagen, der der Literatur, seinem Vaterland, der Menschheit, seinem Jahrhundert so zur Ehre gereicht! Sie können ohne Anstrengung von der Schweiz nach Cleve reisen; falls Sie in Basel an Bord gehen, können Sie die Reise in vierzehn Tagen machen, ohne aus dem Bett aufzustehen.«
D'Alembert, der Voltaire über den ganzen Rechtsfall unterrichtet und ihm mitgeteilt hatte, daß selbst der päpstliche Nuntius über die Barbarei des Urteils empört war, das sogar bei der Inquisition in Rom unmöglich sein würde, hatte außerdem geschrieben, daß er an die ganze Sache nicht mehr denken wolle, sondern sich damit abfinde, das Ganze so lächerlich zu finden, wie es war (Je ne veux plus parler de tout cet autodafé, si honorable à la nation française, car cela me donne de l'humeur, et je ne veux que me moquer de tout).
Ehe er jedoch den Brief bekam, hatte Voltaire an D'Alembert geschrieben: »Ich begreife nicht, wie denkende Wesen in einem Lande leben können, das von Affen bewohnt wird, die sich so oft in Tiger verwandeln. Ich meinerseits schäme mich, nur an der Grenze zu wohnen. Wahrlich, jetzt ist der Augenblick gekommen, seine Fesseln zu zerbrechen, und den Eindruck des Grauens, von dem man erfüllt ist, in eine andere Gegend zu tragen … Es ist nicht mehr Zeit zu scherzen; Witze passen nicht zu Mordtaten … Ist es das Heim der Philosophie und des Gefallens? Es ist das Land der Bartholomäusnacht.«
Friedrich, der so lange Zeit in Voltaires Korrespondenz Luc genannt worden war, war nun wieder Bruder Friedrich geworden. Seine Briefe vom 7. August und 13. September sind wohl wert, daß man sie liest. Er beneidet seinen Neffen, den Herzog von Braunschweig, der Voltaire in Ferney besucht und ihn hat sprechen hören. Er erörtert den Plan zu einer Philosophenkolonie in Cleve. Sie sollen willkommen sein, nur dürfen sie nicht erwarten, Wälder zu finden; die haben ihre Landsleute, die Franzosen, niedergeschlagen und verbrannt; und sie müssen friedlich und tolerant sein, nicht den Glauben der Einwohner verletzen, da sie selbst das Verlangen stellen, volle Freiheit zu genießen. »Der Durchschnittsmensch verdient nicht, daß man ihn aufklärt … Wenn die Philosophen eine Regierung bildeten, so würde sich nach Verlauf von hundertfünfzig Jahren das Volk einen neuen Aberglauben schmieden, und entweder kleine Abgötter oder die Gräber anbeten, in denen seine großen Männer begraben lägen, oder sie würden die Sonne anrufen oder ähnlichen Unsinn begehen. Der Aberglaube ist eine Schwäche des menschlichen Geistes, die mit diesem verbunden ist; er hat stets existiert, wird stets existieren.« Die Strafen in Abbeville seien barbarisch gewesen, Friedrich würde die Strafe sich nach dem Vergehen richten lassen. Wenn einer eine Statue beschädigte, würde er ihn verurteilen, sie instand setzen zu lassen. Wenn einer Voltaires Werke läse, würde er ihn verurteilen, des heiligen Thomas von Aquino Summa theologica (acht Bände) zu studieren. Der Leichtfertige würde so wahrscheinlich strenger bestraft sein als von seinen Richtern; denn die Langeweile dauert ein Jahrhundert, das Sterben einen Augenblick.
Voltaires Plan hatte keinen Erfolg. D'Alembert zeigte sich nicht gesonnen, Paris zu verlassen, und vergeblich schickte Voltaire (ohne Unterschrift) den folgenden eindringlichen Brief an Diderot, in dem aus Vorsicht keine Namen genannt sind.
Man kann nicht vermeiden, an Sokrates zu schreiben, wenn Melitus und Anitus sich im Blut baden und den Scheiterhaufen anzünden. Ein Mann wie Sie muß mit Entsetzen auf dieses Land sehen, in dem zu leben Sie das Unglück haben. Sie sollten in ein Land ziehen, wo Sie volle Freiheit hätten, nicht nur herauszugeben, was Sie wollen, sondern laut gegen einen so infamen und blutdürstigen Aberglauben zu sprechen. Sie würden dort nicht allein sein; Sie würden Genossen und Lehrlinge finden. Sie dürften ein Katheder errichten, das das Katheder der Wahrheit selbst sein würde. Ihre Bibliothek könnte man auf einem Floß befördern, und es wären nur vier Wegstunden über Land zurückzulegen. Sie würden damit die Sklaverei für die Freiheit aufgeben. Ich begreife nicht, wie ein gefühlvolles Herz und eine gerechte Seele ein Land bewohnen kann, das von Affen bevölkert ist, die sich in Tiger verwandelt haben. Wenn der Plan, der Ihnen vorgeschlagen wird, Ihre Entrüstung befriedigt, dann sagen Sie ein Wort und man wird versuchen, alles auf eine Weise zu ordnen, die Ihrer würdig ist, in vollster Heimlichkeit und ohne Sie bloßzustellen. Die Gegend, die man Ihnen vorschlägt, ist schön und nahe bei allem möglichen. Tycho Brahes Uraniaburg würde ein weit weniger angenehmer Aufenthalt sein. Der, der die Ehre hat, Ihnen dies zu schreiben, ist von ehrfürchtiger Bewunderung für Sie erfüllt, daneben von Zorn und Schmerz. Glauben Sie mir, es ist nötig, daß die vernünftigen Männer der Menschheit nun gegen wahnsinnige Barbaren zusammenhalten.
Doch Diderot hatte ebensowenig Lust, Paris zu verlassen, wie D'Alembert und alle übrigen, an die Voltaire sich wandte. Selbstverständlich waren sie der Rache der Gegenpartei nicht so ausgesetzt wie er, aber das war nicht die Hauptursache.
Sein Wesen war eigenartig. Er war jetzt ganz Soldat, ganz Feldherr, und wo das Lager aufgeschlagen werden sollte, durfte allein von den strategisch günstigsten Verhältnissen abhängen. Er war von vornherein so wenig an einen Ort gebunden, wie es jetzt ein General ist oder wie es ein Ordensritter war. Es galt für ihn nur, von wo aus man den Kampf mit der größten Sicherheit und mit der besten Wirkung führen könnte.
Es ist etwas Erhabenes, daß er trotz seiner Unruhe, einer Verhaftung ausgesetzt zu sein, ganz und gar in seinem großen Ziel aufgeht, der geistigen Befreiung der Menschheit. Es stimmt wehmütig, daß ihm von dem Augenblick an, als er die schöne Emilie verlor, alles Äußerliche im Grunde gleichgültig wurde, Frauen, Verkehr mit Freunden, die Umgebung der Natur, ja sogar die Kolonie, die er angelegt und entwickelt hatte. Er konnte wohnen, wo es sein sollte. Nichts band ihn.
Er liebte keine Frau mehr und wurde von keiner mehr geliebt; er war gewohnt, bei Genf alle seine Pariser Freunde in einem so großen Abstand zu haben, daß er größer war als heutzutage der zwischen Genf und New York. Er hatte sich daran gewöhnen müssen, Paris zu entbehren, Frankreich zu entbehren, so bitter der Verlust auch war. Wo er selbst war, da war jetzt tatsächlich Paris; da war Frankreich, gleichgültig, wie der Ort hieß und wo er lag.
Es hat ihm etwas vorgeschwebt wie jene Gärten des Akademos, in denen Platons Schule unter dem Namen Akademie gegründet wurde. Deshalb betonte er in seinem Briefe an Friedrich die Wäldchen, die er in Cleve zu finden hoffte, Haine, in denen die Philosophen wandeln konnten, und daher auch Friedrichs bittere Antwort, daß alle Wälder und Bäume bei Cleve von den Franzosen niedergeschlagen und verbrannt seien.
Oder um etwas Näherliegendes aus dem christlichen Mittelalter zu nehmen: Es hat ihm ein Versammlungsort vorgeschwebt wie jenes Paraclet, das Abälard einmal für sich und seine vielen Schüler aus allen Ländern bei Nogent an der Seine gebaut hatte. Voltaire gebraucht ja auch mit Vorliebe von den Freunden ständig die den Mönchsorden entnommenen Wörter: Brüder, Bruderschaft.
Er war der einzige von ihnen, der allein der Sache leben konnte, er, der als Mann sich nicht mehr um Frauengunst kümmerte, nur Geist, nur Idee, nur Kraft, nur Flamme war, deren Licht Europa erleuchtete.
Er war jetzt selbst ein Zentrum. Die anderen mußten in dem Zentrum des Geisteslebens, Paris, sich aufhalten. Er selbst war durch keinerlei Frau auf Erden gebunden. Aber wie hätte Diderot Sophie Volland, die Freude seines Lebens, entbehren können, die er liebte, und die ihn liebte; und wie hätte D'Alembert Julie de L'Espinasse entbehren können, die er liebte und von der er sich naiv einbildete, geliebt zu sein! Wie D'Alembert alle Aufforderungen des großen Friedrich abgeschlagen hatte, zu ihm zu kommen und seine Akademie zu leiten, so schlug er die Aufforderung Katharinas der Zweiten ab, als Erzieher des späteren Paul des Ersten mit 60 000 Francs jährlich nach Petersburg zu kommen.
Diese Männer konnten und wollten sich nicht von jenem Boden in Paris losreißen, der Voltaire versperrt war. Sie mußten deswegen von Voltaire bittere Worte hören. »Gewisse Ungeheuer,« sagt er, »fristen nur deshalb ihr Leben, weil Herkulesse, die sie vernichten könnten, sich nicht von ihren kleinen Freundinnen trennen wollen.« Er vergleicht diese »Brüder«, die ihm nicht nach Cleve folgen wollen, mit einem Negerstamm, bei denen es Sitte ist, einen Tanz aufzuführen, wenn einem Stammesgenossen ein Bein abgeschnitten wird. Und er macht den Philosophen entschiedene Vorwürfe, daß sie nur dazu da sind, damit einer nach dem andern erdrosselt wird und eines elenden Todes stirbt, statt daß sie einander helfen sollten.
Obendrein ereignete es sich zu Voltaires größtem Ärger noch, daß sein Plan, fortzuziehen, ins Publikum sickerte. Er mußte fürchten, daß man seinen Weggang verhindern wolle, und er ließ die Entstehung des Gerüchtes auf die einfache Weise dadurch erklären, daß der König von Preußen, als er einen Geldbetrag zur Unterstützung der Familie Sirven übersandte, dieser zugleich ein Obdach in seinem Reiche angeboten hätte. Voltaire hätte dann aus Höflichkeit geantwortet, daß er eventuell die Familie selbst bis zu ihrem Bestimmungsort begleiten würde.
In der Lobrede Friedrichs des Großen auf Voltaire sagt er: »Er hätte den Chevalier de La Barre von den Toten erweckt, wenn er die Gabe besessen hätte, Wunder zu tun. Wie schön ist es, daß ein Philosoph von seiner Zufluchtsstätte aus seine Stimme ertönen läßt, und daß die Menschheit, deren Organ er ist, dann die Richter zwingt, einen ungerechten Spruch zu ändern. Spräche nichts anderes zugunsten des Herrn de Voltaire als dieser eine Zug, dann würde er bereits einen Platz unter den wahren Wohltätern des Menschengeschlechts verdienen.«
In Wirklichkeit setzte Voltaire seine ganze Kraft dafür ein, die Erinnerung an La Barre wachzuhalten, der wegen des Hasses gegen die Philosophie sein Leben hatte hingeben müssen.
Die schneidende Ungerechtigkeit des Urteils mußte für jeden, der gesunden Verstand hatte, einleuchtend sein. La Barre hatte ja in Wirklichkeit keinerlei Verbrechen begangen. Weit schlimmere Dinge, als was er gesagt hatte, waren in Frankreich gänzlich ungestraft geblieben. Der Abbé le Camus hatte einmal in seiner Jugend das Abendmahl verhöhnt und die Hostie einem Schwein gereicht. Er war deshalb ausgewiesen worden ohne weiteren Unglimpf und ohne daß diese Ausweisung ihn daran hinderte, später Kardinal zu werden und als sehr heiliger Mann zu gelten. In allen Kasernen Frankreichs hatten die jungen Offiziere hundert Jahre lang dieselben rohen Lieder über Maria Magdalena, die Jungfrau Maria und Heilige beiderlei Geschlechts gesungen, ohne daß es jemand eingefallen wäre, sie deshalb zu bestrafen. Es wurde damals so aufgefaßt, als wenn heutzutage ein Student Bellmans Joachim in Babylon singt. Und die Philosophen hatten selbstverständlich derartige Lieder nicht geschrieben.
Das einzige unanständige Gedicht von einem bekannten Verfasser, das La Barre vorgetragen hatte, war die Ode à Priape von Piron, dem gehässigen Feinde Voltaires, und die Erinnerung an diese Ode hatte zwar einer Aufnahme in die Akademie im Wege gestanden, aber sie war ihm doch nicht weiter zum Schaden gewesen, als daß Ludwig der Fünfzehnte dem Dichter zum Ausgleich für die Enttäuschung eine Pension gegeben hatte.
Im Winterhalbjahr 1767/68 sprach Pasquier aufs neue im Parlament davon, daß Voltaires Angriffe auf die Religion nicht länger geduldet werden durften, und daß es seine feste Absicht sei, sobald ihm ein Exemplar der Handschrift Le Diner du comte de Boulainvilliers, die heimlich im Umlauf war, in die Hände fiel, einen Antrag zu stellen, Voltaire ins Gefängnis zu stecken. Diese Worte entsprachen der Stimmung der verdummten Pariser Bevölkerung, und Voltaire begriff, daß er auf seinem Posten sein mußte, falls er den Rest seiner Tage nicht eingesperrt sitzen wollte. Er ging mit seinem ganzen Hausstand in die Kirche, die er in Ferney gebaut hatte, und nahm das Sakrament des Abendmahls ein – nicht nur zur Entrüstung der Mucker, sondern auch seiner philosophischen Freunde, die jedoch ganz außerstande gewesen wären, ihn zu befreien, wenn man mit den Drohungen Ernst gemacht und ihn an einem sicheren Orte untergebracht hätte. Was er hier tat, hielt er ja sein ganzes Leben hindurch für berechtigte Notwehr, und diejenigen, die ihn zu unserer Zeit deshalb verurteilt haben, pflegen selbst in politischen oder religiösen Krisen nicht gerade Heldenmut zu zeigen.
Die kleine Schrift Le Diner du comte de Boulainvilliers (1767) dürfte eine der vorzüglichsten Schriften Voltaires gegen den Bibelglauben sein. Sie besteht aus einem Dialog, an dem nacheinander vier Personen teilnehmen, Graf Henri de Boulainvilliers (1658-1722), ein französischer Gelehrter, Historiker und Denker, die Gräfin, seine Frau, ein Abbé Couet, Großvikar beim Herzog von Noailles, Domherr an Notre-Dame, und schließlich Fréret (unter wessen Namen 1766 eine bibelkritische Schrift herausgekommen war, Examen critique des apologistes de la religion chrétienne, die vielleicht von Lévesque de Burigny stammt, der mit Voltaire in Korrespondenz stand). Er war jedoch selbst ein hervorragender und origineller Kritiker des Neuen Testaments auf Grund der Kenntnisse, die man zu jener Zeit besaß.
Dieser Dialog stellt die ganze Voltairesche Bibelkritik in einer Nußschale dar, ist scharfsinnig treffend, ungeheuer gedrängt, ein durchsichtig klares, außerdem witziges kleines Buch. Es ist bezeichnend, daß diese Schrift niemals im Norden verbreitet worden ist, daß Strauß in seinen mittelmäßigen Vorlesungen über Voltaire (vor zwei Prinzessinnen) 1895 die Übersetzung als Neuheit für Deutsche bringen konnte, und daß man diese wie alle übrigen Schriften Voltaires einen Todesschlaf schlafen ließ, während sich das Volk massenweis von mittelalterlichen Gespenstern wie der sogenannten inneren Mission erobern und beherrschen ließ und sich der Bürgerstand in seiner reaktionären Einfalt in Bewunderung für römisch-katholische Renegaten verloren hat.
An d'Argental schreibt Voltaire (1. April 1768): »Urteilen Sie selbst, mein lieber Engel, wie mein Zustand sein muß; stets verleumdet, der Gefahr ausgesetzt, daß ich verurteilt werde ohne zuerst gehört zu sein, verbringe ich meine letzten Lebenstage in einer nur zu gut begründeten Furcht. Fünfzig Jahre Arbeit haben mir nur fünfzig Feinde mehr eingebracht, und ich stehe stets bereit, mir an einem anderen Orte nicht Ruhe, aber Sicherheit zu suchen. Wenn mir die Natur nicht zwei vortreffliche Gegengifte gegeben hätte, Arbeitsamkeit und gute Laune, wäre ich vor langer Zeit schon aus Verzweiflung gestorben.«
Mit dem Datum 15. Juli 1766 hatte er inzwischen eine tatsächlich 1768 abgefaßte kurze und abschließende Schrift (unter dem Schriftstellernamen M. Cas … advocat au conseil du Roi) versehen, die Relation de la mort du Chevalier de la Barre betitelt war, und er hatte sie dem großen italienischen Kriminalisten, Marchese de Beccaria gewidmet, dessen berühmtes Buch der haltungslose Franzose Muyart de Vouglans zu widerlegen versucht hatte, gerade zur selben Zeit, als er den Protest gegen das Urteil über den Ritter von La Barre unterschrieb. Voltaire leitet seine Arbeit durch Aufstellung zweier Grundsätze ein, die die französische Rechtspflege in ein grelles Licht rücken:
Zum ersten: Wenn eine Nation noch in dem Grade barbarisch ist, daß sie die Angeklagten der Folter unterwirft, d. h. sie den Tod tausendmal statt einmal erleiden läßt, ohne zu wissen, ob sie schuldig oder unschuldig sind, so ist im mindesten klar, daß man sich dieser unmenschlichen Wut nicht bei einem Angeklagten überlassen darf, der seine Schuld gesteht, denn dann ist ja kein Beweis erforderlich.
Zum zweiten: Es ist ebenso töricht wie grausam, Vergehen gegen die im Lande herrschenden Sitten und Gebräuche, Vergehen gegen die herrschende Meinung, die keinerlei physischen Schaden verursacht haben, auf dieselbe Weise zu bestrafen, wie man Vatermörder und Giftmischer straft.
Und nachdem er den ganzen Rechtsfall dargelegt hat, schließt Voltaire:
Einige Richter haben gesagt, unter den bestehenden Umständen brauche die Religion dieses abschreckende Beispiel. Sie haben sich gründlich geirrt. Nichts schadet der Religion mehr. Auf diese Weise bändigt man die Geister nicht; man reizt und empört sie. Ich habe unglücklicherweise Verschiedene sagen hören, daß sie nicht anders könnten als eine Sekte zu verabscheuen, die sich allein mit Hilfe von Henkern auf der Höhe hält.
Man hat also ebenso wie Vatermörder und Giftmischer ein paar Jungen bestrafen wollen, die angeklagt waren, alte Spottlieder gesungen zu haben. Gerade das hat jedoch die Leute dazu gebracht, hunderttausend Religionsverspottungen zu äußern. Sie können es nicht glauben, in welchem Grade dieses Ereignis unsere römisch-katholische Kirche in den Augen aller Fremden verächtlich macht. Die Richter sagen, die Politik hätte sie gezwungen, zu handeln, wie sie getan haben. Was für eine tierische und barbarische Politik! Was für ein empörendes Verbrechen gegen die Gerechtigkeit, aus politischen Gründen ein Urteil zu fällen, besonders ein Todesurteil, und sogar ein Urteil zu einem Tode wie diesem!
Wie Voltaire mit Besorgnis und Unruhe erwartet hatte, gab die Verurteilung und Hinrichtung La Barres Veranlassung, die Angelegenheit Sirven wieder hinauszuschieben.
Wir haben gesehen, wie Elie de Beaumont sie unvermutet in die Länge zog. Nun verhielt er sich unter dem Vorwand, daß die Greuel des Fanatismus seine Hand lähmten, noch untätiger. Jeder Wunsch den Beaumont äußerte (daß das Referat der Angelegenheit Chardon übertragen werde, daß Sirvens Advokat vor dem Conseil nicht mehr Mariette sondern Cassen sein sollte usw.), wurde von Voltaire durch seinen Einfluß auf den Herzog von Choiseul erfüllt. Aber es fruchtete nichts. Elie de Beaumont rührte sich nicht, und kompromittierte dadurch nicht nur seinen Klienten sondern auch Voltaire, der bereits im Sommer 1766 in seinem an die verschiedenen Fürsten gesandten Avis au public sur les parricides imputés aux Calas et Sirven wieder und wieder auf Elie de Beaumonts Eingabe hingewiesen hatte, als ob diese nun bald veröffentlicht werden würde. Da die Eingabe nicht erschien, konnten Sirvens Wohltäter ihn im Verdacht haben, daß er sie hinters Licht hatte führen wollen.
Zu allem Unglück wurde nun noch Voltaires Avis unter Pariser Advokaten bekannt, deren vorsichtige Zahmheit sich über die gewaltsame Sprache furchtbar empörte und die davor zitterten, als seine Mitschuldigen betrachtet zu werden.
Voltaire sprach darin von dem Wahnsinn, der die Erde mit Blut überschwemmte, über die Gerichte des Christentums, die sich 1500 Jahre hindurch aus reinem Aberglauben mit Justizmorden befleckt hatten, über die furchtbare Einbildung, jemand könne andere Menschen zwingen, wie er selbst zu denken. »Aber, rief er aus, ist es nicht der Gipfel des Irrsinns, wenn man glaubt, man könne Menschen dadurch bekehren, daß man sie verleumdet, verfolgt, auf die Galeeren schleppt und gegen sie mit Galgen und Rad und Scheiterhaufen wütet?«
Voltaire, dem die Advokaten mit dem Vorbehalt kamen, auf jeden Fall dürfe ihr Gutachten nur dem Conseil, nicht dem Publikum vorgelegt werden, sah immer mehr ein, daß ein Appell an die öffentliche Meinung das einzige war, das noch helfen konnte.
Daß Elie de Beaumont, der versprochen hatte, seinen Beitrag in vierzehn Tagen fertig zu machen, nach dem Verlauf von anderthalb Jahren damit noch nicht zu Ende gekommen war, hatte den Grund, daß er persönlich in einem Prozeß stand, der ihn ganz in Anspruch nahm und zudem noch der Angelegenheit Sirven durchaus zuwiderlief.
Der Verteidiger Calas' und Sirvens hatte sich nicht geschämt, für sich persönlich aus der empörenden Ungerechtigkeit der französischen Gesetze gegen die Protestanten Nutzen zu ziehen. Seine Frau entstammte, obwohl sie Katholikin war, einer protestantischen Familie; ihr Großonkel hatte seinerzeit, als er nach England entfloh, seine Besitzung Canon für eine geringe Summe verkauft. Jetzt war das Gut sehr wertvoll. Nach dem Gesetz, das damals die Protestanten an der Auswanderung hindern wollte, war der Kauf ungültig und Beaumont verlangte jetzt im Namen seiner Frau von dem jetzigen Besitzer die Auslieferung des Gutes ohne jeden Ersatz.
Dieser Prozeß hatte eine doppelte unglückliche Wirkung; einmal wurden alle Protestanten gegen Beaumont aufgebracht, und außerdem gab er den Katholiken die erwünschte Gelegenheit, höhnend darauf hinzuweisen, wie wenig Recht der offizielle Verteidiger von Calas hatte, über die Unduldsamkeit gegenüber den Protestanten zu klagen, da er genau so unduldsam war wie irgendeiner.
Voltaire war gezwungen, aus Politik nicht ein einziges herabsetzendes Wort über Elie de Beaumont auszusprechen; er behandelte ihn auch weiterhin mit äußerster Aufmerksamkeit und erhielt zum Lohn denn auch endlich im Februar 1767 von Damilaville das erwartete Memorandum, das er sich sofort von La Harpe laut vorlesen ließ und das er mit Begeisterung und Lobreden über Beaumont begrüßte.
Doch als man danach Damilavilles das Paket begleitenden Brief las, entdeckte man zu seinem Ärger, daß die Arbeit gar nicht von Beaumont war sondern von Damilaville, der sie zu seinem eigenen Vergnügen ausgeführt hatte.
Im März gelangte Voltaire trotzdem endlich in den Besitz der richtigen Eingabe, die noch dazu von achtzehn anderen Pariser Advokaten unterzeichnet war. Diese waren darüber einig, daß hier ein Fall vorlag, wo es dem König wegen der Verordnung von 1737 gebührte, von seinem Recht Gebrauch zu machen, die Berufung gegen ein Urteil in contumaciam zu fordern. Die Schrift selbst scheint übrigens nicht von Beaumont selbst verfaßt zu sein, sondern von anderen, die sie für ihn unter beständigem Kampf mit seiner Eitelkeit und Beschränktheit verbessert hatten.
Unter den vielen fremden Fürsten, die an Voltaire Geldbeträge für die Familie Sirven schickten, wurde auch König Christian der Siebente von Dänemark genannt. Er war damals erst gerade achtzehn Jahr alt und dem Trunk und dem Müßiggang bereits stark verfallen. In der offiziellen dänischen Geschichtsschreibung wird es stets so dargestellt, als ob seine Trink- und Festbrüder nur aus Rohheit »Kirche und Priester verhöhnten.« Es kann jedoch kein Zweifel bestehen, daß diese jungen Leute, so geringen Wert man ihnen auch sonst zumißt, durchdrungen von dem französischen Geist der damaligen Zeit waren, verschiedene Werke von Voltaire und den Encyklopädisten gelesen hatten und daß deren Ausfälle gegen den in Dänemark herrschenden Pietismus bei einem jungen Fürsten, den man mit unmenschlicher Härte erzogen und stets in Zwang gehalten hatte, auf guten Boden gefallen waren. So niedrig Christian der Siebente auch war, so deutlich ist doch, daß Voltaires Name einer der wenigen gewesen ist, die er in Ehre hielt.
Daß er für die Familie Sirven einen Beitrag sandte, hat doch aller Wahrscheinlichkeit nach – eine Wahrscheinlichkeit, die auch Voltaire einleuchtete – den Hauptgrund in dem Protestantismus und Gerechtigkeitsgefühl Johann Hartwig Bernstorffs gehabt. Bernstorff war ja in Paris ein guter Bekannter Voltaires gewesen (ohne doch im geringsten von seinen Zweifeln gegenüber Dogmen beeinflußt zu werden). Christian der Siebente aber stimmte, solange er noch seinen Verstand besaß, augenscheinlich ganz anders als sein Minister mit den französischen Freidenkern überein. Ein Fingerzeig, wenn auch kein deutlicher, ist, daß man von Borck, dem Gesandten Friedrichs des Großen in Kopenhagen (demselben Borck, der in einem schon angeführten Gedicht Friedrichs an Voltaire erwähnt wird) erzählt, daß es ihm gelang, dadurch in hohem Maße das Ohr Christians des Siebenten zu gewinnen, daß er mit ihm »über Deismus und Frauenzimmer« sprach.
Voltaire dankte mit zwei Briefen vom 4. Februar 1767 für die Gabe. Der erste lautet:
Herrn Grafen von Bernstorff, Premierminister des Königs von Dänemark.
Mein Herr, die Familie Sirven, die in Paris ihre Unschuld und ihre Dankbarkeit für die Wohltaten Seiner Majestät dartun wird, möchte heute Ew. Exzellenz für diese Wohltaten danken, deren Veranlassung Sie sicher sind. Ich schulde Ihnen, mein Herr, nicht geringere Dankbarkeit für den Brief des Königs, diesen Gunstbeweis, den Sie mir verschafft haben. Ich erkenne darin einen Monarchen, der von Ihren Grundsätzen erfüllt ist. Man beurteilt den Fürsten nach dem Minister, den Minister nach dem Fürsten. Länger als hundert Jahre hat die Freigebigkeit in Dänemark auf dem Thron gesessen. Glücklich ein Land, das so regiert wird!
Gestatten Sie mir, mein Herr, daß ich mit diesem meinen ergebenen Dank die Danksagung, die ich Seiner Majestät schulde, an Sie adressiere.
Dabei lag das folgende Schreiben:
An Christian VII., König von Dänemark.
Sire, der Brief, mit dem Eure Majestät mich ausgezeichnet hat, hat meinen Augen Freudentränen entlockt. Eure Majestät geben in jungen Jahren ein großes Beispiel. Eure Wohltaten dringen in Strecken Landes, die der übrigen Welt fast unbekannt sind. Sie schaffen Ihnen neue Anhänger in allen denen, die von Ihrem wohltätigen Edelmut sprechen hören. Man muß von jetzt ab nach Norden reisen, um mustergültiges Denken und Fühlen kennenzulernen; wenn meine Hinfälligkeit und Kränklichkeit es mir gestatteten, dem Drange meines Herzens zu folgen, würde ich aufbrechen, um mich Eurer Majestät zu Füßen zu werfen. (Voltaire zu Füßen Christian VII.!)
In jener Zeit, als ich noch Einbildungskraft hatte, würde ich nur allzuviele Verse geschrieben haben, um auf Ihre entzückende Prosa zu antworten. Haben Sie Nachsicht mit dem hinsiechenden Streben eines Mannes, der nicht mehr völlig imstande ist, die Gefühle auszudrücken, die Ihre Güte in seinem Herzen erzeugt. Ich wünsche Eurer Majestät so viel Glück wie wirklichen Ruhm.
Pourquoi, généreux prince, âme tendre et sublime,
Pourquoi vas-tu chercher dans nos lointains climats
Des cœurs infortunés que l'injustice opprime?
C'est qu'on n'en peut trouver aux seins de tes états.
Tes vertus ont franchi par ce bienfait auguste
Les bornes des pays gouvernés par tes mains;
Et partout, où le ciel a placé des humains,
Tu veux qu'on soit heureux, et tu veux qu'on soit juste.
Hélas! assez de rois que l'histoire a fait grands
Chez leurs tristes voisins ont porté les alarmes;
Tes bienfaits vont plus loin, que n'ont été leurs armes;
Ceux qui font des heureux sont les vrais conquérants.
Das sind sehr schöne Verse, leider an einen Souverain gerichtet, der alle Hoffnungen zuschanden machen sollte, die Fremde und Eingeborene in ihn setzten.
Noch einmal in einem Briefe an Elie de Beaumont (vom 20. März 1767) kommt Voltaire, gewiß ganz aufrichtig, auf die Freude und den Nutzen zurück, die Christians des Siebenten Auftreten verursacht haben: »Der König von Dänemark ist ohne jede Bitte meinerseits so gütig gewesen, mir zu schreiben, und hat mir eine bedeutende Gabe geschickt.«
In dem überspannten und vom Wahnsinn bedrohten Christian dem Siebenten sind gewiß Fähigkeiten gewesen, durch eine gewisse königliche Anmut zu gewinnen, und außerdem hegte er eine ehrliche Begeisterung für Voltaire. D'Alembert schreibt an Voltaire während der größeren Reise Christians des Siebenten, auf der er hervorragende Franzosen gern besuchte: »Ich habe, lieber Meister, vor einigen Tagen das Jahrhundert Ludwigs des Vierzehnten erweitert durch das Ludwigs des Fünfzehnten erhalten … und ich wundere mich nicht darüber, daß der König von Dänemark den Mut gehabt hat, in Fontainebleau zu sagen, daß der Verfasser dieser Schriften ihn zu denken gelehrt habe. Man überhäuft den jungen Fürsten hier mit Festen und Vergnügungen, die ihn langweilen. Er möchte am liebsten, sagt man, mit den Schriftstellern Frankreichs in Ruhe und Bequemlichkeit verkehren und sich mit ihnen unterhalten, aber der oberste Rat hat beschlossen, daß er nicht in nähere Berührung mit uns kommen darf.«
Man hatte dem Herzog von Duras die Aufgabe übertragen, König Christian zu unterhalten; er zog sich bei diesem Anlaß ein scharfes Epigramm von Chamfort zu. Das hinderte jedoch nicht, daß der damals erst siebenundzwanzigjährige Chamfort das Huldigungsgedicht schrieb, das dem König im Théâtre Français vorgetragen wurde und dessen Schlußstrophe lautet:
Un roi, qu'on aime et qu'on révère
A des sujets en tous climats;
Il a beau parcourir la terre,
Il est toujours dans ses états.
Bei all seiner Erbärmlichkeit hielt Christian der Siebente doch an seiner Verehrung Voltaires fest. Der König trug sich in die Subskriptionsliste zur Errichtung einer Statue für ihn ein. Man ersieht aus dem Briefe Voltaires an D'Alembert (5. November 1770), daß er glaubt, er verdanke dies dem Freunde: »Falls Sie ihm nicht deshalb geschrieben haben, so haben Sie mit ihm gesprochen, als er in Paris war.« In dem Brief vom 4. Dezember leugnet D'Alembert auf das bestimmteste, daß er an den König geschrieben hat, jedoch nicht, daß er – vor mehr als zwei Jahren – zu Christian dem Siebenten über Voltaire gesprochen hat »mit den Gefühlen, die ich stets für Sie hegte«. Man sieht also, daß der König hier eine gewisse Selbständigkeit an den Tag gelegt hat. Voltaire dankt ihm in einem höflichen Briefe (aus dem November):
Sire, Herr D'Alembert hat mich von der Güte Eurer Majestät mir gegenüber unterrichtet. Ich wundere mich nicht über soviel Edelmut von Ihrer Seite; aber über den Gegenstand wundere ich mich. Es steht einem einfachen Bürger wie mir nicht zu, daß ihm ein Denkmal errichtet wird. Europa schuldet Denkmäler den Königen, die draußen Belehrung suchen, um daheim Aufklärung zu verbreiten, die bescheiden genug sind, sich selbst aufklären zu lassen, die ein großes Beispiel durch die Bekundung geben, daß man sie etwas gelehrt habe, und die die Herzen aller Völker gewinnen, die sie besuchen. Sie sehen also ihre eigenen Untertanen wieder, um sie glücklich zu machen, werden von ihnen geliebt und rächen sie an Barbaren. Ich bin nahe, meinen Lebenslauf abzuschließen, jetzt, da Eure Majestät Ihre glänzende Lebensbahn beginnen. Der Glanz, den Sie über meine letzten Lebenstage ausgegossen, war ein Glück, das zu erwarten ich nicht berechtigt war. Ich fühle, wie schmeichelhaft es ist, einem solchen Monarchen in dem Grade verpflichtet zu sein.
Ach, daß Christian der Siebente nicht der war, den Voltaire in ihm sah und in ihm sehen mußte! Voltaire kannte ja die wahren Verhältnisse in dem kleinen, abseits liegenden Dänemark durchaus nicht, aber er erfuhr, daß König Christian (d. h. Struensee, von dem Voltaire nichts wußte) völlige Druckfreiheit in seinen beiden Staaten bewilligt hatte, also das Gut geschenkt hatte, nach dem Voltaire sein Leben lang geschmachtet, ja das er brennend entbehrt und durch dessen Entbehrung er eine Unzahl von Ängsten und Qualen erlitten hatte.
Dieser Schritt war ja eine der wirklich verdienstvollen Handlungen Struensees, und er handelte hier, sicher mit vollem Bewußtsein, als ein Schüler Voltaires und in dessen Geist. Es fehlte ja noch mehr als ein halbes Jahr, bis der Wahnsinn des Königs unzweideutig ausbrach, als Struensee (4. und 14. September 1770) König Christian den Siebenten dafür gewann, die bis dahin geltende Zensur vollständig aufzuheben, und in zwei Kundgebungen in schönen Worten darüber zu sprechen, wie schädlich es für die unparteiische Erforschung der Wahrheit sei, und wie es die Beseitigung alter Irrtümer und Vorurteile hinderte, wenn eifrige Vaterlandsfreunde nicht frei schreiben durften.
Man kann aus dem Briefe Voltaires (vom 4. Februar 1771) an Joly de Fleury ersehen, daß Christian der Siebente in dauernder Verbindung mit seinem französischen Meister geblieben ist, und daß der König selbst ihm in einem Briefe mitteilte, er wäre mit der Bauernreform beschäftigt und wolle den Frondienst in seinen Staaten abschaffen.
Aus Anlaß der Aufhebung der Zensur schrieb Voltaire an König Christian seine ausführliche 116. Epistel über die Pressefreiheit, die prunkvoll beginnt:
Monarque vertueux, quoique né despotique,
Crois-tu régner sur moi de ton golfe Baltique?
Suis-je un de tes sujets pour me traiter comme eux,
Pour consoler ma vie et me rendre heureux?
Aber so prunkvoll der Auftakt ist, soviel Wahres und Feines und Einfaches enthält das Gedicht.
Zuerst drückt Voltaire seine Freude darüber aus, daß es im Norden erlaubt ist, frei zu schreiben, und sagt nicht ohne Selbstgefühl, daß die Menschheit hier mit seiner Stimme spricht:
Des déserts du Jura ma tranquille vieillesse
Ose se faire entendre de ta sage jeunesse,
Et libre avec respects, hardi sans être vain,
Je me jette à tes pieds, au nom du genre humain.
Il parle par ma voix
Mit Nachdruck zeigt er die Sinnlosigkeit der Zensur gegenüber der unsagbaren Ohnmacht der allgemeinen Literatur, die keinem Machthaber Furcht einflößen kann, und auf der anderen Seite die eigene unsagbare Ohnmacht der Zensur, die Unmöglichkeit, einen siegreichen Gedanken zu morden. Ist das Buch gut, dann können alle Könige der Erde zusammen es nicht vernichten; wird es an einem Ort unterdrückt, so taucht es an einer anderen Stelle auf und wird gelesen; wird es in einem Land verabscheut, so wird es in einem anderen bewundert. Vernichten könne man es nicht.
Voltaire spricht hier aus Erfahrung:
Hé! quel mal après tout peut faire un pauvre auteur?
Ruiner son libraire, excéder son lecteur.
Faire siffler partout sa charlatanerie,
Ses creuses visions, sa folle théorie.
Un livre est-il mauvais, rien ne peut l'excuser;
Est-il bon, tous les rois ne peuvent l'écraser.
On le supprime à Rome, et dans Londre on l'admire;
Le pape le proscrit, l'Europe le veut lire …
Qui, du fond de son puits tirant la Vérité,
A su donner une âme au public hébété?
Les livres ont tout fait.
Es ergab sich von selbst, hier das ganze Verhältnis Voltaires zu dem elenden Christian dem Siebenten ununterbrochen darzustellen. Er kommt außerdem nur noch an zwei Stellen in Voltaires Werken vor; einmal in einem seiner Briefe an Katharina II. Für Voltaire, der so hoch von dem König gedacht hatte, mußte die Nachricht von dem häßlichen Skandal, der Hofrevolution in Kopenhagen vom 17. Januar 1772, von dem widerlichen Prozeß und dem schamlosen Urteil, das ihm folgte, wie ein Schlag gewesen sein, der ihn aus seinen Illusionen riß. Dieser König, der heimliche Verurteilungen verabscheute, ließ ein derartiges Urteil im verborgenen fällen. Voltaire schreibt an die russische Kaiserin (6. März 1772) während der Genesung nach einer ernsten Krankheit: »Ich war schon dabei, ganz still in meinem Einsiedlerhaus zu sterben, als das Abenteuer in Kopenhagen ganz Europa in Erstaunen versetzte.« Am 6. Juli schreibt er an d'Argental: »Ihr Dänemark hat eine Szene aufgeführt, daß man nur die Schultern zucken und schaudern kann.«
In Frankreich hatte Mazarin noch zu Lebzeiten Ludwigs des Dreizehnten im selben Verhältnis zu Anna von Österreich gestanden, in dem Struensee zu Caroline Mathilde stand, und da hatte man keinen Lärm geschlagen. Voltaire hat nicht begriffen, daß ein königlicher Ehemann, der seine fünf Sinne beisammen hatte, einen derartigen Lärm darüber machen konnte, daß seine Königin einen anderen vorzog, wenn er selbst sie Jahre hindurch hartnäckig gemieden hatte. Er wußte ja nicht, daß Christian der Siebente eben seine fünf Sinne nicht beisammen hatte.
Über das Vergehen Caroline Mathildes vermochte er nicht, sich wie ein biederer Bürgersmann in einem lutherischen Kleinstaat zu ärgern, er, der so mutwillig und scharf geschrieben hatte: »Ich fürchte, die Ehe ist eher eine der sieben Todsünden als eins der sieben Sakramente,« und in der Scheidung der Königin konnte er keine Schande sehen, er, der in seinem Dictionnaire philosophique unter dem Titel »Divorce« geschrieben hatte: »Die Ehescheidung stammt wahrscheinlich aus derselben Zeit wie die Ehe. Ich glaube trotzdem, daß die Ehe einige Wochen älter ist.«
Daß Christian der Siebente Struensee erst die Hand, dann den Kopf abschlagen ließ, mußte Voltaire bei demjenigen in Erstaunen versetzen, der über die Mißhandlungen von Calas und La Barre empört gewesen war.
Zunächst war Christian der Siebente Voltaire für seinen Kampf um Wiederaufnahme des Prozesses gegen Sirven von Nutzen. »Ich habe,« schreibt er an Damilaville am 9. Februar 1767, »wie im Brelanspiel vier Könige, und muß die Partie deshalb gewinnen.« Er meint die Könige von Preußen, Polen und Dänemark mit der Kaiserin von Rußland.
Er kommt in seinem Briefe vom 20. März 1767, der als Flugblatt verbreitet wurde, wieder auf all die fürstlichen Personen zurück, die ihm ihren Beistand zugesagt haben, und spricht wieder über den Fall Calas, der aus derselben Quelle wie der Fall Sirven stammt, und brandmarkt noch einmal die von Fréron in L'Année littéraire verbreitete Lüge, daß man im Languedoc davon überzeugt sei, daß protestantische Eltern ihre Kinder aus religiösen Ursachen ermorden. Diese Auslassungen Voltaires waren nötig, weil die Gegner auf den Fall Calas zurückgriffen, um die Familie Sirven zu schmähen. Im März 1767 wurde das Gerücht verbreitet, daß Jeanne Viguier, die mit Madame Calas zusammen in Paris gelebt hatte, auf ihrem Sterbebette eine Notariatserklärung abgegeben habe, daß sie in Gemeinschaft mit der Familie Calas und mit Lavaysse Marc-Antoine ermordet hätte; sie selbst wäre heimlich Protestantin gewesen und hätte sich erst auf ihrem Sterbebette zum Katholizismus bekehrt. Alles dies sollte, nach dem, was behauptet wurde, von dem Advokaten Mariette beglaubigt sein.
Falls dieses Gerücht nicht widerlegt werden konnte, hätten Voltaires Feinde triumphiert. Zum Glück lebte Jeanne Viguier noch. Ein Flugblatt, das im April 1767 in Paris herauskam, trug den Titel Déclaration de Jeanne Viguier, ancienne domestique des Sieurs et Dame Calas de Toulouse, touchant les bruits calomnieux qui sont répandu sur son compte, bestätigte noch einmal unter Anerbietung der Eidesleistung die Unschuld der Familie Calas und widerlegte die Unwahrheit, daß Jeanne Viguier nicht ihr Leben lang Katholikin gewesen wäre. Das Blatt schließt: »Diese Verleumdung ist im ganzen Languedoc ausgesprengt und in Paris von Fréron verbreitet worden, um Voltaire an der Verteidigung der Familie Sirven zu hindern, die desselben Verbrechens beschuldigt wird wie das Haus Calas. Jeder, der dies Blatt gelesen hat, wird gebeten, es als einen Beweis für das blinde Wüten des Fanatismus aufzubewahren.«
Voltaire war nun fest entschlossen, Sirven nach Paris zu schicken. Eigentlich sollte man abwarten, bis Chardon mit seinem Bericht an den Conseil fertig war (auf Beaumont war im Ernst nicht zu rechnen). Aber Voltaires Ungeduld war zu groß und er ließ Sirven bereits im Juni reisen. Es zeigt sich, daß er viel zu früh kam. Da man fürchten mußte, daß seine wenig bedeutende Persönlichkeit einen ungünstigen Eindruck machen würde, erhielt der arme Mann die Anweisung, sich ganz still zu verhalten, was um so nötiger war, als sich nun auch der Generalanwalt des Parlaments in Toulouse in Paris einfand, um die Mitglieder des Conseils gegen Sirven einzunehmen.
Unglücklicherweise hatten um diese Zeit die Protestanten in Saintonge einen Aufstand unternommen und einen katholischen Geistlichen erschlagen. Bei La Rochelle hatten sie sogar eine Kirche niedergerissen. Man beschuldigte sie, daß sie mehrere katholische Priester hatten ermorden wollen. In Bordeaux waren deshalb mehrere hundert Protestanten verhaftet worden. In Agen hatten ebenfalls Unruhen stattgefunden.
Es war deshalb für Voltaires Feinde eine leichte Sache, die Protestanten überhaupt als Aufrührer zu schildern. Daß nun auch Chardon mit seinem Bericht nicht fertig werden konnte, führte Voltaire mit Recht auf den Eindruck aller dieser unglücklichen Ereignisse zurück. Er zog gar nicht in Zweifel, daß es dem Parlament vorläufig gelungen war, den Conseil für sich zu gewinnen.
Um den eingetretenen Schaden auszugleichen, teilte er dem Referenten für Bittschriften, le maître des requêtes, mit, daß ein Mitglied des Parlaments von Toulouse auf Befehl eine Rechtfertigung des Urteils über Calas veröffentlicht und darin die Zuständigkeit des maître des requêtes bestritten hatte, ein höchstes Gerichtsurteil zu fällen. Chardon, der diese Schrift nicht kannte, bat Voltaire, sie ihm zu schicken, und versprach, daß die Angelegenheit Sirvens nun sofort im Conseil behandelt werden sollte.
Jedoch gerade, als die Schlacht gewonnen schien, ereignete sich etwas in hohem Grade Niederschlagendes. Der Conseil fürchtete die Erregung, die sich aller Parlamente bemächtigen würde, wenn der Fall Sirven den Händen des Parlaments in Toulouse entzogen und einem vom Conseil eingesetzten Gericht übergeben würde, und verwarf deshalb das Gesuch. Sogar der Herzog von Choiseul, auf den zu rechnen man Grund hatte, stimmte dagegen. Die Arbeit von fünf Jahren war für Voltaire verloren.
Am 8. Februar 1778 schrieb er an Damilaville: »Das Unglück der Familie Sirven ist auch mein Unglück. Ich sehe wohl ein, daß formelle Gründe das Übergewicht über materielle erlangen können; wenn es aber einen Fall gibt, in dem die Form untergeordnet ist, dann ist es der, bei dem es ein Menschenleben gilt.« Und vor das Parlament in Toulouse konnte Sirven unmöglich treten; dort würde er ganz sicher auf das Rad gelegt und schließlich gehängt werden.
Es blieb nichts anderes übrig, als den armen Mann nach der Schweiz zurückkommen zu lassen, und nun vergehen mehrere Jahre, in denen der Name Sirven aus Voltaires Briefwechsel verschwindet. Man würde ihn jedoch schlecht kennen, wenn man glaubte, daß er mit einem Willen, wie es der seine war, nun dem religiösen Fanatismus wich.
Eine Weile glaubte er, das rechte Mittel gefunden zu haben: es handelte sich darum, daß ein Verwandter der verstorbenen Madame Sirven in Languedoc ein Gesuch einreichte, daß sie als unschuldig erklärt werden solle. In diesem Falle würde zugleich auch Sirvens Unschuld festgestellt werden, ohne daß er genötigt war, die Schweiz zu verlassen.
Aber Voltaire sah bald ein, daß das Gericht auf das Gesuch mit dem Hinweis antworten würde, daß die noch lebenden Verwandten nicht wagten, sich vor ihm einzufinden.
Es blieb da nichts anderes übrig, als Sirven selbst nach dem Languedoc zu senden. Und das wurde durch den Umschwung ermöglicht, der dort in der öffentlichen Meinung stattgefunden hatte. Unter Voltaires Korrespondenten bürgte besonders eifrig der Abbé Audra, Baron de Saint-Juste, ein gründlicher Kenner der damaligen Verhältnisse in Toulouse, für die erfolgte Veränderung. Voltaire stellte jedoch die bestimmte Bedingung, daß zuerst ein Parlamentsmitglied in Toulouse gefunden werden müsse, daß sich bereit erklärte, Sirven zu beschützen, »damit er ohne Todesfurcht den Ort sehen könnte, an dem Calas seinen Tod fand.«
Um sicher zu sein, wandte sich Voltaire auch an den Marquis de Belestat de Garduch; auch er sollte sich nach einem solchen Parlamentsmitglied umsehen. Und wirklich gelang es den beiden freisinnigen Herren, einen Parlamentsratsherren zu finden, der feierlich versprach, das Haus Sirven unter seinen Schutz zu nehmen.
Doch das war Voltaire nicht genug. Er wollte weitere zuverlässige Sicherheiten haben. Er gewann denn auch sogar den Gouverneur von Languedoc, den früher erwähnten Prinzen von Beauvau, unter dem Saint-Lambert so gern dienen wollte.
Als Voltaire so nach Kräften die Grundlage vorbereitet hatte, reiste Sirven im März 1769 nach Toulouse, während seine Töchter in der Schweiz blieben. Er mußte den Schritt nun vornehmen, denn am 11. September 1769 war es volle fünf Jahre her, seit das Urteil in contumaciam an der Puppe, die ihn darstellte, vollzogen worden war, und nach dieser Zeit war das Urteil unwiderruflich, die Berufung ungültig.
Zuerst reiste nun Sirven in Südfrankreich umher, sammelte Material für seine Verteidigung und erhielt besonders von den Professoren der medizinischen Fakultät in Montpellier die oben berührten Äußerungen, die die Gerichtsärzte strafbarer Unwissenheit beschuldigten. Voltaire schrieb an den Professor le Roy (16. August 1769): »Es ist furchtbar, daß in Frankreich das Leben und die Ehre eines Familienvaters von einem unwissenden Chirurgen und einem idiotischen Richter abhängen.«
Ende August meldete sich Sirven im Gefängnis in Mazamet. Er wurde dort so hart behandelt, daß Voltaire nur dadurch Abhilfe schaffen konnte, daß er bei dem Generalanwalt in Toulouse energische Vorstellungen erhob. Es schien ein günstiges Zeichen, daß der Richter Landes diesmal als unzuständig erklärt und durch einen anderen Richter, Labrugnière, ersetzt wurde, der übrigens mit denselben beiden Beisitzern, die 1764 das Urteil gefällt hatten, die Entscheidung in erster Instanz treffen sollte. Voltaire dachte schon daran, selbst nach Toulouse zu reisen, wohin ihn verschiedene Einladungen riefen.
Am 2. September wurde Sirven zum erstenmal verhört und 44 Zeugen gegenübergestellt. Er konnte nicht durchsetzen, daß die noch lebenden Zeugen vorgeladen wurden. Der Amtsanwalt machte nämlich von seinem Recht Gebrauch, nur die belastenden Zeugen zu vernehmen.
Dann trug Trinquier keine Bedenken, die Aussagen der bereits verstorbenen Zeugen zu verlesen, an die Sirven also keine Gegenfragen richten konnte. Trotz allem zeigte sich der hart geprüfte Mann, in dessen geistige Fähigkeiten Voltaire ein zu geringes Vertrauen gesetzt hatte, imstande, auf ausreichende Weise seine Unschuld zu beweisen. Obgleich die Gegenüberstellungen sechzehn Tage dauerten, verleugneten sich Sirvens Umsicht und Schlagfertigkeit nicht. Er ließ sich mit jedem der Zeugen in Debatten ein, und wies scharfsinnig Widersprüche in ihren Aussagen nach, besonders erledigte er den Arzt Gallet Duplessis, für den die Ausführungen der Professoren der Medizin vernichtend waren.
Alles das hinderte den Amtsanwalt nicht, am 10. November 1769 den Antrag zu stellen, Sirven wegen Ermordung seiner Tochter zu verurteilen. Die Strafe sollte jedoch nur in zehnjähriger Landesverweisung von Mazamet und einer Buße von tausend Livres bestehen, was deutlich darlegt, wie wenig überzeugt selbst der Ankläger von Sirvens Schuld war. Das Gericht fällte das Urteil, daß die gegen Sirven gerichtete Beschuldigung abgewiesen wurde; er wurde aus dem Gefängnis entlassen und sein beschlagnahmtes Vermögen freigegeben. Die Kosten des Prozesses wurden aufgehoben, doch die Kosten des vorigen Rechtsfalls von 1764 ihm auferlegt.
Danach war nach französischer Rechtsprechung Sirven dauernd verdächtig, seine Tochter ermordet zu haben; er legte deshalb sofort Berufung beim Parlament in Toulouse ein, um eine Freisprechung zu erlangen, verlangte außerdem, daß seine ursprünglichen Richter zu einem Schadenersatz von 20 000 Livres verurteilt würden.
Alles hing nun von dem Generalanwalt Riquet de Bonrepos ab, und Voltaire versuchte, mit Hilfe des Erzbischofs von Toulouse, Loménie de Brienne, der kürzlich in die französische Akademie aufgenommen war und dort also von D'Alembert bearbeitet werden konnte, auf ihn einzuwirken. Er sagte seine Hilfe zu.
Inzwischen stellte Sirven Voltaires Geduld auf die härteste Probe, weil er überhaupt nichts von sich hören ließ. Es nützte nichts, daß der Patriarch wieder und wieder darüber klagte, daß man ihn vernachlässigte. Monatelang ließ ihn Sirven auf das Vernehmungsprotokoll von Mazamet warten, ohne welches es unmöglich war, ein neues Memorandum zu schreiben.
Ostern 1770 war die letzte Frist, zu der die Advokaten Elie de Beaumont und Delacroix noch ein Memorandum einreichen konnten. Nach Voltaires Berechnung würde daher das Parlament sofort nach Ostern das Urteil über die Berufung sprechen. Aber nichts geschah, und man tröstete Voltaire damit, daß die Angelegenheit spät im Herbst nach den Gerichtsferien vorgenommen werden würde.
Das ganze Jahr 1770 verging, ohne daß ein Urteil gefällt wurde. In diesem Jahr verlor Sirven jedoch seinen wichtigsten Beschützer in Toulouse, den Abbé Audra. Nachdem er die andauernden Angriffe der örtlichen Fanatiker ausgehalten hatte, fand Audra im Tode Frieden. Und als der eifrigste der Plagegeister Sirvens trat nun jener Loménie de Brienne auf, der Erzbischof, der zum Schein D'Alembert seine Hilfe zugesagt hatte.
Noch ein volles Jahr ging hin, ehe die Angelegenheit vor das Parlament kam.
Aber die Parlamente Frankreichs hatten inzwischen anderes zu bedenken bekommen.