Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Während der Reaktion der französischen Romantik gegen den Klassizismus und während der Erneuerung und Umbildung der Sprache, die durch Victor Hugo und Théophile Gautier stattfanden, geriet Voltaire als Dichter in Vergessenheit, verlor sein Ansehen in seinem Vaterlande, wie er in Deutschland längst höhnisch übersehen worden war wegen der Angriffe Lessings und der Geringschätzung deutscher Romantiker, die in seiner Poesie niemals die kleine blaue Blume gefunden hatten, die ihnen so teuer war. Doch von der ersten Stunde an war unter den französischen Romantikern ein Mann, die einzige kritische Begabung der Gruppe und bis jetzt Frankreichs größte, Sainte-Beuve, der Voltaire auch als lyrischem Dichter Gerechtigkeit widerfahren ließ.
Nachdem er gezeigt hat, daß Jean Baptiste Rousseau zwar untadelhafte, kalte Oden hinterließ, aber durchaus keinen persönlichen Einfluß ausübte, sagt er: »Das Gegenteil ist der Fall bei Voltaire, dem einzigen wahren, einzigen großen Lyriker im achtzehnten Jahrhundert. Seine Einbildungskraft ist stets wach. Wohl versagt bei Voltaire das Werk nicht selten, aber so lange man die Persönlichkeit spürt, vernimmt man auch den Dichter. Ihn findet man in allem, was bei ihm aus der Quelle strömt, was unwillkürlich aus seiner Feder fließt: leichte Kleinigkeiten, Satiren, humoristische Einfälle, Einleitungen zu Dichtungen, hervorsprudelnde Verse, die als Sprichwörter geboren werden, Verse, die ihm über irgendeinen Gegenstand entschlüpfen und danach um die Erde eilen. Dichter ist er in seinen Gesprächen durch die funkelnden Strahlen seines Witzes, das ewige Blitzen der Worte, die lebensvollen und anmutigen Wendungen, die er jeder seiner Äußerungen gibt.«
Zu jeder Zeit sind es nur wenige, die sich über die engen Begriffe ihrer Zeitgenossen von Poesie zu erheben vermögen, und die wissen, daß sich die Vorstellungen vom Dichterischen ändern. Diese werden sich auf ihre eigene Urteilskraft verlassen und ohne jede Rücksicht auf den Geschmack der Zeit das gut nennen, was sie als gut empfinden. Der Kritiker, der mehr ist als ein Organ des Modegeschmacks, wird Voltaire als lyrischen Dichter schätzen.
Seine Prosa wird heutzutage allgemeiner anerkannt als seine Poesie; deshalb sind oben so viele Verse von ihm angeführt.
Seine Prosa wird in unserer Zeit fast nur in seinen kleinen Romanen gelesen und gewürdigt, in jenen Erzählungen, von denen er die ersten bei der Herzogin von Maine schrieb und deren beste er beim Kurfürsten von der Pfalz begann. Leider sind manchmal gewisse historische Voraussetzungen zum rechten Verständnis von Erzeugnissen nötig, die anderthalb Jahrhundert alt sind.
Will man diese Prosa gebührend schätzen, sollte man sich vielleicht in unseren Tagen am liebsten einer Vorbereitung unterwerfen, um sie zu genießen, und eine oder die andere der kleineren, ausgelassenen Facéties Voltaires lesen. Hier ist seine Kunst noch deutlicher ausgeprägt, die komische Kraft noch reizender, die geistige Überlegenheit fällt noch mehr auf, sogar für den, der ohne Voraussetzungen kommt.
Wir haben gesehen, wie lange Voltaire, der von den Jesuiten erzogen worden war, sich befleißigte, ihnen seine Dankbarkeit zu zeigen. 1749 schrieb er an Père Vionnet: »Ich habe lange unter der Fahne Ihrer Gesellschaft gekämpft. Sie haben kaum einen geringeren, aber keinen treueren Soldaten« – starke und recht possierliche Worte. Oft hat er später, trotz aller prinzipiellen Verschiedenheit der Ansichten, der Gesellschaft Jesu eine beinah kindliche Ehrfurcht erwiesen, und wenn die Jesuiten durchgehend ebenso viel Rücksicht auf ihren berühmten Zögling genommen hätten, so hätte alles gütlich verlaufen können. Aber es gab ja streitbare Jesuiten, und ihr Hauptorgan richtete einen Angriff nach dem andern gegen Voltaire, bis ihn Pater Berthier, der es redigierte, zu einer Antwort reizte, die trotz ihrer Stacheln besonders durch hinreißende Ausgelassenheit und unwiderstehlichen Witz wirkt.
Der Titel ist: Bericht über des Jesuiten Berthier Krankheit, Beichte, Tod und Offenbarung samt Bericht über die Reise des Bruders Garassise mitsamt allem, was darauf folgte und erfolgen wird.
Dieser Scherz stammt aus dem November 1759, und der Mann, dessen Tod scherzhaft geschildert wird, lebte noch dreiundzwanzig Jahre, vier Jahre länger als Voltaire. Er hatte lange das Organ redigiert, das Voltaire hartnäckig Le Journal de Trévoux nennt (vgl. z. B. sechzehntes Kapitel von Candide) nach der Stadt, in der es erschien. Sein richtiger Titel war: Mémoires pour servir à l'histoire des sciences et des beaux-arts. Berthier hatte sich eben nach der Stadt Bourges zurückgezogen und war von seinen Ordensbrüdern mit einer Pension belohnt worden. Das Journal war eine Kirchenzeitung und hatte die Aufgabe, Freidenkerei und Freidenker anzugreifen, also besonders Voltaire.
Die Erzählung beginnt:
Am 12. Oktober 1759 reiste Bruder Berthier zu seinem Unglück von Paris nach Versailles mit dem Bruder Coutu, der ihn gewöhnlich begleitet. In den Wagen hatte Berthier einige Nummern von Le Journal de Trévoux gelegt, die er seinen Beschützern und Beschützerinnen schenken wollte, dem Kammermädchen bei der Frau Amme im Schloß, einem königlichen Koch, einem der Apothekerjungen des Königs, und mehreren anderen hohen Herren, die das Talent zu schätzen verstehen. Auf dem Wege fühlte sich Berthier einige Male nicht wohl; der Kopf wurde ihm schwer; er mußte gähnen. – Ich weiß nicht, was mir fehlt, sagte er zu Coutu; ich habe in meinem Leben niemals derart gegähnt. – Ehrwürdiger Vater, sagte Bruder Coutu, das hebt sich auf. – Wie? Was wollen Sie sagen mit Ihrem: hebt sich auf? – Ich meine, antwortete Bruder Coutu, daß ich auch gähne, und ich weiß nicht weshalb, da ich den ganzen Tag nichts gelesen habe und Sie auch nicht mit mir gesprochen haben, seit wir zusammen unterwegs sind. – Während Bruder Coutu diese Worte sprach, gähnte er stärker als je. Berthier antwortete, daß scheinbar diese Gähnerei niemals ein Ende nehmen würde. – Der Kutscher drehte sich um, und als er die beiden geistlichen Herren gähnen sah, gähnte er mit. Das Übel steckte die Vorübergehenden an. Man gähnte in allen Häusern in der Nähe. Einen so großen Einfluß übt bisweilen ein einzelner gelehrter Mann nur durch seine Nähe aus.
Nach einigen Frostschauern fallen nun beide Reisende in Schlaf, und in einen so tiefen, todesähnlichen Schlaf, daß sie noch nicht aufgewacht sind, als der Wagen vor der Einfahrt von Versailles hält. Der Kutscher versucht, sie aus dem Wagen zu ziehen und zu wecken, aber es gelingt ihm nicht. Er ruft Hilfe herbei. Coutu, der robuster ist, gibt noch einige Lebenszeichen von sich, aber Berthier bleibt kalt. Einige Hofärzte, die vom Mittagessen kommen, gehen gleichgültig vorbei, ohne daß sie sich darum bemühen, nach den Kranken zu sehen, oder sie geben Erklärungen über deren Zustand ab, die aus der Luft gegriffen sind, bis ein hervorragender Arzt, der bei Boerhaave studiert hat, den Mund des Kranken öffnet, seinen verpesteten Atem merkt und entscheidet, daß er vergiftet ist, und zwar mit einem der stärksten und schlimmsten Gifte. Man fragt den Kutscher, ob er nicht vielleicht ein Paket Arzneien für die Apotheker in Versailles mithabe? – Nein, antwortet er, das einzige Paket, das ich auf Befehl des ehrwürdigen Vaters mitführe, ist dieses. – Er kramt im Korb der Kutsche herum und zieht zwei Dutzend Nummern von Le Journal de Trévoux hervor. – Da sehen Sie, meine Herren, hatte ich unrecht? fragt der große Arzt, und alle Anwesenden bewundern seinen erstaunlichen Scharfsinn.
Nun begreifen alle die Ursache des Übels. Auf der Stelle verbrennt man unter der Nase der Patienten das gefährliche Paket, und Berthier fühlt sich dadurch etwas besser; aber der Kopf ist angegriffen und die Gefahr noch nicht überstanden. Der Arzt kommt darauf, ihn eine Seite der Enzyklopädie in Weißwein nehmen zu lassen, worauf eine reichliche Entleerung von Galle erfolgt. Da sich der Zustand aber verschlimmert, ist man genötigt, einen Beichtvater zu holen. Der erste Priester, an den man sich wendet, will die Verantwortung für eine Jesuitenseele nicht übernehmen, der zweite geht mit. Dieser fragt unter anderem, ob der Sterbende Gott und seinen Nächsten liebe? – Ich liebe Gott, antwortet er, und meinen Nächsten, so weit ich es kann.
Haben Sie nicht oft schlechte Bücher gelesen, fragt der Beichtvater. Ich meine nicht die einfach tödlich langweiligen wie … (und nun folgen ein Dutzend Bücher von Verfassern, die Voltaire treffen will), sondern ich meine … (und nun wurden eine Anzahl theologischer Schriften aufgezählt, darunter Bücher des alten Jesuiten Sanchez, den Pascal seinerzeit angegriffen hat).
Berthier erklärt, daß er kraft seiner Stellung Erlaubnis hat, alles zu lesen; er ist der Redakteur von Le Journal de Trévoux. – Wie, Sie geben diese Schrift heraus, die alle guten Schriftsteller richtet und verurteilt? Wissen Sie nicht, daß derjenige, der zu seinem Bruder Racha sagt, dem höllischen Feuer verfallen ist? Und Sie führen rechtschaffene Leute, die darauf kommen, Sie zu lesen, in die Versuchung, Racha zu Ihnen selbst zu sagen! Zu Ihnen, der Sie so aufgeblasen alles richten, was Sie nicht verstehen. Zwei Laster haben Macht über Sie, Hochmut und Habgier. Ich kann Ihnen keine Sündenvergebung erteilen, wenn Sie nicht schwören, niemals wieder für Le Journal de Trévoux zu arbeiten.
Als sich Berthier weigert, versagt ihm der Priester die Sündenvergebung. Da kommt gerade Bruder Coutu gelaufen und ruft, schwitzend und stinkend: Um Gottes Willen nehmen Sie das Sakrament nicht aus seiner Hand! Wissen Sie, wer er ist? Der Herausgeber von Les Nouvelles Ecclésiastiques (die rivalisierende Kirchenzeitung). Er ist der Fuchs, der den Wolf bekehren will. Sie sind verloren, wenn Sie vor ihm beichten.
Vor Verwunderung, Scham und Zorn, kommen die Lebensgeister des Sterbenden einen Augenblick zurück. Schurke! ruft er, Feind Gottes, der Könige, der Jesuiten! Du bildest dir also ein, weniger langweilig und weniger fanatisch zu sein als ich! Lassen wir, daß ich gegen aufgeklärte Männer geschrieben habe, die sich nicht einmal herabließen zu antworten und mich zu vernichten! Bist du nicht vielleicht ebenso unverschämt gewesen? Müssen wir nicht gestehen, daß wir in diesem Jahrhundert, der Kloake der Jahrhunderte, die zwei elendesten Insekten von allen Insekten sind, die um den Misthaufen summen?
»Die Macht der Wahrheit zwang Pater Berthier, so in seiner Todesstunde zu sprechen. Er sprach wie ein Inspirierter. Aber bald trat der Todeskampf ein; er drückte Bruder Coutu die Hand. O, ehrwürdiger Vater, sagte dieser, Sie sind ein Heiliger, Sie sind der erste Schriftsteller der Welt, der selbst gestanden hat, daß er langweilig war, sterbt in Frieden!«
Der nächste Abschnitt: Bruder Berthier offenbart sich als Geist dem Bruder Garassise beginnt folgendermaßen:
Als ich, Bruder Ignaz Garassise am 14. Oktober 2 Uhr morgens erwachte, hatte ich eine Geistererscheinung. Vor mir zeigte sich als Gespenst Bruder Berthier, worüber ich von dem fürchterlichsten und längsten Gähnen gepackt wurde, das ich jemals kannte. – Sie sind doch tot, ehrwürdiger Vater? sagte ich. – Gähnend machte er mir ein Zeichen, das bedeuten sollte: ja! – Um so besser, sagte ich. Denn ohne Zweifel sind Euer Ehrwürden nun unter die Zahl der Heiligen aufgenommen. Sie müssen ja einen der ersten Plätze einnehmen. Welche Freude, Sie im Himmel mit allen Brüdern wiederzusehen. Macht es nicht ungefähr vier Millionen Verklärte von der Gründung des Ordens an bis auf unsere Tage aus? Sprechen Sie, ehrwürdiger Vater, gähnen Sie nicht mehr, aber geben Sie mir Aufklärung.
Der Verstorbene teilt ihm nun mit, daß er sich irrt; das Paradies sei ihm verschlossen. Und er, Garassise, müsse sich, wenn er in Zukunft am Journal de Trévoux arbeitet, davor hüten, zu verleumden, denn das werde im Himmel nicht vergeben; und davor, unvernünftige Folgerungen zu ziehen, denn auch das werde streng beurteilt; besonders aber müsse er sich in acht nehmen, langweilig zu sein, wie es zu sein Berthier das Unglück gehabt hätte, denn Langweiligkeit werde hier oben als die unverzeihlichste Sünde betrachtet. Berthier ist deshalb doch nicht in die Hölle, sondern in das Fegefeuer gekommen; dort soll er 333,333 Jahre, drei Monate, drei Wochen, drei Tage bleiben und er wird nicht entlassen, ehe man nicht einen Bruder findet, der demütig, friedfertig, unweltlich ist und der niemanden bei den regierenden Fürsten verleumdet.
Der Schlußabschnitt behandelt Bruder Garassises Ankunft von Lissabon in Paris im Jahre 1760; er gerät gerade in den Kreis der Brüder, die sich versammelt haben um zu bestimmen, wer das Journal de Trévoux nach Berthier übernehmen solle. Unter vielen anderen empfiehlt sich Fréron aufs beste: »Meine ehrwürdigen Väter,« sagt er, »ich bin Jesuit gewesen; ihr habt mich fortgejagt; aber ich gehöre zu euch; denn wie Horaz sagt: Lange bewahrt das Faß den Geruch von dem, was in ihm gewesen. Ich eigne mich für die Aufgabe. Ich bin unwissender, frecher und verlogener als jeder andere. Gebt mir das Journal de Trévoux in Pacht, und ich werde Euch zahlen, wie ich es kann.«
Man ist jedoch nicht geneigt, den Kindern des Hauses das Brot fortzunehmen und es den Hunden zu geben, wie in der Bibel steht, und Bruder Garassise macht seine Rechte geltend:
Ich bin von Berthier selbst erkoren, der mich gähnend zum Journalisten weihte. Ich habe am Journal de Trévoux gearbeitet, bis ich mich auf Euren Befehl nach Paraguai einschiffen mußte. Ich besitze Berthiers Feder, Catrous Fadheit, Porées Antithesen, Daniels Trockenheit. Ich erbitte so den Preis, der meinen Verdiensten gebührt.
Und das Journal wurde ihm einstimmig übertragen.
Auf wenige Seiten ist hier zusammengedrängt, was im Original mehr als anderthalb große Bogen füllt; aber der Extrakt ist gegeben. Und der Leser hat eine Vorstellung von dem Humor Voltaires in ausgelassener Polemik.
Voltaires kleinere und größere Romane drehen sich nicht selten um die Einschätzung des Lebens, um ein Abwägen seiner Güter und Lasten gegeneinander. Gegen die, die mit Pascal behaupten, die Erde sei ein Jammertal, macht der Verfasser von Le Mondain geltend, daß das Leben viele schöne Augenblicke habe und daß seine Zeitgenossen besser und glücklicher leben als ihre Eltern. Er widerspricht sein Leben lang eifrig dem Satz, daß der Denkende unglücklicher sei als derjenige, der nur vegetiert.
Eine Erzählung wie die kleine Histoire d'un bon Bramin erörtert das Problem, das fast hundert Jahre später wieder von Stuart Mill in Utilitarianism bei der Behandlung der Frage untersucht wurde, ob es besser sei, ein glückliches Schwein oder ein unglücklicher Sokrates zu sein. Voltaire hat keine Sympathie für die Lehre, daß der Einfältige allein glücklich sei. Der Unglückliche würde sich das Glück nicht um den Preis erkaufen, zu verdummen. Voltaire drückt es aus: »Er wird in der Regel die Vernunft dem Glück vorziehen.« Man könnte das vielleicht besser so ausdrücken: die stärkere Empfänglichkeit für das Leid ist kein zu hoher Preis für eine Erhöhung des gesamten Lebensinhaltes.
Man hat uns nun einmal die beiden törichten und pedantischen Ausdrücke: Optimismus – Pessimismus beschert, zwei dieser schrecklichen Wörter auf ismus, denen kein vernünftiger Inhalt entspricht. Wie ich bereits 1884 schrieb: Es ist unmöglich, Ausdrücke wie »das Gute« oder »das Böse« vom Leben zu gebrauchen, unmöglich, Bestimmungen wie »gut« oder »schlecht« auf das Weltall anzuwenden. Die Welt ist so wenig gut oder schlecht, wie sie blau oder gelb, wohl- oder übelriechend ist. Alle Zusammenstellungen von Lust- oder Unlustempfindungen im Leben, sowie alle Versuche, der letzteren Überzahl oder Minderzahl zu beweisen, sind unwissenschaftlich, da es uns an einem Maßstab für diese Werte fehlt.
Voltaire neigt dazu, zugleich die guten und die schlechten Seiten einer jeden Gesellschaftsform zu sehen.
In seiner allerersten Erzählung Le Monde comme il va hat er diesen Ton angeschlagen. Die Handlung ist, wie gewöhnlich in diesen kleinen philosophischen Novellen nach dem Beispiel Montesquieus in den Lettres Persanes nach dem Orient verlegt. Aber unter dem Namen Persepolis ist Paris sehr ausführlich geschildert, und zwar mit allen Lastern und allen Lächerlichkeiten der Zeit. Der weise Babouc ist häufig im höchsten Grade verärgert; aber stets entdeckt er etwas Nützliches sogar bei verderblichen Sitten und Gebräuchen, und neben vielem Abstoßenden und Verwerflichen etwas Anziehendes und Erfreuliches, so daß er schließlich zu dem Resultat kommt, wenn auch nicht alles gut sei, so sei es doch zu ertragen. Während der Prophet Jonas zu seiner Zeit darüber klagte, daß Ninive wegen seiner Laster nicht zerstört wurde, findet Babouc es richtig, daß Persepolis bestehen bleiben darf.
Dem entspricht es, wenn es in der kurzen Erzählung Le Crocheteur borgne heißt, daß das eine unserer Augen dazu dient, die guten Seiten des Lebens, das andere, die schlechten zu sehen. Man darf sagen, daß Voltaire keines der beiden Augen schloß. Sonst ist diese Geschichte nur ein lustiger und gut geschriebener Hinweis auf das Glück im Träumen und Phantasieren, als Gegengewicht gegen die Widrigkeiten der Wirklichkeit.
Cosi-Sancta ist ein frivoler Scherz, der einprägen soll, welche traurigen Folgen eine allzu strenge Tugend haben kann, während die im rechten Augenblick geopferte Tugend in kritischen Fällen das Leben teurer Wesen retten könne.
Die große Erzählung Zadig, die wie so viele andere dem Anschein nach orientalisch ist, im übrigen aber allegorisch, satirisch und märchenhaft, ist mit guter und glänzender Laune geschrieben, und verschmilzt die verschiedensten Bestandteile, persönliche Erinnerungen und alten Folklore. Der Schlußabschnitt über den Eremiten ist rein didaktisch, zeigt, daß nichts Zufall ist, alles Prüfung oder Strafe oder Belohnung oder Voraussicht, obwohl Voltaire es sich nicht versagen kann, die Lehre mit einem bezeichnenden aber … zu schließen, auf das keine Fortsetzung folgt. Die unzuverlässige Geliebte, die Zadig mit seinem Freund die Treue bricht, sobald er tot scheint, erinnert an Suzanne de Livry, die Voltaire mit Genonville hinterging, sobald er ins Gefängnis gesperrt wurde. Der König, vor dem Zadig von dem Neidhart verleumdet wird, und von dem es heißt: »Der König liebte die Poesie, und bei einem König, der Verse gern hat, gibt es stets einen Ausweg«, erinnert an Friedrich, von dem Voltaire noch kein Mißverständnis geschieden hatte. Wenn es heißt, Zadig wurde vor dem »Erzmagier Yebor, dem dümmsten aller Chaldäer und deshalb dem verfolgungsfrohesten« angeklagt, dann hat Voltaire natürlich an den Theatiner Boyer, den Lehrer des Dauphin, Bischof von Mirepoix, gedacht, von dessen Namen Yebor ein Anagramm ist.
In Zadig, der wie so viele der späteren Erzählungen halb Lebens-, halb Reisebeschreibung ist, ist Verschiedenes angelegt, wie es sich im Hauptwerke Candide wiederholt. Zadig und seine Geliebte, Astarte, bleiben die ganze Erzählung hindurch getrennt und finden sich erst ganz zum Schlusse wieder, wie im Candide die Hauptperson und Kunegunde. Zadig und Candide sind jedoch Gegensätze; Zadig ist der Weise, Candide der Einfältige.
Die allegorischen Züge sind rasch ohne Erklärung hingeworfen. Wenn die Königin auf keinen Fall blaue Augen haben darf, entspricht es dem, daß sie in den westlichen Ländern auf keinen Fall bürgerlicher Herkunft sein darf. Das eine ist nicht vernünftiger als das andere. Wenn Zoroaster verboten hat, Greife zu essen, und Zadig während der Auseinandersetzung, ob es überhaupt Greife gäbe, mit Recht behauptet, Zoroasters Verbot habe Geltung, ob es nun Greife gäbe oder nicht, so entspricht das der Bestrafung der Gotteslästerung in den modernen Staaten, ob es nun einen Gott gebe oder nicht. Es ist ganz natürlich, daß Zadigs Standpunkt einen Gelehrten reizt, der dreizehn Bände über die Eigenschaften des Greifs geschrieben hat. Ein Greif ist bekanntlich ein geflügelter Löwe mit einem Adlerkopf. Sage und Kunst haben Greife vielfach verherrlicht, wie sie gute Engel verherrlicht und böse Engel gebrandmarkt haben. Die Malerei hat das Lamm dargestellt, das von der Taube abstammt, überhaupt das ganze Gebiet des Glaubens, an dem sich Zadig klugerweise nicht vergreift. Trotzdem finden in der Erzählung die Eiferer, daß er der Religion nicht die schuldige Ehrfurcht erwiesen habe, wenn er sich nur die Möglichkeit denken kann, daß der Greif nicht existiere.
In das Kapitel, das den Titel »die Abendmahlzeit« führt, wo sich Mitglieder der verschiedenen Glaubensbekenntnisse treffen und ihren Glauben darlegen, ist wie in eine Nuß alles gedrängt, was in Flauberts Saint-Antoine zu dem großen Abschnitt über die Götter der verschiedenen Völker wird, nur daß Flaubert über den flachen Deismus erhaben ist, in den Voltaire das Gespräch münden läßt.
Memnon ist ein lustiger kleiner Scherz, der zeigt, wohin es führt, den Vorsatz zu fassen, sich stets vernünftig aufzuführen. Das Motto sagt:
Nous tromper dans nos entreprises,
C'est à quoi nous sommes sujets;
Le matin je fais des projets,
Et le long du jour, des sottises.
Die paar Blätter, die Bababec et les Fakirs heißen, sind eine ausgelassene Satire über religiöses Zeremoniell. Bababec ist ein Fakir, der das höchste Ansehen genießt, weil er mit einer Kette um den Hals nackt auf einem Holzstuhl sitzt, dessen spitzer Nagel in sein Hinterteil eindringt. Als Omri den Fakir fragt, ob er, Omri, nach dem Tode in Bramas Himmel kommen könne, wenn er sich auf nichts anderes zu berufen vermag, als daß er ein guter Bürger, ein guter Ehemann, ein guter Vater und ein guter Freund gewesen ist, bezweifelt Bababec, der sich seinen Platz im 35. Himmel gesichert hat, daß er weiter als bis in den 19. Himmel gelangen könne. Omri stellt dem Fakir dann dar, daß es verdienstvoller sei, für andere Kohl zu pflanzen als unaufhörlich seine Nasenspitze zu betrachten oder sich spitze Nägel in die Kehrseite einzutreiben, und schließlich überredet er Bababec, sich etwas Nützliches vorzunehmen und es sein zu lassen, sich auf Nagelspitzen zu setzen. Aber von dem Tage an geht es mit Bababec ganz zurück. Das Vertrauen des Volkes schwindet; die Frauen fragen ihn nicht mehr um Rat; und er wird so gezwungen, Omri zu verlassen und sich von neuem auf den Stuhl mit den spitzen Nägeln zu setzen, um die Achtung der Bevölkerung wiederzugewinnen.
L'Histoire des voyages de Scarmentado ist eine lustige Fahrt durch alle Reiche und Länder der Erde, die einen Überblick über die menschliche Verrücktheit und Rohheit in den verschiedenen Erdteilen und Staaten gibt. Die religiöse Unduldsamkeit wird in aller Kürze aber mit viel Witz verspottet. Scarmentado hat jedoch nicht nur Zeiten, in denen er aus religiösen Gründen verfolgt wird, sondern auch einzelne gute Augenblicke, wie den in Rom: »Une jeune dame de mœurs très douces, nommée la signora Fatelo (Tu es!), s'avisa de m'aimer … Je partis très content de l'architecture de Saint-Pierre.«
In allen Ländern in Europa flammen die Scheiterhaufen und blüht der Aberglaube. In Afrika machen die Neger ihn zum Sklaven in gerechter Vergeltung für die Sklaverei, in der die weiße Rasse an anderen Stellen die schwarze hält. Die Erzählung endet zart humoristisch: »Nach Verlauf eines Jahres wurde ich losgekauft. Ich hatte alles gesehen, was es Schönes, Gutes und Bewunderungswürdiges auf der Erde gibt; ich beschloß, in Zukunft nur in meiner Heimat zu wohnen: Dort verheiratete ich mich; ich wurde Hahnrei, und ich sah ein, daß das der angenehmste Stand und Zustand im Leben sei.«
Unter diesen kleinen Erzählungen, die Candide voraufgehen, wird man wieder und wieder nach Micromégas greifen, als derjenigen, die den stärksten Eindruck macht. Einflüsse von vielen Seiten vermischen sich hier. Man findet eine unzweifelhafte Beeinflussung durch Fontenelle, obgleich satirisch an ihn gedacht ist bei dem Zwerg vom Planeten Saturn, über den es heißt: »Sekretär der Akademie auf dem Saturn (wie Fontenelle der französischen), ein sehr geistreicher Mann, der sich wahrhaftig niemals etwas ausgedacht hatte, aber außerordentlich gut über die Erfindungen anderer Rechenschaft ablegen konnte.« Es gibt hier ferner einen deutlichen Einfluß von Cyrano de Bergeracs Reise nach dem Mond und von Swifts Gulliver. Aber Voltaires Eigenart ist so ausgeprägt, daß er trotz der Anregungen nicht nur originell wirkt, sondern auch stärker als seine Vorbilder. Das beruht auf seiner eigentümlichen, hoch entwickelten Erzählungskunst.
Baron Karl Heinrich v. Gleichen, der einmal dänischer Gesandter in Paris war, teilt in seinen Lebenserinnerungen mit, daß er im Jahre 1757 auf Les Délices häufiger den Maler Huber traf, der in der Genfer Gesellschaft als guter Erzähler sehr beliebt war. Als Huber eines Tages eine Geschichte beendet hatte, sagte Voltaire zu ihm: der Grundriß war vortrefflich, aber gestatten Sie mir, Ihnen zu zeigen, wie er hätte ausgeführt werden müssen. Dann goß er die Geschichte um, und wies dem Maler, wie man im Anfang hätte stark in Einzelheiten gehen und sofort alles berichten müssen, was zum genauen Verständnis der Erzählung dienen könnte; man müsse darauf die Hauptpersonen einführen, sie mit scharfen Strichen zeichnen, daß die Zuhörer ihre Gesichter, Bewegungen, Charaktere vor sich sähen; man müsse die Neugier wecken, spannen, zwischendurch auch enttäuschen; Episoden sollten kurz, klar und so angebracht sein, daß sie die Erwartung aufrecht hielten; man müsse schließlich den Verlauf der Geschichte beschleunigen, wenn man sich dem Ende nähere, und die Entscheidung selbst mit so wenig Worten wie möglich mitteilen.
Man sieht hieran, wie viel Voltaire über seine Form des Erzählens nachgedacht hatte, und woran es liegt, daß er durch seine Kürze alle Erzähler aus dem Felde schlägt.
Eine auffallende und unvergeßliche Stelle in Micromégas beschreibt, wie die Bewohner von Sirius und Saturn eine Schlacht auf der Erde beobachten. Die Art, wie der Siriusbewohner den Krieg beurteilt, der Unwille des Riesen über dessen Sinnlosigkeit, sein Mitgefühl mit den Opfern gehen einem nicht aus dem Sinn:
Kann man eine derartige Raserei verstehen! Ich hätte Lust, drei Schritt vorwärts zu gehen und mit drei Fußtritten den ganzen Ameisenhaufen lächerlicher Mörder zu vernichten. – Das lohnt die Mühe nicht, antwortet der Saturnbewohner; die arbeiten selbst genügend an ihrer Vernichtung. Wisse, daß in zehn Jahren nicht ein Hundertstel dieser Jämmerlichen übrig sein wird. Wisse, wenn sie einander nicht selbst mit den Waffen erschlagen, dann werden Hunger, Erschöpfung, Maßlosigkeit fast allen ein Ende machen. Außerdem sollte man nicht sie bestrafen, sondern die ruhig dasitzenden Barbaren, die in warmen Stuben, während sie behaglich verdauen, einer Million Menschen den Massenmord befehlen, und darauf in den Kirchen Gott feierlich danken.
Voltaires Abscheu vor dem Kriege verleugnete sich nie, nicht einmal bei seiner pflichtschuldigen Verherrlichung der Kriegshelden, oft nur sogenannter Helden. Man achte auf seinen Briefwechsel mit Friedrich dem Großen. Er sagte dem König ohne Umschweife seine Meinung über die Eroberung von Schlesien: »Ich wünschte, Sie hätten die Güte, mir, die Hand auf dem Herzen, zu sagen, ob Sie nun glücklicher sind als in Rheinsberg« (25. März 1741) und fast mit derselben Wendung (April 1742): »Ich weiß nicht, ob Sie jetzt in diesem ganzen Lärm der Berühmtheit glücklicher sind, als Sie in Remusberg in stiller Zurückgezogenheit waren.« Endlich nimmt er bei aller Bewunderung und allem Respekt kein Blatt vor den Mund im Briefe vom 26. Mai 1742, in dem es heißt: »Ich denke an die Menschheit, Sire, ehe ich an Sie denke; ich vergieße (wie der Abbé Saint-Pierre) Tränen über die Menschheit, deren Schrecken Sie werden, und erst danach kann ich mich Ihres Ruhms erfreuen.« Er drückt in diesem Briefe denselben Gedanken in Versen aus:
J'aime peu les héros; ils font trop de fracas;
Je hais ces conquérants, fiers ennemis d'eux-mêmes
Qui dans les horreurs des combats
Ont placé le bonheur suprême,
Cherchant partout la mort et la fesant souffrir
A cent mille hommes, leurs semblables.
Plus leur gloire a d'éclat, plus ils sont haïssables.
O ciel, que je dois vous haïr!
Je vous aime pourtant malgré tout ce carnage.
Und siebzehn Jahre später kommt er Friedrich gegenüber auf denselben Gegenstand zurück (Brief vom Juni 1759): »Glauben Sie mir, Sire, ich war für Sie geschaffen, und ich schäme mich, glücklicher als Sie zu sein; denn ich lebe mit Philosophen, während Sie nur vortreffliche Mörder in Uniform um sich haben. Ziehen Sie nach Sans-Souci, Sire! Nach Sans-Souci!«
Fügen wir Voltaires beißende Schilderung eines Sturmangriffs auf eine belagerte Stadt und ihre Einnahme hinzu, wo er allerdings den Mut beschreibt, aber auch die Greuel, den Triumph der Niedertracht, die im Dank an Gott und im Te Deum mündet, wo die ganze falsche, erlogene Herrlichkeit des Krieges geschildert wird:
Je n'ai cessé de voir ces voleurs de nuit
Qui, dans un chemin creux, sans tambour et sans bruit,
Discrètement armés de sabres et d'échelles,
Assassinent d'abord cinq ou six sentinelles;
Puis, montant lestement aux murs de la cité,
Où les pauvres bourgeois dormaient en sûreté,
Portent dans leur logis le fer avec les flammes,
Poignardent les maris, déshonorent les femmes,
Ecrasent les enfants, et, las de tant d'efforts
Boivent le vin d'autrui sur des monceaux de morts.
Le lendemain matin on les mène à l'église
Rendre grâce au bon Dieu de leur noble entreprise;
Lui chanter en latin qu'il est leur digne appui;
Que dans la ville en feu l'on n'eût rien fait sans lui;
Qu'on ne peut ni violer, ni massacrer son monde,
Ni brûler les cités, si Dieu ne nous seconde.
Damals stieg man auf Sturmleitern hoch, den Säbel in der Hand. Was würde Voltaire sagen, lebte er jetzt, wo der Säbel eine Waffe ohne Bedeutung geworden ist im Vergleich mit den Vernichtungswerkzeugen, die täglich angewandt werden, und wo zwei Gebiete, die bis zum zwanzigsten Jahrhundert friedlich waren, nämlich der Bereich unter der Oberfläche des Meeres und der Raum über der Erde, ungeheure Kampfplätze geworden sind, von denen aus ständig Sprengmittel angewandt werden.
Nur im Vorübergehen spricht Voltaire in Micromégas seinen Abscheu vor dem Kriege aus; die Erzählung, die die Relativität der irdischen Verhältnisse zeigt, hat einen allgemeineren Inhalt.
In Candide dagegen ist alles auf ein einziges Ziel gerichtet. Jede Einzelheit ist von der Tendenz beherrscht, den Optimismus lächerlich zu machen. Für Voltaires Geistesform ist es im Vergleich mit der seines Vorgängers Montesquieu bezeichnend, daß sein Zielpunkt nicht im Sozialen liegt, sondern die Weltanschauung selbst betrifft.
In vielem hat Montesquieu ihm ja allerdings vorgearbeitet. In den Lettres Persanes greift der gründliche Denker schärfer als jemals Voltaire die Grundlage der katholischen Gesellschaft an, die Ehe, die keine Scheidung kennt, und das geistliche Cölibat. Seine Perser finden die europäischen Einrichtungen verlogen und zweckwidrig, genau wie Voltaires Orientalen und Huronen sie finden. Montesquieu geht indessen unmittelbar auf die Angelegenheit ein. Man lese den 116. Brief über das Verbot der Scheidung: Anstatt durch dieses Verbot die Herzen zu vereinen, wie man beabsichtigte, hat man sie dadurch für immer geschieden. Auf einem Gebiet, wo das Herz frei verfügen können muß, hat man Hindernisse aufgestapelt, Zwang, Notwendigkeit angewandt, ein förmliches Fatum. Man hat nicht mit Abneigung, Launen, der Verschiedenart der Gemüter rechnen wollen. Man hat das Herz festigen wollen, d. h. das veränderlichste und unbeständigste in der Natur. Ohne Möglichkeit einer Lösung hat man Menschen fest aneinander gebunden, die einander müde und überdrüssig waren, und die außerdem fast niemals von Anfang an übereinstimmten; kurz, man hat wie die Tyrannen gehandelt, die einen Lebendigen mit einem Toten verknüpften.
Über das Cölibat sagen Montesquieus Perser im nächsten Kapitel: »Das Verbot der Scheidung ist nicht der einzige Grund für die Entvölkerung der christlichen Länder. Eine ebenso bedeutende Ursache ist die große Zahl von Eunuchen, die die Bevölkerung unter sich hat. Ich spreche von Priestern und Derwischen beiderlei Geschlechts, die sich ewiger Enthaltsamkeit weihen. Diese Keuschheit ist die Haupttugend der Christen, was ich nicht verstehe, da ich nicht begreife, wie etwas eine Tugend sein kann, das nicht weiter wirkt. Ich finde, daß ihre Gelehrten sich offenbar widersprechen, wenn sie sagen, daß die Ehe heilig ist und daß das Cölibat, der Gegensatz zur Ehe, noch heiliger ist … All diese Enthaltsamkeit hat die Bevölkerung stärker als Pest und blutige Kriege vermindert. In jedem religiösen Haus (in den Klöstern) eine große Familie, in der keine Geburt stattfindet, und die auf Kosten anderer Menschen unterhalten wird.«
Obwohl Voltaire in seinem Dictionnaire philosophique und im Essai sur les mœurs davon spricht, daß die Ehe nicht mehr als ein lösbarer Zivilvertrag sein sollte, und die Willkürlichkeit, mit der das Cölibat der Geistlichen in der katholischen Kirche eingeführt wurde, geschichtlich darlegt, sind doch Ehe und Scheidung keine der Fragen, die ihm am Herzen liegen, oder der Institutionen, auf deren Reformierung er brennt. Die Ehe war in der besten Gesellschaft des achtzehnten Jahrhunderts bereits in sich selbst eine anerkannte Form der Scheidung, und da die Sitten außerordentlich frei waren, fühlte man den Zwang dieser Einrichtung sehr wenig.
Voltaire macht sich mit einer anderweitig ausgedehnten Frage in seiner Haupterzählung zu schaffen, nämlich der: ist diese Welt wirklich, wie Leibniz meint und Pope behauptet hat, die bestmögliche aller möglichen Welten?
Mit jedem Jahr, das vergangen war, hatten ihn des korrekten Engländers Satz »Alles ist gut« und des deutschen Akademikers von der »vorausbestimmten Harmonie« stärker gereizt. Er, der sich anfangs lernwillig und anerkennend gezeigt hatte, als der Kronprinz Friedrich ihm eine Übersetzung seines lieben Wolff gesandt hatte, war der deutschen Metaphysik gegenüber längst mehr als ungläubig, ihrer müde und überdrüssig und von der Leere ihrer Scholastik überzeugt.
Er war ihr ja persönlich nahegetreten, als König seinerzeit nach Cirey kam und seine Freundin zu Leibniz bekehrte, so daß er in ihren Institutions physiques die ihm bereits damals verhaßten Sätze lesen mußte:
Diese Welt ist die beste aller möglichen Welten, die, in der die größte Abwechslung und Ordnung herrschen. – Alle Einwendungen, die man von den Übeln, die sich in der Welt finden, herleitet, verschwinden vor diesem Prinzip … Gott duldet sie im All, soweit sie in die bestmögliche Reihenfolge der Dinge gehören, und aus der sie nicht entfernt werden könnten, wenn nicht das All bestimmter Vollkommenheiten beraubt werden sollte; denn das gesamte All ist verbunden, und das geringste Ereignis hängt mit einer Unendlichkeit anderer zusammen. Die Vollkommenheit des Universums von einem einzelnen Übel aus beurteilen zu wollen, hieße, ein ganzes Gemälde von einem einzelnen Pinselstrich aus zu beurteilen.
Wie Voltaire damals schrieb: »Man kann sich keinen schärferen Gegensatz vorstellen als den zwischen Madame du Châtelets und meinen philosophischen Ansichten, während gleichzeitig die vollkommenste Übereinstimmung zwischen unseren übrigen Empfindungsarten herrscht.«
Voltaires Pangloss ist ein deutscher Metaphysiker, wie es König war. Doch die deutsche Metaphysik war ihm überdies im Jahre 1744 selbst feindlich entgegengetreten in der Person des höchst unbedeutenden Professors Marthin Kahle, des ordentlichen Professors an der Universität Göttingen, dessen Entgegnung auf Voltaires Elements de la Philosophie sogar ins Französische übersetzt wurde. Voltaire hatte auf diese unverständlich geschriebene Abhandlung über Freiheit, Raum, Voraussetzung und Folge, ausreichenden Grund, teils mit einem Brief an Kahle geantwortet, teils mit seiner Courte réponse aux longs discours d'un docteur allemand, deren Ironie die Ironie im Candide ankündigt und einleitet.
Candide ist so geschrieben, daß die Erzählung bei dem Widerwillen Voltaires gegen metaphysische Debatten auf Popes »Alles ist gut« und auf Leibniz' »Alles ist das möglich Beste« nicht mit Überlegungen antwortet, sondern mit Tatsachen. Die Antwort lautet: Sklaverei und Syphilis, dreißigtausend Tote beim Lissabonner Erdbeben, zehn mal soviel Tote und zahllose Verwundete im siebenjährigen Kriege, Glut und Flammen der Scheiterhaufen, Diebstahl und Betrug im täglichen Leben, Gewalt und Mißhandlungen – jede Einzelheit ein Schlag ins Gesicht für den faden und süßlichen Optimismus.
Als Candide einen Neger trifft, den ein barbarischer Herr furchtbar verstümmelt hat, sagt er: O Pangloss, diese Abscheulichkeit hast Du nicht vorausgesehen. Es ist aus. Ich muß Deinem Optimismus entsagen. – Was ist Optimismus, fragt Cacambo. – Ach, antwortet Candide, das ist der Irrsinn, der behauptet, Alles sei gut, wenn es einem schlecht geht. Und er vergießt Tränen beim Anblick des Negers.
Hätte man nach dem Lissabonner Erdbeben den unglücklichen Überlebenden, die verletzt zwischen den Ruinen lagen, zugerufen: »Alles ist gut, notwendige Wirkung notwendiger Ursachen; Dein privates Unglück bedeutet nichts, dient dem Wohle des Ganzen« – es hätte wie ein grausamer Versuch, witzig zu sein, geklungen. Alles ist gut, für wen? Augenscheinlich nicht für uns. Für einen Gott? Es ist klar, daß dieser Gott nicht unter unserem Unglück leidet. Welchen Trost bringen da Redensarten? Was nutzt es, den Verlästerten, den Verfolgten, denen, die auf dem Scheiterhaufen stehen und warten, daß die Flammen sie erreichen, versengen, schließlich über ihnen zusammenschlagen, zu erzählen, daß Alles gut ist, daß nichts Besseres von einer Vorsehung zu erwarten ist, die liebevoll alles umfängt?
Voltaire war veranlagt, Freude am Leben zu haben. Alles erfreute ihn, von einem guten Essen, einem guten Bett, einem fröhlichen Gespräch bis zum Anblick einer schönen Frau oder dem Eindruck von einem schönen Gedicht. Es machte ihm Freude, Dichter, Geschichtschreiber, Physiker, Baumeister, Tapezierer, Gärtner, Weinbauer, Bekämpfer von Irrtümern, Streiter gegen Dummheit und Aberglauben zu sein. Wenn er sein Zeitalter mit der Vergangenheit verglich, fühlte er mit Befriedigung, daß man ein Stück vorwärtsgekommen war.
Doch um die Mitte des Jahrhunderts nimmt seine Lebensfreude merklich ab. Es ereignet sich zu viel Grauenvolles im öffentlichen und in seinem privaten Leben. Lissabons Zerstörung gibt gewissermaßen das Signal zu all den öffentlichen Unheilsfällen. Die Ketzerfeuer flammen wieder auf. Der siebenjährige Krieg ertränkt in Blut die Hoffnung auf friedlichen Fortschritt. Die Studien aus der Weltgeschichte, die Voltaire für seinen Essai sur les mœurs vornimmt, wirken niederdrückend auf ihn:
Er sieht in der Geschichte wie rings um sich die Ungerechtigkeit des Schicksals und die Leiden der Menschen. Die Natur scheint Übel zu verschwenden; sie sprießen tausendfach aus dem kleinsten Keim. Das Schicksal spielt mit den armen Sterblichen, als spielte es Ball mit ihnen. Manchmal ist er geneigt, sich denen zu nähern, die da glauben, daß ein bösartiger Geist diese elende Welt zusammengezimmert hat. Überall, überall göttliche Grausamkeit und menschliche Dummheit!
Früher genoß er das Leben; jetzt findet er sich darin. Neue Nachrichten sind fast stets neues Unglück. Wenn man einige Zeit gelebt hat, sind alle Illusionen entflohen. Das Schicksal hält uns zum besten und reißt uns mit. Versuchen wir, versuchen wir … was für ein Wort! Nichts hängt von uns ab, wir können nichts bestimmen, wir sind Marionetten, von Mächten beherrscht, Atome, die Schickungen, die wir nicht verstehen, umher- und hinwegwirbeln.
Aus dieser Stimmung schießt Candide hervor, und da das Buch so gründlich vorbereitet ist, erfordert die Gestaltung fast keine Zeit, einige wenige Wochen. Zum Schluß wird Voltaire so begierig, es zu vollenden, daß er sich drei Tage hintereinander einschließt, seine Tür nicht öffnen will, außer um die Mahlzeiten und den Kaffee hereinbringen zu lassen. Kaffee verlangt er sogar recht häufig.
Am vierten Tage erzwang sich seine geängstigte Nichte Einlaß. Er warf ihr die eben vollendete Niederschrift hin und sagte nur: Da, neugierige Madame, ist etwas, was Du lesen kannst.
Wenn Candide nun auch auf jeder Seite den Optimismus ins Lächerliche zieht und verhöhnt, kann wohl deshalb gesagt werden, daß es den Pessimismus verkündet? Durchaus nicht. Das eine System ist Voltaire so verhaßt wie das andere. Er weiß, es gibt gutmütige Menschen, brave Menschen, wohltätige Menschen und macht kein Hehl daraus. Mit seinem rastlosen Drang zur Tätigkeit, seinem trotz allem unüberwindlichen Glauben an den Fortschritt, ist er ganz und gar nicht geneigt, prinzipiell schwarz zu sehen. Er selbst ist ja im Hafen; nur freut es ihn nicht, wie Lukretius das ausgedrückt hat, aus dem sicheren Hafen das wütende Gewitter zu beschauen. Seine Lebensfreude wird gedämpft durch Teilnahme, Mit-Leiden, Lebensweisheit, die erkennt, wo allein Trost zu finden ist.
Man lese aufmerksam den Schluß der Erzählung: Candide und seine Begleiter treffen außerhalb Konstantinopels einen guten, alten Mann, der vor seiner Tür unter einem Laubdach, das von Pomeranzbäumen gebildet wird, die frische Luft genießt. Sie fragen ihn nach dem Namen eines Mufti, der kürzlich in der Stadt erwürgt worden ist. Er weiß von dem Fall nichts, ladet die Reisenden aber in sein Haus ein, und richtet ein erlesenes Mahl für sie her. Seine Gastfreundschaft ist die eines Gutsbesitzers. Und er besitzt doch nur wenige Morgen Land, die er mit seinen Kindern bestellt. Die Arbeit hält drei große Übel von ihm und ihnen fort: Langeweile, Laster und Armut.
Dieser Ausspruch dringt tief in Candide ein. Pangloss erklärt, daß der Mensch nicht zur Ruhe geschaffen ist, und Martin räumt ein, daß es ein Mittel gibt, das Leben erträglich zu machen: zu arbeiten ohne zuviel zu grübeln. Die ganze kleine Gesellschaft bekehrt sich denn zu dieser Ansicht. Und jeder erweist sich für etwas tauglich. Sogar Bruder Giroflée wird ein guter Arbeiter, mehr noch: ein braver Bursche. Und als Pangloss wieder seine langen Vorträge beginnen will, daß Hoheit vor dem Fall steht, und daß alle Geschehnisse aufs engste verkettet sind in dieser bestmöglichen aller möglichen Welten, unterbricht ihn Candide mit den Worten: Wohl gesprochen, aber wir müssen unsern Garten bestellen.
Dies Laboremus, das man weder Ausdruck des Spottes, noch der Verzweiflung, noch der Schwarzseherei, noch des Selbstaufgebens nennen kann, ist Voltaires eigene schließliche Losung und der Trost, auf den er die Menschheit verweist.
Da Candide infolge der Idee der Dichtung durch eine Anhäufung tragikomischer Widrigkeiten und Schrecklichkeiten wirken muß, sagt das Werk empfindsamen Gemütern nicht zu. Dennoch ist es ein Meisterwerk. Als Improvisation niedergeschrieben, enthält es in zusammengedrängter Form eine mächtige Summe von Eindrücken und Erfahrungen, von gesunder und bitterer Lebensweisheit. Und mit scheinbarer Nachlässigkeit hat Voltaire hier eine kühne und sichere Kunst geleistet. Es ist überraschend, mit wie einfachen Mitteln Menschen und Zustände so geschildert sind, daß man sie nicht vergißt. Daß eine scherzhaft belehrende Dichtung wie diese nicht auf Seelenstudium angelegt ist, versteht sich von selbst. Aber doch ist alles mit jener Kraft gesehen und wiedergegeben, deren Wesen Knappheit und Kürze ist.
Kein geringerer als Delacroix bewunderte als außerordentliches Gemälde den Schiffbruch im fünften Kapitel. Er ist in zwanzig Zeilen geschildert, aber so, daß sich der Schiffbruch in Shakespeares Perikles kaum darüber erhebt. Oder man lese die Darstellung des Erdbebens in Lissabon im selben Kapitel. Voltaire opfert dafür kaum ein Dutzend Zeilen, aber man sieht, vernimmt, erlebt es.
Als Beispiel für die Art der Personenschilderung nehme man den spaßigen deutschen Metaphysiker Pangloss mit seinem Glauben an die Leibnizsche Formel, von dem ihn kein noch so trauriges unvorhergesehenes Schicksal heilen kann, und sein Gegenstück, den französischen Pessimisten Martin, in dessen Mund dies und jenes, was er gern gedruckt sehen wollte, zu legen, Voltaire Vergnügen gemacht hat. Er selbst hat ja gezeigt, wie verkehrt es in allen Ländern der Erde auf beiden Halbkugeln zugeht – nur nicht in dem herrlichen Land Eldorado, das man leider auf keiner Karte findet, und wo Candide die Reichtümer erwirbt, die er freilich danach beinahe ganz verliert.
Wovon sich Martin besonders übel berührt fühlt, ist der Menschen gegenseitiger Neid und Haß: Ich habe, sagt er, kaum eine Stadt gesehen, die nicht den Ruin der Nachbarstadt gewünscht hätte, keine Familie, die nicht gern alles Schlimme über eine andere Familie brächte. Überall verabscheuen die Schwachen die Mächtigen, vor denen sie kriechen, und die Mächtigen behandeln die Schwachen wie eine Herde, deren Felle und Fleisch sie verkaufen. Eine Million Mörder eilen, in Regimenter eingeteilt, von dem einen Ende Europas zum anderen, verüben unter strenger Disziplin Mord und Räuberei, verdienen damit ihr Brot in der Meinung, es gäbe keine ehrenvollere Laufbahn; und in den Städten, wo man die Glückseligkeit des Friedens genießt, werden die Menschen von so viel Neid und so vielen Sorgen verzehrt, daß das Unheil, das eine belagerte Stadt heimsucht, durchaus nicht schlimmer ist. Die heimlichen Sorgen sind zudem grausamer als das öffentliche Elend.
Glauben Sie, fragt in einem folgenden Kapitel Candide, daß die Menschen zu jeder Zeit einander niedergemetzelt haben, wie sie es heute tun, daß sie stets verlogen, heimtückisch, treulos, versoffen, habgierig, ehrgeizig, blutdürstig, verleumderisch, liederlich, fanatisch, heuchlerisch und dumm gewesen sind?
Glauben Sie, antwortet Martin, daß Habichte jemals, wenn sie Tauben erwischen konnten, darauf verzichteten, sie zu fressen?
Eine der unterhaltendsten und zugleich wahrsten Gestalten ist der Bruder der schönen Cunégonde, der westfälische Junker, der sogar als Jesuit in Paraguai, sogar als Galeerensklave in der Türkei seinen deutschen Adelshochmut unverändert bewahrt und sich bei dem Gedanken empört, daß seine Schwester mit ihren einundsiebzig Ahnen sich herablassen könnte, ihren Beschützer und Retter Candide zu heiraten.
Eine der treffendsten und am besten gezeichneten Szenen des Buches ist die, als Candide abends in Italien dazu kommt, im Wirtshaus mit nicht weniger als sechs vertriebenen Königen am Tisch zu sitzen, die Voltaire wegen der stärkeren Wirkung – zum besten für das Crescendo des Romans – sich schließlich alle während des Karnevals in Venedig treffen läßt. Diese Könige sind alle geschichtlich. Voltaire hat gleichsam der Stimmung vorgegriffen, die Alphonse Daudet viel mehr als ein Jahrhundert später über seinen Roman Könige im Exil gegossen hat.
Hier und da berührt Voltaire kürzlich eingetretene Ereignisse, sogar solche, in die einzugreifen er selbst versucht hat, wie im 23. Kapitel, wo Candide und Martin, die eben in England angekommen sind, Zeugen der unmenschlichen Hinrichtung des unglücklichen Admirals Byng werden.
Und wie wehmütig wirkt es nicht zum Schluß, wenn Candide, als der Don Quixote, der er ist, endlich mit seiner unter Leiden und aus der Entfernung angebeteten Dulcinea, genannt Cunégonde, zusammentrifft, die inzwischen alt, häßlich und dazu zänkisch geworden ist, und er als Mann von Ehre sie dennoch heiratet, trotz des Protestes des erbitterten Bruders, nach welchem er sich am allerliebsten gerichtet hätte.
Ebenso hatte in einem Roman des Abbé Prévost Mémoires pour servir à l'histoire de Malte der Held nach vielen Abenteuern schließlich seine Geliebte Helene häßlich zum Nichtwiedererkennen gefunden. Nur daß der Roman des Abbé Prévost heutzutage unlesbar und ganz vergessen ist, während Candide so lange leben wird, wie die französische Sprache gesprochen und geschrieben wird.
Im Gefühl der Unabhängigkeit und Sicherheit, das ihm mehrere Besitzungen und Aufenthaltsstätten gaben, zögerte Voltaire diesmal nicht, sein Werk herauszugeben. Seine Freunde erkannten seinen Stil; aber wie gewöhnlich beeilte er sich, diese Arbeit abzuleugnen, die auf dem Titelblatt trug: Übersetzt aus dem Deutschen von Dr. Ralph. Er schrieb an seinen guten Bekannten, den Genfer Pastor Jacob Vernes: »Ich habe endlich Candide zu lesen bekommen und ganz wie bei Jeanne d'Arc erkläre ich Ihnen, daß man von Vernunft und Sinnen sein muß, um mir eine derartige Schweinerei anzuhängen.« Ja, an seine eigenen Verleger, die Brüder Cramer, schrieb er vorsichtig: »Was ist das für eine Broschüre betitelt Candide, von der man sagt, es wäre ein Skandal, sie zu vertreiben, und die aus Lyon gekommen sein soll? Ich möchte sie gerne haben. Könnten Sie, meine Herren, mir nicht ein gebundenes Exemplar beschaffen? Es wird behauptet, einzelne Menschen wären unverschämt genug, mir diese Arbeit zuzuschreiben, die ich niemals gesehen habe.«
Trotz dieser kleinen Komödie, die im voraus zwischen den Verlegern und ihm verabredet war, gelang es diesen, eine nicht geringe Anzahl Exemplare in Genf einzuschmuggeln.
Im März 1759 wurde Candide beim Rat angegeben, der bestimmte, daß das Buch sofort vom Henker zu verbrennen sei, was zu Voltaires größtem Ärger geschah, und wofür er sich dadurch rächte, daß er kurz darauf Genf mit kleinen kirchen- und christentumsfeindlichen Flugschriften überschwemmte.
Die Behörden in Paris wie in Genf waren entrüstet. Die Enzyklopädisten hatten sie beinah aus der Fassung gebracht. Die Geistlichkeit drängte, daß heftig und entscheidend zugeschlagen würde. Helvetius' Buch De l'Esprit, das begreifliches Aufsehen erregt hatte, wurde vom Parlament verurteilt und vom Henker am 10. Februar 1759 verbrannt.
Die Enzyklopädisten selbst waren wehrlos und waren gezwungen, sich in die Angriffe der Heiligen und in die Übergriffe der Behörden zu finden. Sie hatten auf dieser Erde nur einen einzigen Beschützer und Fürsprecher, den Mann dort unten in der Schweiz; aber er reagierte auch schärfer auf jeden Schritt, der in Paris vorgenommen wurde, als diejenigen, die in der Stadt selbst waren, und er ganz allein bedeutete ein Heer.
Der Marquis Le Franc de Pompignan, der in seiner Einbildung Frankreichs größter Dichter war, hatte seinerzeit einen kleinen Zusammenstoß mit Voltaire gehabt; als er über den Inhalt von Alzire hatte berichten hören, hatte er sich beeilt, eine ähnliche Tragödie zu schreiben, worauf ein Streit um die Priorität entstand, der verwunderlicherweise zugunsten dessen entschieden wurde, der wirklich die Idee zuerst gehabt hatte. Da Voltaire ebenso wie Le Franc in freundschaftlichem Verhältnis zu dem Finanzmann Herrn de la Popelinière stand, hatte er nicht nur Streit vermieden, sondern mit größter Höflichkeit sich in ein freundschaftliches Verhältnis zu seinem Rivalen gestellt.
Dieser lebte in seiner Provinz und nachdem er in Paris Schöngeist geworden war, war er in der Provinz der große Mann geworden. Man bewunderte ihn, sobald er bloß den Mund öffnete. Die Akademien in Montauban und Toulouse brachten ihm Huldigungen dar. Als Präsident des Magistrats des Ortes war er ein kleiner Machthaber und fühlte sich in höchstem Grade als solcher. Im Jahre 1760, als Maupertuis durch seinen Tod einen Platz in der Französischen Akademie frei ließ, wurde dieser Le Franc zuteil, und in seinem Ehrgeiz und Hochmut beschloß er, die Gelegenheit zu einer weiteren Beförderung zu benutzen.
Es war immer sein Traum gewesen, dahin zu kommen, daß ihm die Erziehung der königlichen Prinzen übertragen wurde. Er kannte des Thronerben gottergebenes Gemüt und zweifelte nicht daran, daß eine Antrittsrede, die er als Mitglied der Akademie hielt, in der er den Unglauben verdammte und die er mit Anspielungen auf die Männer der Enzyklopädie und ihre Helfer spicken konnte, bewirken würde, daß die Wahl auf ihn fiel, falls ein Erzieher der Kinder des Dauphin ernannt werden sollte.
Er trat daher in seiner Rede ohne Umschweife als Feind derjenigen auf, die man damals Philosophen nannte, deklamierte voll Wärme, trug billige Wahrheiten mit tiefer Überzeugung und brennender Entrüstung vor, erhob die Religion, verfocht die Tradition, verteidigte leidenschaftlich die Sittlichkeit, schämte sich nicht, in der Zeit der Auflösung seine Liebe zu allem Edeln und Guten zu bekennen, brandmarkte wiederum nach Verdienst die falsche Literatur und die leere Philosophie des Jahrhunderts, die alle Stützen von Altar und Thron durchsägte.
Voltaire begriff, ein wie gefährlicher Mann diese aufgepustete Blase werden konnte, wenn er so hoch und sicher im Hause des Thronerben untergebracht würde, und er beschloß, das einzige Mittel anzuwenden, das er besaß, um Le Francs Beförderung zu verhindern, nämlich die spitze Nadel seines Witzes in diese Blase zu stechen, so daß sie platzte. Es galt, Le Franc de Pompignan derart mit Lächerlichkeit zu überhäufen, daß er unmöglich für einen vorgeschobenen Posten in Paris wurde.
In der akademischen Versammlung, an die er sich gewandt hatte, hatten die gesellschaftstützenden Mächte selbstverständlich mehr Anhänger als die Philosophen, und die Antwortrede, die von Dupré de Saint-Maur gehalten wurde, war eine so bis zur Geschmacklosigkeit unbedingte Verherrlichung, daß Le Franc sich als Sieger betrachten mußte. Er hatte einen Bruder Jean George, der Bischof in Puy war. In der Antwortrede wurde Simon le Franc als Dichter und Richter mit Moses verglichen, der Bischof mit Aaron: »In ihrem Wesen ruft alles das Bild der beiden Brüder herauf, von denen der eine zum Richter, der andere zum Hohen Priester geweiht wurde, damit sie Wunder in Israel vollbrachten.«
Fréron, der als Organ für Le Franc de Pompignan Bericht über die Ceremonie in seinem Blatt erstattete, bedachte sich nicht, diesen Vergleich »durchaus neu« zu nennen; er hatte für das Lächerliche dieser Schmeichelei kein Wort übrig. Le Franc erhielt die Erlaubnis, dem König seine Rede zu überreichen und ließ Fréron berichten, daß, als König Ludwig am selben Tage einen Hofmann fragte, wie er sie fände, und als dieser antwortete: »Etwas lang, Eure Majestät!« der König gesagt habe: »Das ist wahr; ich habe zwanzig Minuten gebraucht, um sie zu lesen, und sie muß in der Akademie länger gedauert haben; aber nach meiner Meinung ist sie ein vortreffliches Werk, übrigens wenig geeignet, den Beifall der Gottlosen und der starken Geister zu gewinnen.« Es versteht sich von selbst, daß Madame de Pompadour mit Seiner Majestät einig war.
Als er die königliche Anerkennung derart ins Publikum fließen ließ, schien es Le Franc, daß er sich nun aufs beste gegen jeden Angriff verbarrikadiert hatte, der von denen ausging, auf deren Kosten er sich hatte aufschwingen wollen, und die er deshalb ohne jede Art Herausforderung überfallen hatte.
Le Franc de Pompignan war doch nur für einen Tag Triumphator. Eine kleine Flugschrift von sieben Seiten, ohne Druckort, ohne Jahreszahl lag schon überall in Paris. Der Titel war: Les Quand, notes utiles sur un discours prononcé devant l'Académie française. Die Schrift hieß nur Wenn, denn jeder Abschnitt in dieser scharfen Kleinigkeit begann mit »Wenn«, und das Ganze war eine Lektion für den aufgeblasenen Gecken, kurz, nachdrücklich, überlegen, ohne Komplimente, ohne Verspottung, nüchterne Schläge. Der Stil ist:
» Wenn man in eine würdige Gesellschaft aufgenommen wird, soll man in seiner Rede unter dem Schleier der Bescheidenheit die unverschämte Einbildung verbergen, die hitzigen Köpfen und mittelmäßigen Fähigkeiten eigentümlich ist.«
Mit dieser Flugschrift hatte Voltaire ein Signal gegeben. Ihr folgte aus anderer Hand eine, die hieß Falls, dann eine, die hieß Warum (vom Abbé Morellet), dann wieder von Voltaire ein Hagel kleiner anonymer Flugschriften in Versen. Zuerst Les Pour, in der alle Strophen mit »Um« anfangen, dann Les Que, wo sie mit »Daß« beginnen, Les Qui, wo sie mit »Wer« beginnen. Les Quoi, Les Oui, Les Non, Les Car, Les Ah, Ah. Le Franc de Pompignan erinnert in allen diesen Gedichten, die jedes mindestens vier Strophen haben, an die armen militärischen Sünder, die vor dem Fenster Friedrichs des Großen 36 Mal Spießruten laufen mußten.
Der Ton ist übrigens freundlich ermahnend. Les Pour beginnt:
Pour vivre en paix joyeusement,
Croyez-moi, n'offensez personne:
C'est un petit avis qu'on donne
Au sieur Le Franc de Pompignan.
und schließt:
Pour prix d'un discours impudent,
Digne des bords de la Garonne,
Paris offre cette couronne
Au sieur Le Franc de Pompignan.
Doch das war nur die einleitende Musik. Die Hinrichtung war noch nicht erfolgt. Erst kam ein Epigramm wie dies, das auf Le Francs Übersetzung des Alten Testaments zielt:
Savez-vous, pourquoi Jérémie
A tant pleuré pendant sa vie?
C'est qu'en prophète il prévoyait
Qu'un jour Le Franc le traduirait.
Ein solcher Vers kann mit den Flötentönen verglichen werden, die den Sünder begrüßten, wenn er am Pranger stand.
Dann kam der Festgesang zu Ehren der beiden Brüder:
Moïse, Aaron,
Vous êtes des gens d'importance,
Moïse, Aaron,
Vous avez l'air un peu gascon.
De vous on commence
A ricaner beaucoup en France,
Mais en récompense
Le veau d'or est cher à Fréron.
Moïse, Aaron,
Vous êtes des gens d'importance.
Moïse, Aaron,
Vous avez l'air un peu gascon.
Man merkt, daß Voltaires Spott die Deiche durchbrochen hat; in der Ferne hört man das Meer des Gelächters brausen.
Dann folgt, datiert 20. Februar 1763 eine Lettre de Paris, worin erzählt wird, wie dem Schatzkammerkanzler ein Patent überbracht wurde, das alle Verdienste des Hauses Le Franc um den französischen Staat aufzählte, und auch alle Ehrenbezeigungen, durch die es geehrt werden müßte, mit dem Ersuchen, daß der Kanzler es unterzeichne. Als er es gelesen hat, ruft er den Sekretär des Königs zu sich und fragt ihn, ob er den Verstand verloren habe, wie es ihm einfallen könne, den König in derartigen Ausdrücken über Le Franc sprechen zu lassen. Er erhält die Antwort, daß die Formulierung dem Sekretär von Herrn Le Franc selbst übersandt sei; er habe jedoch schon drei Viertel der Lobpreisungen fortgestrichen. Streichen Sie das vierte Viertel auch fort! sagt der Kanzler.
Danach kam ein Brief vom Zahnarzt Herrn de L'Ecluse an seinen Priester, der anfängt:
Sie wissen, daß ich auf meine Kosten die Kirche in Tilloy instand gesetzt und die Kanzel ausgebessert habe, die zu zwei Dritteln verfault und morsch war; Sie haben mir kaum dafür gedankt; meine Freigebigkeit hat keinen Lärm verursacht, während Herr Le Franc unvergängliche Ehren genießt. Sie werden vielleicht einwenden, daß er sich diese Ehren selbst erwiesen hat; daß er selbst alles angeordnet, gemacht hat, bis zu der Predigt, die ihm zu Ehren in seinem Dorf gehalten wurde, und daß er selbst diese Predigt in Paris bei Barbou, Rue Saint Jacques, hat drucken lassen. Sie werden vielleicht geltend machen, wenn man auf die Nachwelt kommen will, muß man sich viele Mühe machen, und daß ich mir keine gemacht habe … Aber hätten Sie nicht meine Bescheidenheit überwinden, mich zwingen können, die Unsterblichkeit anzunehmen? Was hinderte Sie, die Kirche in Tilloy mit der heiligen Stadt Jerusalem zu vergleichen, die vom Himmel herniedersank?
Wie man sieht, war Le Franc so dreist und dumm gewesen, eine ihm zu Ehren gehaltene Predigt herauszugeben: Discours prononcé dans l'église de Pompignan, le jour de sa bénédiction, par M. de Reyrac.
Voltaire tut so, als ob der Zahnarzt unter all dem Weihrauch leide, der Le Franc dargebracht wird, und läßt ihn schließen:
Herr de Pompignan genießt jede erdenkliche Ehre, seit er seine schöne Rede in der Französischen Akademie hielt. Frankreich spricht nur von ihm, und ich bin vergessen. Ich frage die Herren Mitglieder der Akademie, ob das gerecht ist.
Direkt wundervoll ist die Broschüre von dreiundeinerhalben Seite, die nun folgt, sicher eines der feinsten witzigen Werke, das einer rächenden Feder entfloß: Relation du voyage de M. le Marquis Le Franc de Pompignan depuis Pompignan jusqu'à Fontainebleau, das nur im Anschluß an die erwähnte Predigt von Reyrac die Herrlichkeit Pompignans beschreibt, den Bericht aber ihm selbst in den Mund legt; er ist an den procureur fiscal des Dorfes Pompignan gerichtet. Die ersten Zeilen lauten:
Sie waren Zeuge meines Ruhmes, lieber Freund; Sie gingen in jener stolzen Prozession an meiner Seite, wo ich hinter einem jungen Jesuiten schritt. Alle Kirchenglocken der Gegend ließen sich vernehmen, alle Bauern bildeten meine Garde. Sie, mein Freund, hörten jene Predigt, in der es hieß, daß ich des Adlers Jugend habe und daß ich den Sternen nahesitze, während der Neid unter meinen Füßen stöhnt. Sie wissen, wieviel Mühe mir die Predigt gekostet hat; dreimal arbeitete ich sie mit Hilfe dessen, der sie aufsagte, um; denn man kommt mit seinem Namen nicht auf die Nachwelt, wenn man in der Gegenwart nicht seine Werke danach einrichtet.
Unter Voltaires gemischten Gedichten findet sich noch eine Hymne, gesungen im Dorfe Pompignan, die mit der ganzen Musikbegleitung abgedruckt ist. Sie beginnt:
Nous avons vu ce beau village
De Pompignan
Et ce marquis brillant et sage,
Modeste et grand,
De ses vertus premier garant
Et vive le roi et Simon Le Franc,
Son favori,
Son favori.
Je suis marquis, robin, poète,
Mes chers amis,
Vous voyez, que je suis prophète
En mon pays;
A Paris c'est tout autrement
Et vive le roi, etc.
Die ganze Hymne verdiente, angeführt zu werden; jede Strophe webt weiter an dem Narrenkleid, das schließlich wie ein Nessushemd über den Marquis geworfen wird und sich in sein Fleisch einfrißt.
Doch mit all dem noch nicht genug: Voltaire, der diese Maus zwischen den Tatzen hielt, wurde nicht müde, mit ihr Ball zu spielen. Er schrieb das prachtvolle und vernichtende Gedicht La Vanité, in dem er Le Franc beschreibt, obgleich erst die letzte Zeile des langen Gedichtes seinen Namen verrät:
Qu'as-tu, petit bourgeois d'une petite ville?
Quel accident étrange, en allument ta bile
A sur ton large front répandu la rougeur?
D'où vient que tes gros yeux pétillent de fureur?
Réponds donc! – »L'univers doit venger mes injures
L'univers me contemple, et les races futures
Contre mes ennemis déposeront pour moi.«
– L'univers, mon ami, ne pense point à toi,
L'avenir encor moins …
De quel image épais ton crâne est offusqué!
– »Ah, j'ai fait un discours, et l'on s'en est moqué!
Des plaisants de Paris j'ai senti la malice;
Je vais me plaindre au roi, qui me rendra justice;
Sans doute il punira ces ris audacieux.«
– Va, le roi n'a point lu ton discours ennuyeux …
– »Non, je n'y puis tenir; de brocards on m'assomme,
Les
quand, les
qui, les
quoi, pleurant de tous côtés
Sifflent à mon oreille, en cent lieux répétés.«
Das Gedicht geht weiter mit Hieben auf den einen Philosophenfeind nach dem andern. Der Jesuit Berthier wird auch hier nicht aus dem Auge verloren. Aber zum Schluß schwingt sich Voltaire zur Größe auf. In wuchtigen, stählern klingenden Worten spricht er wie Montaigne und wie Hamlet darüber, wie wenig der Mensch bedeutet, und wie lächerlich alle Einbildung ist, bis in der letzten Zeile der vernichtende Schlag auf das Haupt Le Francs fällt.
Piron seul eut raison, quand, dans un goût nouveau,
Il fit ce vers heureux, digne de son tombeau:
Ci-gît qui ne fut rien. Quoi que l'orgueil en dise,
Humains, faibles humains, voilà votre devise.
Combien de rois, grands dieux! jadis si révérés,
Dans l'éternel oubli sont en foule enterrés!
La terre a vu passer leur empire et leur trône.
On ne sait en quel lieu florissait Babylone.
Le tombeau d'Alexandre, aujourd'hui renversé
Avec sa ville altière a péri dispersé.
César n'a point d'asile où son ombre repose,
Et l'ami Pompignan pense être quelque chose!
Die letzte Zeile ist mit der unbändigen Kraft Voltaires so geformt, daß sie sogleich nach der Niederschrift zum Sprichwort wurde und – so wunderlich es klingt, so wahr ist es – sie fraß sich selbst ins Gedächtnis derjenigen ein, die ganz auf der Seite Le Francs standen; es war ihnen unmöglich, nicht über die Worte und über ihn zu lachen.
Man dachte mit Unruhe an die Zeit, da der Dauphin den Thron besteigen würde. In seiner Umgebung sprach man laut davon, daß Voltaire die Todesstrafe verdiente. Man fürchtete die Wiederkehr von Zeiten, die Johannes Huß auf den Scheiterhaufen hatten bringen können. Die Furcht war überflüssig, denn der Dauphin starb noch zu Lebzeiten Ludwig des Fünfzehnten am 20. Dezember 1765. Aber das Merkwürdige ist, daß, als der tief religiöse Pompignan eines Tages den tief religiösen Thronerben besucht hatte, um ihm seine Stimme in der Akademie anzubieten, für den Abbé Saint-Cyr, der zum Lehrerpersonal des Prinzen gehörte, der Dauphin sich an den Präsidenten Hénault wandte und lächelnd sagte:
Et l'ami Pompignan pense être quelque chose.
Und das schlimmste für den guten Marquis war, daß dieses Zitat aus dem Munde des Kronprinzen durch ganz Paris und ganz Frankreich lief. So großes Aufsehen erregte es, daß der Dauphin Voltaire zitierte.
Le Franc de Pompignan versuchte weiter sein Ansehen zu behaupten. Er überreichte dem König ein ausführliches Mémoire in dem die unglaublichen Worte standen:
Der ganze Hof war Zeuge des Empfanges, der mir seitens Eurer Majestät zuteil wurde. Die Welt sollte auch wissen, daß es den Anschein hatte, als beschäftigten Sie sich mit meinem Werk (der Antrittsrede) nicht wie mit einer vorübergehenden oder gleichgültigen Neuheit, sondern wie mit einem Erzeugnis, das der besonderen Aufmerksamkeit des Souverains nicht unwürdig war.
Da folgte Voltaires Extraits des Nouvelles à la main, de la ville de Montauban, in der erzählt wird, daß Verwandte des Burschen, der die Mémoire geschrieben hat, Bedenken bekommen hatten, ob es in seinem Kopfe auch richtig sei, und daß sie einen verläßlichen Advokaten nach seiner Stadt geschickt hatten, um über seinen Zustand Gewißheit zu erlangen:
Der Advokat fand ihn zwar aufrecht, aber mit wilden Augen und hohem Puls. Der Patient rief zuerst: Jehova! Jupiter! Herr!
»Ich bin nur ein Advokat«, sagte der Abgesandte, »ich heiße nicht Jehova.« – »Haben Sie den König gesehen?« fragte der Kranke. – »Nein, ich komme, um nach Ihnen zu sehen.« – »Gehen Sie und sagen Sie dem König von mir, daß er meine Mémoire noch einmal lesen solle, und bringen Sie ihm den Katalog meiner Bibliothek.« – Der Advokat riet ihm, kräftige Suppen zu essen, zu baden und früh zu Bett zu gehen. Bei diesen Worten bekam der Patient krampfhafte Zuckungen usw.
Der Kranke fängt dann an, Verse vorzutragen, die er übersetzt hat, allerdings sehr schlecht, teils deistische von Pope, von denen er jetzt aufrichtig bereut, daß er sie in seiner Jugend ins Französische übertragen hat, teils biblische, die keiner liest – diese heiligen Hymnen, über die es in Voltaires Le pauvre Diable heißt:
Sacrés ils sont, car personne n'y touche.
Der Advokat vergießt Männertränen, als er den bedauerlichen Zustand des Patienten sieht, und es bleibt ihm nicht anderes übrig, als der Familie mitzuteilen, daß der arme Pompignan verrückt geworden ist.
Verrückt wurde er gerade nicht, aber so elend von all den Witzen, die auf ihn niederhagelten, daß er sich zum Schluß nicht hinauswagte – die Leute fingen an zu lachen, wenn sie ihn sahen – ja, er bekam einen derartigen Ruf als eitler Geck, daß eines Abends im Théâtre Français, als sein Schauspieler, wie es Brauch war, die Vorstellung des Abends anzeigte: Pompignans Didon, darauf Pont-de-Veyles's Le fat puni (Der bestrafte Narr) die Zuschauer in einen derartigen Jubel ausbrachen, daß man dies Lustspiel nicht öfter nach Pompignans Jugendarbeit zu spielen wagte.
Voltaire gab dann noch den kleinen Scherz Les Ah heraus.
Ah! Ah! Moses Le Franc de Pompignan! Sie wollten ja die ganze Literatur zum Erbeben bringen. Sie waren ja eines Tages der Wichtigtuer, der einem armen Teufel den Hinterteil verhieb. Der empfing die Schläge mit Respekt. Aber dann kam ein mutiger Mann, der dem Wichtigtuer nachdrücklich den Hinterteil vollhieb. Da drehte sich der arme Teufel, der geprügelt worden war, um und sagte zu seinem Büttel: Ah! Ah! Sie hatten mir nicht gesagt, daß Sie eine Memme waren. Und nun prügelte er seinerseits den Wichtigtuer gehörig durch, worüber sich seine Nächsten nun wieder freuten. Ah! Ah!
So zermahlte Voltaire in ganz kurzer Zeit den Mann, der nahe daran war, eine leitende Stellung am Hofe des Thronfolgers einzunehmen und der in seinem Übermut die Enzyklopädisten, Freidenker und Voltaire selbst dem Haß der höchsten Stelle ausgeliefert hatte. Und er erreichte es ohne irgendeinen persönlichen Angriff, nur dadurch, daß er den Moralisten in Lächerlichkeit ertränkte.