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Ungefähr vom Jahre 1760 an tritt Voltaires Beruf als Beschützer, als Helfer der Schwachen und Hilflosen, stärker und stärker hervor, bis er bald darauf es als seine Aufgabe fühlt, der Fürsprecher und Retter der vom Fanatismus Mißhandelten zu sein.
Er beginnt damit, Menschenliebe etwas größeren Stils als üblich zu zeigen, Güte und Hilfsbereitschaft an den Tag zu legen, nimmt sich darauf kleinerer Leute oder vornehmer Wehrlosen an, denen freches Unrecht angetan wurde.
Ein Vetter Pierre Corneilles starb arm, da er sein Vermögen verloren hatte, als er unvorsichtig für einen Freund als Bürge eingetreten war. Der Sohn dieses Mannes Jean François Corneille lebte in großer Armut als mouleur de bois, Holzmesser (ein niedriger Posten in der Landpolizei), später als Briefträger in einem Dorfe bei Evreux. Er war ohne jede Bildung, konnte kaum lesen oder schreiben, wußte nicht einmal etwas davon, daß der Name, den er trug, einer der größten Frankreichs sei.
Man sagte ihm jedoch, daß er als ein Corneille ein Vetter des berühmten Fontenelle sein müsse, und in seinem Elend beschloß er, die lange Reise nach Paris zu unternehmen, um seinen einflußreichen Verwandten um Unterstützung und Protektion zu bitten. Aber Fontenelle war damals 97 Jahr alt und trotzdem er durchaus nicht geistesschwach war, hatte er gänzlich den Zweig der Familie, dem Jean François angehörte, vergessen. Als dieser sich einen Enkel Pierre Corneilles nannte, betrachtete ihn Fontenelle als Betrüger; er wußte nicht, daß der Großvater des armen Verwandten denselben Vornamen gehabt hatte wie sein berühmter Neffe. Fontenelle hinterließ denn auch weder Jean François noch dessen Geschwistern irgend etwas.
Für eine kurze Zeit halfen Fontenelles Erben dem Mann; dann versiegte die Hilfe. Aber ein alter Literaturfreund, Titon du Tillet, der voller Sorge davon gehört hatte, in welcher Armut der letzte Träger des Namens Corneille lebte, empfahl ihn Fréron, der als Herausgeber einer Wochenschrift Verbindungen und Einfluß besaß. Fréron ließ Jean François ein Gesuch an die Schauspieler am Théâtre Français richten, und diese spielten »zum Besten für einen Neffen des großen Corneille« dessen Tragödie Rodogune und darauf Dancourts Bourgeoises de qualité, und da das Publikum den doppelten Preis und noch mehr für die Plätze bezahlte, kamen nicht weniger als 5000 Livres ein. Dem armen Mann schien also Hilfe verschafft zu sein; aber fast die ganze Summe ging für die Bezahlung von Schulden drauf. Nur ein geringer Rest wurde beiseite gelegt, um der achtzehnjährigen Tochter, Marie Corneille, eine gute Erziehung in der Abtei Saint-Antoine zu sichern. Doch als der Vater bald auch diese Restsumme gebrauchte, nahm er die Tochter aus der Erziehungsanstalt des Klosters.
Der alte Titon du Tillet nahm sich da des jungen Mädchens an und vertraute sie seinen Nichten an, als der junge Lyriker Le Brun, der sie bei dem alten Mann gesehen, die Idee bekam, einen Appell an Voltaire zu richten, sich ihrer anzunehmen, und im Namen des Dichters Corneille richtete er an dessen junge Verwandte eine poetische Epistel und legte ihr dar, daß der jüngere Nebenbuhler des großen Corneille der einzige richtige Beschützer ihrer Jugend sei. Die erste Strophe lautet:
Un rival de mon nom (si quelqu'un le peut être),
Voilà le protecteur que tu dois reconnaître;
Tu peux en l'implorant l'élever jusqu'à toi.
Voltaire est ce rival, du moins si j'ose en croire
Les récits que la Gloire
Sur la rive des morts en sema jusqu'à moi.
Dem Gedicht lag ein Brief Le Bruns bei. Mit gewohnter Großzügigkeit antwortete Voltaire auf der Stelle, und er entschloß sich so schnell, das junge Mädchen zu adoptieren, daß er sich nicht einmal die Zeit nahm, irgendwelche Erkundigungen über sie einzuziehen. Er bildete sich ein, sie wäre eine direkte Enkelin des großen Corneille und fragte nicht einmal, wer und was ihr Vater war. Er schrieb: »Es ziemt sich für einen der Soldaten des großen Corneille zu versuchen, sich dem Kindeskind seines Generals nützlich zu erweisen.« Man sollte die junge Dame nur nach Lyon an Tronchins Adresse senden. Von dort würde er sie durch eine Kammerjungfer in seinem Wagen abholen lassen.
Es ist unmöglich, sich mit größerer Verbindlichkeit auszudrücken, als es Voltaire in seiner Antwort an Le Brun tat. Er verstand es in seinem Feingefühl, die Verhältnisse umzudrehen, als ob ihm eine Aufmerksamkeit erwiesen würde.
Wenn es ihr recht ist, stehe ich ihr zur Verfügung, und ich hoffe, Ihnen bis zur letzten Stunde meines Lebens dafür danken zu können, daß Sie mir die Ehre verschafft haben, zu tun, was Fontenelle getan haben sollte. Ein Teil der Erziehung des Fräuleins wird darin bestehen, daß sie uns hin und wieder Stücke ihres Großvaters spielen sieht, und wir wollen sie Szenen aus Cinna und dem Cid sticken lassen.
Als Voltaire erfuhr, daß Marie Corneille ganz und gar nicht von Pierre Corneille abstammte, bildete er sich ein, daß sie ein Sproß des Bruders Thomas wäre. Das war ja nicht weniger unrichtig. Auf alle Fälle schrieb er sofort einen Brief an sie, der nicht nur Feingefühl verrät, sondern eine ganz besondere Teilnahme, da er ihr versichert, sie würde bei ihm jeden Beistand bei der Ausübung religiöser Pflichten, soweit sie ihn wünschte, finden, außerdem könne sie sich nach Lust und Gefallen mit Musik, Lektüre oder Handarbeit beschäftigen.
Wenn Sie Neigung haben, Unterricht in Geographie zu nehmen, werden wir einen Lehrer kommen lassen, der sich sehr geehrt fühlen wird, eine Nachkommin des großen Corneille belehren zu können; aber ich werde mich viel mehr geehrt fühlen, daß Sie bei mir wohnen.
Sie solle nicht an ihre Aussteuer denken. Seine Nichte würde für Wäsche und Kleider sorgen. Sie werde die besten Lehrer bekommen und in einem halben Jahr würde sie die Chimène im Cid spielen können.
Marie Corneille kam im Dezember 1760 an und gefiel. Sie erwies sich als natürlich, lebhaft und ehrlich, hatte eine kleine Hundeschnute, aber die schönsten Augen und einen großen appetitlichen Mund mit zwei Reihen weißer Zähne. Sie gefiel allen, war lustig, sanft, arbeitsam. Voltaire schrieb ihrem Vater und beglückwünschte ihn, eine solche Tochter zu haben und dankte ihm, daß er sie ihm überlassen habe. Er war weit davon entfernt, sie eine untergeordnete Stellung im Hause einnehmen zu lassen und behandelte sie wie die Tochter des Hauses.
Natürlich mußte ihre Erziehung von vorn beginnen. Voltaire lehrte sie Rechtschreibung, lehrte sie ein reines und schönes Französisch sprechen, verbesserte ihre schlechte Aussprache, verbesserte die Briefe, die sie ihm ständig schreiben mußte. Ja, er ging sogar mit ihr zur Messe.
Trotzdem erhoben die Heiligen im Lande ein Geschrei darüber, daß das arme Mädchen mit dem großen Namen diesem Jugendverführer, diesem Vertreter der Gottlosigkeit ausgeliefert worden war. Sie hatte sich in einem Kloster, dem Vorhof des Paradieses, aufgehalten, und war nun in Tournay, dem Vorhof zur Hölle! Und wie man es erwarten konnte, ließ sich Fréron, an den man sich ja ihretwegen im Anfang gewandt hatte, die Gelegenheit nicht entgehen, kräftig zuzuschlagen. Wie er es gewöhnlich tat, drückte er sich mit ruhiger Spitzfindigkeit aus und erst in den letzten Zeilen seines Artikels stieß er mit seinem vergifteten Messer zu. Er schrieb (Année littéraire 1760 VIII 164):
Man glaubt nicht, welches Aufsehen Herrn de Voltaires Edelmütigkeit in der guten Gesellschaft erregt. Man spricht darüber in den Zeitungen, Zeitschriften und allen öffentlichen Blättern, und ich bin überzeugt, daß diese prunkenden Anzeigen eine wahre Qual für den bescheidenen Dichter sind, der ja weiß, daß das Hauptverdienst bei rühmlichen Handlungen ist, daß man sie verheimlicht. Wenn soviel Wesen aus der Sache gemacht wird, nimmt es sich auch aus, als ob Herr de Voltaire nicht gerade die Gewohnheit hätte, ähnliche Beweise von Herzensgüte zu geben und daß es für ihn etwas sehr Außerordentliches ist, einen mitfühlenden Blick auf das Unglück zu werfen. Jedoch ist es erst ein Jahr her, daß er dasselbe Wohlwollen einem Herrn de l'Ecluse erwies, einem früheren Schauspieler der Opéra Comique, den er in sein Haus aufgenommen hat, den er mit einem Wort wie einen Bruder behandelt. Man muß zugeben, daß Fräulein Corneille, wenn sie das Kloster verläßt, in gute Hände geraten wird.
Diese heimtückische Andeutung traf gleichzeitig Voltaire, Fräulein Corneille und de l'Ecluse, nannte einen Verführer, ein Opfer und einen Kuppler.
Voltaires Erbitterung kannte keine Grenzen. Er antwortete zuerst damit, daß er erläuterte, wer zu seinem Hausstand gehörte, und damit zeigte, daß das junge Mädchen dort nur den besten Umgang haben würde; danach stellte er fest, daß l'Ecluse allerdings vor fünfundzwanzig Jahren einmal auf einem Theater aufgetreten war, sich aber seit damals als Zahnarzt ernährt, niemals bei ihm gewohnt hatte, nur vor vier Monaten gekommen war, die Zähne seiner Nichte nachzusehen, im übrigen in Genf wohnte. Dann behauptete er, die Angelegenheit gehöre vor das Strafgericht; gewann Le Brun dazu, François Corneille eine Klage einreichen zu lassen. Aber Malesherbes, der Literatur und Presse unter sich hatte, war zu Voltaires Leidwesen nicht geneigt, das Gericht wegen der beleidigenden Worte in Bewegung zu setzen, und es geschah nichts.
Die Folge war, daß ein Landedelmann, der in der Hoffnung, ein adliges und gut erzogenes Mädchen zur Braut zu bekommen, um Fräulein Corneilles Hand angehalten hatte, sein Wort zurückzog; er hatte bei Fréron die Bemerkung über sie und l'Ecluse gelesen, und aus Frérons Artikel außerdem erfahren, daß ihr Vater ein Bauer war, der zur Zeit monatlich 50 Livres als Landbriefträger verdiente. Er hatte niemals den Cid gelesen und glaubte, man wollte ihn zum besten halten, als man ihm erzählte, daß Fräulein Corneilles Adel 200 Jahr alt war.
Da Voltaire für sein Mündel keine Genugtuung durch das Gericht erlangen konnte, gab er die oben erwähnten Anecdotes sur Fréron heraus.
Dieser fiel nicht weniger über Le Brun wegen seiner Ode an Voltaire her als über den, an den die Ode gerichtet war. Er versuchte, jeden Satz dieser Ode lächerlich zu machen, schleppte sich wie eine Schnecke von Wort zu Wort und bedeckte sie alle mit seinem Schleim.
Le Brun blieb ihm die Antwort nicht schuldig. Er gab zuerst L'Ane littéraire ou les âneries de maître Aliboron heraus, dann La Wasprie ou l'âne Wasp, die beide von Schimpfwörtern strotzten. Aber er beleuchtete in diesen Flugschriften Frérons gründliche und komische Unwissenheit. Dieser hatte sich über eine Vorrede des Quintus Curtius ausgelassen, die es nicht gibt, er hatte über Falaris gesprochen, der seine Opfer über ein Bett streckte; er meinte Prokrustes; er hatte Thespis den Schöpfer der Komödie statt der Tragödie sein lassen; er hatte gesagt, daß eine Sophonisbe (bei Corneille) nicht die Sprache der Zärtlichkeit sprach wie Athalie (bei Racine). Er schien also niemals Racines Tragödie gelesen zu haben, wenn er sich einbildete und seinen Lesern einreden wollte, daß die böse Königin die Sprache der Zärtlichkeit sprach.
Es war öfters die Rede davon gewesen, daß die Académie Française eine Ausgabe der großen Schriftsteller Frankreichs veranstalten sollte. Nun kam Voltaire der Einfall, um Mademoiselle Corneille eine nennenswerte Mitgift zu verschaffen, selbst die Werke Pierre Corneilles mit einer Einleitung und durchgeführtem Kommentar unter dem Text herauszugeben. Er schrieb sofort an die französische Akademie, wandte sich besonders an seinen alten Beschützer, ihren Sekretär Père Olivet, mit den Worten, er besäße die Unverfrorenheit, die Akademie zu bitten, ihm Corneille zu überlassen. Er würde Bogen für Bogen seines Werkes an die gelehrte Versammlung senden und sich deren Rat und Kritik erbitten; sein Urteil über Corneille sollte am liebsten als eine Ansicht erscheinen, die nicht seine persönliche Meinung war sondern der Spruch der berufensten Kritiker.
Tatsächlich schickte er auch die Abschnitte, aus denen sein Werk bestehen sollte, besonders an D'Alembert; er erhielt als Antwort sehr viele kritische Winke, richtete sich allerdings nur wenig nach ihnen, was auch das beste war. Denn das Werk würde nicht gewonnen haben, wenn man ein Dutzend Hände darin spürte.
Er verstand, nur durch seinen Namen alle vermögenden Männer und Frauen nicht nur in Frankreich, sondern in Europa für die Arbeit zu interessieren, die er zum Wohle seines Pflegekindes übernommen hatte. Ludwig der Fünfzehnte und Elisabeth von Rußland, der Kaiser und die Kaiserin zeichneten jeder für 200 Exemplare. Madame de Pompadour und Choiseul jeder für 50 Exemplare, der Hofbankier La Borde brachte 100 Subskribenten zusammen, die Vereinigung der Generalpächter 60, Voltaire selbst subskribierte auf 100 Exemplare. Das vornehme England, das den barscheren Corneille dem feineren Racine vorzog, war unter den Subskribenten mit vielen seiner größten Namen vertreten, die Lords Chesterfield, Lyttleton, Palmerston, Spencer, der Herzog von Gordon. Das vornehme Frankreich stand auf der Liste mit Namen wie Kardinal Bernis, Graf von Clermont, Herzog von Villars. Und als das Geld so reichlich hereinströmte, faßte Voltaire sofort den hübschen Gedanken, jedem französischen Dichter und Schriftsteller ein Exemplar ohne Bezahlung anzubieten.
Es ist nicht zu viel gesagt, daß er mit Begeisterung an seine Arbeit ging. Wohl war er in seinem Herzen ein weit größerer Bewunderer Racines als Corneilles; aber von seiner Jugend an hatte er warm und stark für die schönsten Tragödien des Vaters der französischen Trauerspiele empfunden, und es ging ihm wie den meisten, mit den Jahren waren die schlechteren Arbeiten und die mißglückten Einzelheiten aus seinem Gedächtnis geschwunden, so daß nur das Gute vor ihm in seinem Glanze bestand.
Bei näherer Betrachtung und eingehendem Studium verlor sich der Glanz etwas, und die Mängel traten in einer ihn selbst erschreckenden Weise hervor. Die Freimütigkeit seiner Kritik erschreckte doch weit mehr die Freunde, an die er seinen Entwurf sandte. Wir haben z. B. D'Alemberts Brief nach dem Empfang der Kritik über Cinna, einen sehr schönen Brief, der fein und rücksichtsvoll andeutet, daß er selbst und die ganze Akademie den Wunsch hegen, das Werk möge ein Denkmal werden, deshalb aber auch den Wunsch, daß niemand bei einer der Tragödien entgegengesetzter Meinung sein könne (eine starke Forderung); deshalb bitte man Voltaire, seine Urteile einer Durchsicht zu unterziehen und äußerste Sorgfalt und Achtsamkeit zu zeigen.
Wahrheitsliebend, wie Voltaire war, fand er nichts zu ändern.
Wer vor seinem zwanzigsten Jahr zum erstenmal diesen großen zweibändigen Kommentar zu Corneille gelesen hat, ist versucht gewesen, ihn widerwillig, beinah feindlich zu finden mit seinen zahllosen Verwahrungen und Verbesserungen, und der Gedanke liegt nahe, den der Verfasser dieses Werkes in jenem Alter geteilt hat, und den viele Feinde Voltaires geäußert haben, daß eine Art Neid auf den großen Vorgänger den Nachfolger befallen und ihm die Lust eingegeben hatte, ihn herabzusetzen. Diese Vorstellung hat nicht das geringste für sich. Voltaire ist hier vollkommen ehrlich, und wir sehen, daß literarisch gebildete Zeitgenossen, wie z. B. Bernis, ihn gerade in der umstrittenen Kritik über Cinna zu zahm finden.
Eine andere Sache ist, daß Voltaires, wie später Laharpes Kritik, die Kritik des 18. Jahrhunderts überhaupt, für uns nahezu unlesbar ist. Wir vertragen nicht diese Erläuterung von Zeilen und Glossen, diese Erklärungen, welche sprachlichen Wendungen unklar oder veraltet seien, all dies Kleinliche, das wir bereits in der Kritik über La nouvelle Héloïse wirksam gesehen haben. Daß Voltaire mit den Jahren immer konservativer geworden ist und stärker auf Regeln hält, ist gleichgültig und verschwindend im Vergleich zum Zerstückelten seiner Kritik.
Man hofft eine Zeitlang, größere zusammenfassende Übersichten über das Wesen und Werk Corneilles zu finden. Dann sieht man sich gezwungen, die Hoffnung aufzugeben. Voltaire ist ein philologischer Kritiker, wie später verschiedene kritische Mittelmäßigkeiten im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert. Er geht in Einzelheiten auf, sieht den Wald vor Bäumen nicht, und nicht den Baum vor Blättern.
Er versäumt gewiß nicht, darauf aufmerksam zu machen, was Corneille in Einzelheiten seinem spanischen Vorbild zum Cid verdankt, aber hier hatte ihm der Dichter selbst die Arbeit erleichtert. Bereits bei Le Menteur läßt Voltaire den Leser im Stich, sagt nur, daß man nicht weiß, wem Corneille hier nachgeahmt hat, Lope oder Roxas. Er kennt und nennt nicht einmal Alarcóns La verdad sospechosa.
Endlich hat er kein Wort für die Hauptsache übrig, inwiefern Corneille sich nach den Spaniern gerichtet und in welchen Punkten er sich von ihnen entfernt hat.
Der römische Katholizismus, der eine entschiedene Herrschaft über den Geist der Spanier ausübte, beherrschte auch Corneilles Seelenleben. Er war ein Zögling der Jesuiten gewesen und blieb in ständiger Verbindung mit ihnen. Sowohl Polyeucte wie Théodore sind in ihrer Religiosität von den Spaniern beeinflußt. Das Königtum, das in der spanischen Comedia so stark hervortritt, tut es auch bei Corneille, bei dem die Fürsten stets höhere Wesen sind; aber bei den Spaniern fand auch das Volk auf der ernsten Bühne seinen Platz. Der Bauer war manchmal Held, manchmal Ritter, manchmal Aufrührer (wie in einem Drama von Lope) ganz abgesehen von der Rolle, die der Gracioso als lustiges Gegenstück zur Hauptperson spielt. Schon bei Corneille wurde das Volk von dem französischen klassischen Theater verwiesen. Und scherzhafte Szenen wurden prinzipiell von der Tragödie ausgeschlossen als gegen die Würde des ernsten Dramas verstoßend.
Bei Corneille hat die Frau, wie überhaupt in Frankreich, eine größere Selbständigkeit als bei den Spaniern und auf der spanischen Bühne. Nicht in Frankreich, sondern in Spanien war es strafbar, eine Dame anzureden. Die Sitten waren gemildert; die orientalische Absperrung der Frau fand nicht statt. Deshalb gibt es bei Corneille im Gegensatz zu den spanischen Dichtern viel gesunden Menschenverstand und Humanität. Er hat als Franzose nicht die glühende Einbildungskraft der Spanier. Die Vernunft leitet und ordnet bei ihm, was die Einbildungskraft erfindet. Die Rede verdrängt die Ereignisse. Spanisch ist dennoch sein Hang, seine Helden und Heldinnen vor eine schmerzliche Zwangswahl zu stellen. Sie können in der Regel Skylla nur entgehen, wenn sie in Charybdis fallen.
In den spanischen Dramen handelte es sich immer um die Ehre im Gegensatz zur Leidenschaft. Corneille ersetzte die Ehre durch die Pflicht; der spanische Held war der Sklave der Ehre, der französische ein Höriger der Pflicht.
Die Liebe, die bei den Spaniern das Lebensprinzip war, wurde bei Corneille in die zweite Reihe geschoben. Nicht, wenn er Guillén de Castro im Cid übersetzt, aber sonst immer. Corneille hegte keine Ehrfurcht vor der Liebe, betrachtete sie als ein recht niedriges Gefühl. Er schrieb an St. Evremond: »Die Liebe ist ein Gefühl, das zu stark mit Schwächen verknüpft ist, um die Dominante in einem heroischen Schauspiel zu sein,« und abgesehen von der Partie, die er in Molières Psyche einschob, hatte er stets eine gewisse Geringschätzung für das Erotische an den Tag gelegt. Er hat diese Verse geschrieben:
Que l'on commence d'être heureux
Quand on cesse d'être amoureux,
Lorsque notre âme s'est purgée
De cette sottise enragée
Dont le fantasque mouvement
Bricole notre entendement.
Vernunft oder Verstand waren für ihn wie für die Dramatiker des achtzehnten Jahrhunderts in Frankreich das Grundwesen des Menschen, und er füllte seine Dramen mit Personen, die auf ihre natürlichen Gefühle verzichten, um mit übermenschlicher Energie die Macht des Willens darzutun. Hatten die Spanier die Ehre über alles gepriesen, so pries Corneille wie gesagt den Willen, und da dieser ein neutrales Element ist, ähneln seine Männer und Frauen einander immer mehr.
Sein Theater ist also halbspanisch, insoweit er Castro, Alarcón, Lope usw. nachgeahmt hat und insoweit die beiden lateinischen Dichter, denen er am stärksten nachgestrebt hat, Seneca und Lucanus, beide spanischer Herkunft waren (aus Corduba). Sein Theater ist halbfranzösisch, weil er sich in so vielen Punkten von dem spanischen Ideal entfernt und dem französischen folgt.
Wenn es ihm nicht gelungen ist, Europa wie Shakespeare oder Lope oder Calderón oder Goethe zu interessieren, so beruht es darauf, daß besonders das englische und spanische Drama wildwachsende Pflanzen waren, während Corneille die klassische französische Tragödie in einem Treibhaus aufzog.
Es versteht sich von selbst, daß alles dies Voltaires Blick entging.
Allmählich hatte Voltaire Ferney zu einem der heitersten Plätze in Frankreich gemacht. Nicht nur das Schloß war im damaligen Stile schön gebaut und von Gärten mit seltenen Pflanzen umgeben, sondern er hatte sich als ein nützlicher Mann für die ganze Gegend erwiesen, in der er wohnte. Er hatte vom Rat in Genf Erlaubnis erhalten, die Sümpfe auszutrocknen, die die Provinz mit ihrem Gestank verpesteten und die Gegend unfruchtbar machten. Er ließ riesige Heidestrecken bebauen und, wie bereits angedeutet, vom ersten Tage an war er darauf bedacht, seiner Umgebung etwas zu verschaffen, wovon sie leben konnte, Wohlstand, ja sogar Überfluß zu verbreiten in der verkommenen Bevölkerung, die seine Nähe segnete. Ganz besonders war er darauf bedacht, seine Lehnsleute gegen Übergriffe zu schützen.
Hierin ging er im Anfang zu weit, als er Unbilliges mit juristisch Unzulässigem verwechselte, wie als er seine Untergebenen mit aller Kraft in ihrer Weigerung unterstützte, den Zehnten an den Pfarrer eines Nachbardorfes, Moens, zu zahlen; sie hatten sich mehrere Jahre hindurch für berechtigt gehalten, diese Abgabe nicht zu entrichten, waren aber nun zu ihrer Bezahlung durch eine Ordre des Parlamentsgerichts in Dijon (1758) verurteilt worden. Zwei der angesehensten Bauern wurden deshalb ins Gefängnis in Gex gesperrt, und als sich Voltaire vergeblich ihrethalber an verschiedene geistliche und weltliche Behörden gewandt hatte, gab er schließlich aus seiner eigenen Tasche die 2 100 Livres, die zu bezahlen sie außerstande waren.
In der nächsten Angelegenheit, die ebenfalls den Priester in Moens, einen gewissen Ancian betraf, war das Unrecht zweifellos auf der Seite des Priesters.
Dieser Pfaffe hatte eines Tages erfahren, daß drei junge Männer aus dem Flecken Sacconnex, die von der Jagd zurückgekommen waren, bei einer Witwe namens Burdet, deren Ruf nicht der beste war, eingekehrt waren, um dort Abendbrot zu essen, und ein gewisser Dubi, der das mitgeteilt, hatte hinzugefügt, daß sie nun gewiß dort säßen und sich über den Pfarrer lustig machten. Das genügte, damit sich Ancian vom Tisch erhob, an dem er selbst mit zwei Berufsgenossen speisend saß, eine Anzahl Bauern mit sich nahm, noch verschiedene in einem Wirtshaus am Wege warb, sie selbst mit Stöcken und Keulen bewaffnete, »so schwere, daß man damit einen Ochsen vor die Stirn schlagen konnte«, das Haus umstellte und mit vier, fünf seiner Begleiter in die Küche drang, wo die drei Jäger saßen und ihr Mahl hielten. Sein Beweggrund scheint gewesen zu sein, daß er in die Witwe sinnlos verliebt war, und ihr rief er denn auch wie ein Besessener zu: »So sitzt ihr also hier und reißt meinen guten Namen und Ruf herab!« Er schlug einen Jagdhund mit einem Keulenschlag nieder, und da der junge Herr des Hundes ihn zur Rechenschaft forderte, antworte er mit einer Ohrfeige. Darauf fielen seine Begleiter über zwei der Jäger her und streckten sie durch Stock- und Keulenschläge auf den Kopf zu Boden. Als der dritte sein Messer zog, schlugen sie auch ihn über den Kopf, bis er bewußtlos dalag. Die Bauern trampelten auf den Gefallenen herum; als einer von den dreien sich dem Tode nahe glaubte und rief: »Soll ich ohne Beichte sterben?« schrie der Priester: »Stirb wie ein Hund, stirb wie ein Hugenot!«
Wie man sieht, bekam Voltaire es hier mit einem temperamentvollen Priester zu tun. Zwei der Verletzten waren von der Macht und dem Einfluß des Priesters zu überzeugt um einen Protest zu wagen. Der Vater des dritten, namens de Croze, reichte eine Klage ein, deren Verfasser zu erraten leicht ist. Voltaire schreibt an Gabriel Cramer: »Der Fall des armen de Croze würde in jedem anderen Lande als Frankreich unfaßbar sein. Ein Priester! Ein überlegter mörderischer Überfall! Ein Priester verbürgt seinen Mitschuldigen ihre Sicherheit! Er verdient das Rad und ist immer noch straffrei.« Der Priester war sehr reich, Voltaire hoffte, dem Verletzten reichlichen Schadenersatz zu verschaffen. Aber lange wagte dieser nicht, die Klage einzuleiten. »Er erschlägt mich dann«, sagte er. – »Um so besser«, antwortete Voltaire, »das fördert unsere Sache,« Und er strebte mit aller Macht danach, den Priester auf die Galeeren zu bringen, um seinem Untergebenen Genugtuung zu verschaffen. Das war jedoch leichter gesagt als getan. Der Priester wußte, daß er mächtige Beschützer hatte. Die er überredet hatte, an dem Überfall teilzunehmen, ergriffen die Flucht. Er selbst blieb ruhig, wo er war.
Der Präsident de Brosses, der den Vater des Überfallenen de Croze als einen anständigen, liebenswürdigen Mann kannte, sprach sich in Briefen scharf gegen die Gewalttätigkeit des Priesters aus; er machte Voltaire jedoch offen Vorwürfe, daß er sich in die Angelegenheit gemischt und im voraus die Zeugen bearbeitet habe, deren Unparteilichkeit vollkommen sein sollte. Er lehnte es ab, den Jesuiten Fessi in den Prozeß einzubeziehen, der von Voltaire beschuldigt wurde, der Tochter des Klägers gedroht zu haben, er würde ihr keine Absolution erteilen, wenn sie ihren Vater nicht dazu bewog, die Klage fallen zu lassen. Es gab nämlich keine Strafe, zu der ein Priester gesetzlich verurteilt werden konnte, weil er ein Beichtkind nicht zur Absolution geeignet gefunden hatte.
Voltaire mußte sich damit begnügen, daß der Priester verurteilt wurde, an de Croze 1500 Livres Schadenersatz zu zahlen – was ja sicherlich eine bedeutend leichtere Strafe als Galeere und Rad war. Dazu hatte noch Voltaire unmittelbar zuvor, um seine Bauern von dem ihnen von Ancian erpreßten Zehnten zu befreien, selbst 2100 Livres an ihn gezahlt, wovon dieser also mit Leichtigkeit 1500 entbehren konnte.
Um diese Zeit begann Voltaire in eigener Sache einen Rechtsstreit, den obenerwähnten mit dem Präsidenten de Brosses, einen Streit, der auf einer traurigen Verirrung seines Rechtsgefühls oder eher seiner Rechthaberei beruhte.
Präsident de Brosses, der dem Senat von Burgund angehörte und die höchste Amtsperson in Dijon war, zu dessen Parlamentsgericht Ferney juristisch gehörte, war ein in jeder Weise bedeutender Mann, fein, sarkastisch, geistreich und gelehrt, ein lebhafter Geist in einem kleinen Körper, ein gewissenhafter Beamter, ein unterhaltender Gesellschafter, aber fest wie Stahl, wenn es galt, das Gesetz anzuwenden.
Er war 1756 in Genf mit Voltaire zusammengekommen und hatte sich in hohem Grade von ihm angezogen gefühlt. Er war selbst literarisch veranlagt, Verfasser der reizenden, erst viel später herausgegebenen Briefe von der Reise, die er 1739 und 1740 durch Italien unternommen hatte. Er hatte außerdem eine sehr ernste und gründliche Studie über Sallust geschrieben und den Versuch unternommen, die verlorenen Teile des Werkes des Römers zu rekonstruieren. Er eignete sich in jeder Weise für die Freundschaft Voltaires, und es schien, als sollte diese Freundschaft auf beiden Seiten gestärkt werden, als ihm Voltaire die kleine Grafschaft Tournay abkaufte.
Zuerst tauschten die beiden ausgezeichneten Männer nur Höflichkeiten aus. Voltaire, der auf Lebenszeit kaufte, hatte dem Präsidenten mitgeteilt, daß dieser ein gutes Geschäft machte, da er selbst höchstens noch fünf, sechs Jahre leben könnte. Der Präsident antwortet: »Wie? Sie verpflichten sich, nur noch fünf, sechs Jahre zu leben. Keinerlei Paragraph dieser Art, wenn ich bitten darf! Sonst wird nichts aus dem Handel. – Ich verlange im Gegenteil, daß Sie, wenn wir einig geworden sind, das Jahrhundert bis zum Ende leben, um ihm Glanz zu verleihen und es aufzuklären. Die Vorsehung würde sich ein schönes Renommee verschaffen, wenn sie Sie nicht länger als Fontenelle leben ließe. Sie genießt von vornherein schon kein allzu großes Ansehen in der Öffentlichkeit«, und er schreibt in einem folgenden Briefe: »Soll ich Ihnen ein Geheimnis anvertrauen? Vor einem Mann wie Ihnen will ich nichts verbergen. Als der Engel des Schicksals Zadig durch die Welt führte, legte er in diesem alten Schloß (Tournay) einen Talisman nieder, der bewirkt, daß man dort nicht stirbt. Mein alter Onkel wurde 91 Jahr und dessen Großvater 87 Jahr alt. Es ist Wahnsinn von mir, mich von einem Ort zu trennen, der auf ganz andere Weise eine wirkliche Unsterblichkeit sichert als die Akademie.«
Man kann sich nicht liebenswürdiger ausdrücken, wenn man ein altes Besitztum verkaufen und sich mit dem Käufer gut stehen will, ihm nicht besser zeigen, welchen Wert man auf seine Existenz und sein Lebenswerk legt.
Nach einigem Schwanken wurde der Handel von Voltaire abgeschlossen, der jedoch bald einsah, daß die Stellung als Lehnsherr Unannehmlichkeiten mit sich brachte. Einer seiner Bauern, namens Panchaud, dem man Nüsse gestohlen hatte, hatte sich mit einem Säbel bewaffnet und hieb eines Tages so gewaltsam auf einen Nußdieb ein, daß er deshalb beinah zum Galgen verurteilt worden wäre. Er kam zwar mit Landesverweisung davon, aber er wurde zu hundert Pistolen (Dukaten) Kosten verurteilt, die er natürlich nicht bezahlen konnte, und Voltaire als Schloßherr war denn verpflichtet, sie für ihn zu entrichten.
Diese juristisch begründete, aber menschlich gesehen, unbillige Ausgabe reizte Voltaire, und er wurde nun als Herr von Tournay bei jeder neuen Rechnung, die man ihm vorlegte, nervös.
Er selbst sagte scherzend, daß er seinen Einzug in Tournay wie Sancho Pansa seinen auf der Insel hielt. In Wirklichkeit war der Einzug, wie wir aus einem Briefe der Genferin Madame Galantin ersehen, recht prachtvoll. Er fand am Tage vor Weihnachten 1758 statt. Sie schreibt:
Man erwies ihm alle mögliche Ehre; Kanonenschüsse, Musketenschüsse, Trommeln und Pfeifen. Alle Bauern unter Waffen. Die Schüsse erschreckten die Pferde vor seinem Wagen. Kleine Mädchen brachten ihm Apfelsinen in Körben, die mit Bändern umwunden waren. Herr de Voltaire war sehr zufrieden und heiter. Er empfand keinen geringen Unterschied zwischen dem Empfang hier und dem in Ferney, wo es nur Bauern gab. Er war in Gala, seine Nichte mit Diamanten geschmückt … Der Priester hielt eine Rede. Herr de Voltaire sagte zu ihm: »Bitten Sie, um was Sie wollen, zur Instandsetzung Ihres Pfarrhauses; ich gebe es.« Die jungen Mädchen der Gemeinde brachten den Damen Blumen. Man hatte sich Artillerie in Genf geliehen und einen Mann zur Bedienung der Kanonen. Das Wohl des neuen Schloßherrn wurde unter Begleitung von Kanonenschüssen ausgebracht. Ich schwöre Ihnen, daß ich glaube, er hat sich niemals so wohl gefühlt.
Kaum hatte Voltaire das Eigentum übernommen, als er mit dem Umbauen, Zuschneiden, Fällen, Niederreißen, Umbauen, Aufbauen, Anbauen, Verändern, Verbessern begann. Er hatte versprochen, im Laufe von drei Jahren für 12 000 Livres Ausbesserungen vorzunehmen. Im ersten halben Jahr hatte er bereits mehr als 15 000 Livres ausgegeben. Die Einnahmen, die das Gut ergab, wurden benutzt, das überraschend große Elend in der Gegend zu lindern.
Er hatte sich verpflichtet, nicht den Wert des Eigentums zu vermindern, sondern es bei seinem Tode im selben Zustand zu hinterlassen, in dem er es übernommen hatte. Der Präsident, der ein etwas schwieriger Herr war, erfuhr, daß Voltaire ein Wäldchen entfernt hatte, in dem es nur Kiefern und Eichenstämme gab, um statt dessen eine Wiese zu schaffen, die mehr einbrachte. Er verlangte denn ein Inventar des Eigentums, um die Veränderungen kontrollieren zu können, und beauftragte einen Herrn Girod damit, seine Interessen wahrzunehmen, ein Vorgehen, das Voltaire verletzte. Es würde ja nicht leicht zu entscheiden sein, ob verschiedene der vorgenommenen Änderungen mehr in seinem eigenen Interesse oder dem des Eigentümers waren.
Das war die Lage, als die ernste, wenn auch an sich ganz unbedeutende Streitfrage entstand. Als Voltaire Tournay kaufte, war kürzlich in den Wäldern gefällt, und das Holz an einen Holzhändler mit Namen Charlot Baudy verkauft worden. Da Voltaire Brennholz brauchte, um die Zimmer im Schloß zu heizen, sagte ihm der Präsident de Brosses, daß dieser Bauer noch Vorrat habe, und Voltaire, der eben den Boden gekauft hatte, auf dem dieses Holz lag, meinte nun, daß was er gebrauchte, ihm mit Recht zukam. Als sich also Baudy mit seiner Rechnung für vierzehn Klafter Brennholz (drei Silbertaler für den Klafter) einfand, weigerte er sich zu bezahlen, indem er behauptete, daß das Holz mit zum Kauf des Gebietes gehörte.
Hieraus entstand ein peinlicher und törichter Streit. Der Präsident schreibt (30. Januar 1761:
Baudy behauptet, Sie hätten ihm geantwortet, als er Sie um Bezahlung des Ihnen gelieferten Brennholzes bat, ich hätte Ihnen das Brennholz als Geschenk gegeben. Ich bitte Sie zu entschuldigen, daß ich eine solche Angabe wiederhole; Sie verstehen, daß ich weit davon entfernt bin, zu glauben, Sie könnten derartiges gesagt haben, und weit entfernt davon, seinen Worten das geringste Gewicht beizulegen. Aber er ist ja ein unwissender Bauer, der Sitte und Brauch in der guten Gesellschaft nicht kennt und nicht weiß, daß man seinem Freunde zwar einen Korb Pfirsiche oder ein halbes Dutzend Küchlein schicken kann, daß dieser es aber höchst sonderbar finden würde, wenn man ihm die Aufmerksamkeit erwiese, ihm vierzehn Klaftern Brennholz zu senden …
Da Voltaire es mit seiner gewöhnlichen Hartnäckigkeit ablehnte, dem Bauer sein Holz zu bezahlen, und der Präsident seine Bezahlung von dem Bauer verlangte, führte dieser Streit um ein Nichts vorläufig dazu, daß der Präsident Baudy vor den Richter forderte und Baudy Voltaire.
Dieser, dessen Reizbarkeit bis zur Unvernunft gestiegen war, schrieb nun de Brosses einen schnaubenden Brief, worin er behauptete, der Bevollmächtigte des Präsidenten, Girod, hätte seiner Nichte gesagt, daß de Brosses beabsichtige, diese nach Voltaires Tode zu ruinieren, falls sich Voltaire nicht ein für allemal Tournay für 50 000 Taler kaufte. Er entwickelte in dem Briefe weiterhin, welchen unvorteilhaften Handel er in blindem Vertrauen gemacht habe, wieviel ihn die Reparaturen bereits gekostet hatten, und andere überflüssigen und kränkenden Redereien – das unüberlegte Geschwätz eines aufgeregten Mannes.
Der Präsident sandte Voltaire den Brief zurück, nachdem er auf dem Rand seine Antwort geschrieben hatte, wohl das schärfste, was Voltaire jemals von einem hervorragenden Manne erhalten, seit er Friedrichs zornigen Brief über den Prozeß mit Hirschel bekommen hatte.
Erinnern Sie sich, mein Herr, des vernünftigen Winks, den ich Ihnen früher eines Tages im Gespräch gegeben habe, als Sie mir von den verschlungenen Wegen Ihres Lebens erzählten und hinzufügten, daß Sie von Natur ein anmaßendes Wesen hätten … Ich habe Ihnen meine Freundschaft geschenkt. Ein Zeichen dafür, daß ich sie nicht zurückgenommen habe, ist der Wink, den ich Ihnen nun von neuem gebe, Briefe niemals in dem Augenblick zu schreiben, da Sie Ihrer Sinne nicht mächtig sind, damit Sie nicht später über das erröten müssen, was Sie in der Verwirrung geschrieben haben … Ich würde Ihnen gewiß gern einige Klafter Holz geschenkt haben, falls Sie mich darum gebeten hätten; aber ich hatte geglaubt, Sie mit einer Gabe dieser Art zu verletzen. Jedoch, da Sie sie nicht gering achten, so schenke ich Ihnen das Holz und werde es Baudy mitteilen, wenn Sie mir nur folgende Quittung senden:
Ich Unterzeichneter, François Marie Arouet de Voltaire, Chevalier, seigneur de Ferney, gentilhomme ordinaire du Roi, anerkenne, daß Herr de Brosses, Präsident des Parlaments-Gerichts, mir als Geschenk vierzehn Klafter Brennholz gegeben hat zur Heizung Tournays im Werte von 281 Francs, für die ich ihm danke.
Es stimmt wehmütig, daß diese erbärmliche Debatte durch die Eigensinnigkeit beider Parteien das ganze Jahr hindurch dauerte. Der Prozeß wurde nicht zu Ende geführt, und obgleich man nicht genau weiß, wie der Rechtsstreit ausging, kann man aus den Worten des Präsidenten an einen Herrn de Fargès (10. November 1761) den Schluß ziehen: »Mir kommt in diesem Augenblick eine Idee. Das ist das einzige, worauf ich als ehrlicher Mann eingehen kann, und alles soll dann zu Ende sein. Lassen Sie ihn in Ihrer Gegenwart die 281 Livres an den Priester in Tournay oder an Madame Galatin senden, damit sie unter die Armen der Gemeinde verteilt werden, auf meinem oder seinem Boden, wenn er ihn lieber so nennen will, nicht in einer anderen Gemeinde; das ist das kürzeste und bequemste.«
Leider war der törichte Zwischenfall damit nicht zu Ende. Voltaire betrachtete sich vom Präsidenten als so tödlich gekränkt, daß er 1770, als dieser die Aufnahme in die Akademie erstrebte, an D'Alembert schrieb und durch ihn an seine zahlreichen Bewunderer und Anhänger, um die Aufnahme des Präsidenten zu verhindern, ja, schließlich erklärte, daß er auf seinen Titel als Akademiker verzichtete, falls man ihm de Brosses zum Kollegen gab, weshalb ein anderer vorgezogen wurde. Er bewahrte diesen abstoßenden Groll, weil er überzeugt blieb, daß er in seinem guten Recht gewesen und der juristischen Übermacht hatte weichen müssen.