Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Was sollte sie tun, wenn sie die Casa Vereal erreichte? Konnte sie sich mit ihrem richtigen Namen anmelden oder sich vor den Dienern sehen lassen, ohne vor Scham zu sterben? All ihre Bedenken verstummten jedoch, als sie am Ziel angelangt war. Mit dem Griff ihrer Reitpeitsche schlug sie gegen das verschlossene Tor, und als sich die Stimme eines Dieners vernehmen ließ, rief sie laut: »Ich bin Alicia Alvarado. Bringen Sie mich schnell zu Ihrem Herrn. Es hängt Leben und Tod davon ab!«
Augenblicklich öffnete sich das schwere Tor, und sie sah einen Mann vor sich, der sie erschreckt anstarrte.
»Schnell! Schnell!« drängte sie.
Flugs sprang sie aus dem Sattel und folgte dem voraneilenden Torwächter. Sie betraten das Haus. In der großen Halle, die durch eine einzige Hängelampe nur schwach erleuchtet wurde, wartete sie. Drüben an der Wand hob sich ein Hirschgeweih ab. Hier stand ein Stuhl, und dort war der Aufstieg zu der großen Treppe. Sonst konnte sie in der Dunkelheit nichts erkennen. Der große Raum erweckte den Eindruck einer Grabkammer, in der der Tod auf einen tapferen Mann zu lauern schien.
Schließlich kam John Jones, nachdem er sich hastig angekleidet hatte. Sie gewahrte seinen ernsten, erwartungsvollen Blick und redete ihn sofort mit zitternder Stimme an: »Señor, der echte Vereal ist eingetroffen. Ganz San Triste wird gegen Sie auf die Beine gebracht – von meinem Vater und anderen. Fliehen Sie, Señor, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist.«
Sie befand sich bereits an der Tür, als er sie einholte und mit erhobener Hand zum Stehen brachte. Sie wich ein wenig zurück. Aber ein freudiges Zittern befiel sie, weil sie noch einen Moment bei ihm verweilen konnte.
»Sie haben also die Wahrheit erfahren?« fragte John.
»Die ganze Wahrheit!«
»Sie wissen, daß ich unter einem falschen Namen in San Triste gelebt habe?«
»Ich weiß es.«
»Und doch konnten Sie es in Ihrer unendlichen Güte über sich bringen, Alicia, zu mir zu kommen, um mich zu warnen?«
»Solche Worte sind jetzt nicht angebracht«, sagte sie, »wo in jedem Moment –«
»St!« fiel er ihr ins Wort. »Was schert mich ganz San Triste mitsamt seinen Mordwaffen? Sie schrecken mich nicht im geringsten. Für mich ist nur das eine von ausschlaggebender Bedeutung, nämlich, daß ich Sie hier zum letztenmal sprechen kann.«
»Aber sie kommen! Hören Sie! Ich glaube, ich höre bereits das Stampfen der Pferdehufe auf –«
Er hob den Kopf und blickte durch das offenstehende Fenster nach der Stadt hinüber. Seine Augen blitzten furchtlos und entschlossen.
»Mögen sie kommen«, sagte er. »Sie werden meiner nicht habhaft werden. Mein Pferd steht gesattelt bereit, und es ist solch ein Pferd, mit dem sie nicht eine Meile Schritt halten können. Ich brauche sie nicht zu fürchten. Ich schwöre Ihnen, Alicia: wenn ich mir die unvergängliche Zuneigung der Städter hätte erwerben können, würden sie sich über den falschen Vereal nicht zu beklagen gehabt haben. Aber aus ihrem Haß mache ich mir nicht das geringste.«
»Señor, ich bitte: gehen Sie!«
»Um Sie hier ohne eine Aufklärung zurückzulassen? Nein! Und wenn sie jetzt bereits kämen, so würde ich dennoch warten, um Ihnen alles zu erklären, Alicia. Sie werden deshalb keine bessere Meinung von mir bekommen, sondern mich vielleicht noch für weit schlechter halten als bisher. Aber weil ich Sie liebe, möchte ich, daß Sie die volle Wahrheit über mich erfahren. Als ich vor zwei Jahren die Universität verließ, ließ mein Gesundheitszustand sehr zu wünschen übrig. Man sandte mich nach dem Westen; und in zwei Monaten war ich gesünder als ein knorriger Eichbaum. Im Westen fühlte ich mich gleich heimisch, obgleich ich ihn nie zuvor gesehen hatte. Reiten und Schießen war zwar schon immer meine schwache Seite gewesen, aber es ist ein gewaltiger Unterschied, ob man auf eine Scheibe oder auf einen Menschen schießt; es ist auch ein gewaltiger Unterschied, ob man hinter Fuchshunden hersprengt oder um sein Leben reitet. Ich war im Osten ein passionierter Jäger gewesen, doch als ich nach dem Westen kam, fand ich bald heraus, daß es auch reizvoll sein kann, selbst gejagt zu werden.
In einer kleinen Hütte inmitten der Berge führte ich ein wahrhaftes Einsiedlerleben. Ich kochte mir ein Essen selbst, schlief nachts wie ein Toter und ritt täglich in der Gegend umher, um alle Schönheiten dieses gottgelobten Landes in mich aufzunehmen, bevor ich wieder nach dem Osten reiste. Auf einem meiner Ritte stieß ich auf ein Aufgebot, das hinter einem Pferdedieb her war. Der Dieb hatte ein schwarzes Pferd geritten; das meine war eben schwarz. Diese zufällige Uebereinstimmung genügte ihnen, um Hals über Kopf hinter mir herzusetzen, und so ritt ich denn um mein Leben. In einer Stunde war ich ihnen entkommen. Mein Pferd Pierre war schweißbedeckt; eine Kugel hatte meinen Hut durchschlagen, aber ich kam mir vor wie neu geboren.
In der Folgezeit machte ich mir einen Spaß daraus, verdächtige Spuren zu hinterlassen, um die Diener des Gesetzes auf meine Fährte zu locken. Kommt Ihnen mein Verhalten verrückt vor? – Ich sage Ihnen, solch ein Leben faszinierte mich, und dabei war es nicht einmal allzu gefährlich. Auf diese Weise wurde ich mit jedem Weg und Steg in dem ganzen Distrikt vertraut. Ich besaß ein wundervolles Pferd, und sie konnten nicht einmal nahe an mich herankommen, um mir mit einer Kugel etwas anzuhaben.
Bei der ersten besten Gelegenheit suchte ich einen Arzt auf, der auf Grund eines fetten Honorars nach Hause schrieb, daß ich einen Rückfall erlitten hätte und größter Schonung bedürfte. Ich müßte noch länger im Westen bleiben. So verlebte ich zwei herrliche Jahre. Zweimal besuchte ich meine Familie im Osten und beschloß, mich in der Heimat niederzulassen und meinen Vater in seiner Anwaltspraxis nach Kräften zu unterstützen. Zweimal warf ich meine guten Vorsätze über den Haufen und kehrte wieder nach dem Westen zurück.
Ich heiße in Wirklichkeit John Given. Ich nannte mich John Jones, weil mir dieser Name zu meinem seltsamen Lebenswandel im Westen zu passen schien. Wegen meines jugendlichen Aussehens nannte man mich jedoch allgemein den Kid. Ich hatte manchen Strauß auszufechten, aber ich habe nie einen Menschen getötet oder auch nur ernstlich verletzt.
Ich wußte, daß ich mit dem Feuer spielte, doch prickelnde Gefahren waren nun einmal die Würze meines Lebens. Natürlich wurden mir sämtliche unaufgeklärten Verbrechen zur Last gelegt. Vom Diebstahl bis zum Mord gab es nichts, dessen man mich nicht angeklagt hätte. Die Sheriffs eines halben Dutzends Gerichtsbezirke machten auf mich Jagd, ohne jemals meiner habhaft zu werden.
Dann traten diese Halunken mit ihrem Vorschlag an mich heran: Weil ich den Vereals so ähnlich sah, sollte ich hierherkommen und mich als den totgeglaubten José ausgeben. Das war mal ein anders geartetes Abenteuer, das mich um so mehr reizte, als dem armen Simon ein großes Vermögen vorenthalten worden war, das ihm rechtmäßig gehörte.
Nach meiner Ankunft in San Triste ging eine seltsame Veränderung mit mir vor. Ich begann, an dem stillen Leben Gefallen zu finden. Schließlich sagte ich mir, daß ich zum Vorteil, der Stadt als Stellvertreter der Vereals besser am Platze sei als dieser hohlköpfige, wüste Cabrillo. Und als ich Sie dann zum erstenmal sah, Alicia, war ich überzeugt, daß ein neuer Lebensabschnitt für mich angebrochen war. Ich hatte nur noch ein Ziel vor Augen: Ihre Liebe zu gewinnen. Es war ein erhabener Augenblick für mich, als ich vermutete, daß auch Sie mir Interesse entgegenbrächten. Aber wenn es auch wirklich der Fall gewesen wäre, so würden Sie mich nach dem, was Sie über mich erfahren haben, doch nur als Betrüger verachten! Alicia, habe ich recht?«
Sie war in einen so dunklen Schatten gehüllt, daß er nur das Weiß ihres Gesichts und ihrer Hände sehen konnte.
»John«, flüsterte sie, »sie kommen. Hören Sie?«
Ein dumpfes, weit entferntes Stimmengesumm ließ sich vernehmen.«
»Sie haben meine Frage nicht beantwortet«, sagte er.
»Schnell, John! Sie kommen! Man wird Sie ermorden, und wenn Sie sterben – – –«
Ihr plötzliches Verstummen verriet ihm alles, wonach sich sein Herz sehnte. Er nahm sie in seine Arme; ihr Kopf fiel zurück, und ihr beglückter Blick und ihre hingebungsvollen Lippen zeugten von ihrer Liebe.
»Mein Geliebter!« hauchte sie. »Fliehe um meinetwillen. Denn wenn du stirbst, werde auch ich sterben.«
Er geleitete sie in den Hof. »Nein«, sagte sie, »ich will nicht eher gehen, als bis ich dich davonreiten sehe. Aber wenn du mich verläßt, muß ich wieder zu meinem Vater zurückkehren. Er wird mich diesem Cabrillo zur Frau geben, John. Er hat es geschworen, und er wird sich nicht davon abbringen lassen. Sage mir, was ich tun soll.«
Er betrachtete sie nachdenklich. Niemals war sie ihm so lieblich erschienen, und dennoch sagte ihm ein unbestimmtes Gefühl, daß er sie nicht wiedersehen würde, wenn sie sich jetzt voneinander trennten. Nein, so durfte es nicht kommen! Jetzt oder nie mußte sich sein Schicksal entscheiden.
»Alicia«, sprach er, »willst du mit mir reiten?«
Sie zeigte sich nicht im geringsten überrascht, sondern seufzte nur erleichtert auf.
»Lieber John«, sagte sie, »ich glaubte schon, du würdest mich nicht danach fragen!«