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Das kam John Jones höchst ungelegen. Dieser Ruf verkündete dem Feinde, daß Gefahr im Verzuge sei; doch es war ganz unmöglich, diese kleine Armee zur Ruhe zu bringen. Seit dem Moment des Abmarsches hatte der Tumult keine Sekunde ausgesetzt. Um sich dem falschen Vereal verständlich zu machen, sah sich Cabeza infolge des ohrenbetäubenden Lärms gezwungen, ihm aus Leibeskräften ins Ohr zu schreien: »Wir sind aufgebrochen, Señor. Wohin wollen wir uns wenden?«
Darüber konnte für John Jones gar kein Zweifel bestehen. So sagte er denn: »Nach der Casa Vereal!«
Dieser Befehl wurde von seinem Leutnant sofort an die Menge weitergegeben, die nun wie besessen schrie: »Nach der Casa Vereal!«
Die Reiter bewegten sich nur sehr langsam voran, da sie sich nach dem von John Jones eingeschlagenen Marschtempo richten mußten. Dieser ritt absichtlich so zögernd an der Spitze dahin; denn er sagte sich, daß die Flutwelle, die das Haus auf dem Hügel überschwemmen sollte, noch sehr anschwellen müsse, bevor sie über alle Hindernisse hinwegdringen könne. Und sie schwoll in der Tat mit erstaunlicher Schnelligkeit. Die Männer folgten dem falschen Vereal unter Jubelrufen; die Frauen waren seine Agenten, die die Werbetrommel schlugen. Sie schwärmten dem sich langsam voranbewegenden Zuge voraus, drangen in die Häuser ein und schleppten die erschreckten Insassen hinaus. Hier und da fielen sie auch wohl über Männer her, die sich bereits auf die Straße begeben hatten, um die Ursache des seltsamen Lärms in Erfahrung zu bringen.
Ihr Enthusiasmus wirkte ansteckend. In ein paar Sekunden konnten sie mit wenigen Worten, einigen wilden Gebärden und dem Schrei: »Vereal!« selbst den nüchternsten Bürger von San Triste überzeugen, daß ein Wunder geschehen – ein Toter auferstanden sei.
Die also gewonnenen Männer eilten unverweilt zu den Waffen. Diejenigen, die Pferde besaßen, sattelten sie in wilder Hast und ritten Hals über Kopf davon. Unterwegs vernahmen sie, daß Vereal zurückgekehrt sei – ein schöner, junger, liebenswürdiger, tapferer Mann –, um seine ihm von Geburt zustehenden Rechte geltend zu machen und jenes verabscheuungswürdige Ungeheuer aus dem Hause auf dem Hügel zu vertreiben.
In der kurzen Zeit von zehn Minuten hatte sich die ursprüngliche Zahl der Reiter um das Zehnfache vergrößert, und der mitlaufende Volkshaufe verstopfte fast die Straße. Aber es strömten immer noch mehr und mehr Menschen herbei, denn John Jones ritt langsam auf der sich windenden Straße mitten durch das Zentrum der Stadt, um jedermann Zeit und Gelegenheit zu geben, sich seinem Zuge anzuschließen. Einige Männer zeigten sich besonders ungestüm, als sie des Fremden ansichtig wurden. Vor Begeisterung am ganzen Leibe zitternd drängte sich ein Reiter rücksichtslos durch die Menge zu ihm heran. »Señor, Señor!« schrie er. »Zeigen Sie mir wie ich für Sie sterben kann!«
»Geh zum Hügel hinauf«, unterbrach ihn John Jones »und bringe in Erfahrung, was Cabrillo macht.«
Der Mann gab seinem Pferde die Sporen, riß es herum und war im Nu verschwunden. Andere schlossen sich ihm an. Wenn einige Leute Zweifel über die Identität des Fremden äußerten, geleitete man sie zur Spitze der Kavalkade. »Seht!« wies man sie an. »Urteilt selbst!«
Ein Blick zerstreute sogleich ihre Zweifel. Unter diesen Umständen würden sie sogar schwarz für weiß angesehen haben.
Da entstand eine unruhige Bewegung unter der Menschenmasse, und John Jones gewahrte, wie drei Reiter entschlossen auf ihn zu drängten. Als sie näher herangekommen waren, erkannte er in dem flackernden Licht einer Fackel, die jemand entzündet hatte, seine drei Verbündeten: den Engländer, den Amerikaner, den Franzosen.
Si Denny trieb sein Pferd dicht zu ihm heran und rief ihm mit unterdrückter Stimme zu: »Brav gemacht, Kid. Sie führen sie schön an der Nase herum! Aber was soll geschehen, wenn Cabrillo diesen Volkshaufen mit zwanzig entschlossenen Reitern angreift?«
»Wir vier dürften ihnen schon hart zusetzen, und die anderen werden ihnen völlig den Garaus machen.« Nach einem Blick auf die grimmigen Gesichter der Menge fuhr John Jones fort: »Diese Jungens sind zum Aeußersten entschlossen. Sie sind trunken vor Begeisterung!«
Das entsprach durchaus den Tatsachen. Die verzerrten Gesichter der schreienden Menschen verrieten, daß sie keiner vernünftigen Ueberlegung fähig waren.
Mittlerweile traf der erste Kundschafter auf seinem schweißbedeckten, gänzlich abgetriebenen Pferde ein. Aus seinem Bericht ging hervor, daß Cabrillo schon seit langem über alles orientiert war und bereits entsprechende Vorsichtsmaßnahmen getroffen hatte. Er hatte in dem Hause auf dem Hügel eine Schar Männer um sich versammelt, die ganz und gar von ihm abhängig waren – seine Diener und Leute, die seine Stadtgrundstücke und in der Nähe liegenden Farmen verwalteten. Dieses von Cabrillo angeworbene Diebesgesindel, das sich an den fetten Pfründen gütlich tat, würde ihren Brotherrn bis aufs Blut verteidigen, um nicht ihrer Posten verlustig zu gehen. Da Cabrillo wohl wußte, wie verhaßt er den Städtern war, hatte er stets damit gerechnet, seine Leute gegen sie auszuspielen. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, und er zweifelte nicht im geringsten, daß sich die kleine Schar löwenmutig für ihn einsetzen würde.
Wie sich dagegen die halbbewaffnete Volksmenge verhalten würde, konnte man nicht im voraus sagen, wenngleich sie von dem besten Willen beseelt war. Diesen Betrüger, John Jones, in seine angemaßten Rechte einzusetzen, war den Städtern weniger wichtig, als ihre Wut an Cabrillo auszulassen – an diesem Ungeheuer, das ihnen die Schutzherrschaft der Vereals entzogen hatte, um sie auf Fremdlinge, Mietlinge zu übertragen, die ihm kraft ihrer überlegenen Bewaffnung als Bollwerk dienten.
Inzwischen hatten sie einen wohlhabenden Stadtteil von San Triste erreicht. Die Straßen waren auch hier nicht breiter, aber die Häuser waren größer. Sie lagen mit der Rückseite zur Straßenfront. Dahinter befanden sich die Gärten und Höfe.
Marmont deutete auf eins der größten Gebäude. »Dort ist es«, sagte er. »Dort befindet sich der Schlüssel zu dem ganzen übrigen San Triste. Sie haben die armen Leute auf Ihrer Seite; wenn Sie jetzt Alvarado für sich gewinnen können, so werden Ihnen auch die reichen wie eine Hammelherde folgen. Seit dem Verschwinden Vereals ist er der König hier.«
Als man kurze Zeit darauf zu dem bezeichneten Hause kam, verlangte die Menge mit stürmischen Rufen nach Alvarado. Es war gerade, wie wenn auch sie sofort von dem Gedanken durchdrungen wurde, diesen Mann für ihre gerechte Sache zu gewinnen. Eine Zeitlang blieb in dem Hause alles still. Kein Licht fiel aus den wenigen schmalen Fensteröffnungen, die nach der Straße zu lagen.
Da wurde plötzlich eine Fenstertür geöffnet, und Alvarado trat auf einen schmalen Balkon hinaus, der sich oberhalb des nach dem Hof führenden Torweges befand. Ein riesiger Diener folgte ihm mit einer hoch erhobenen Laterne, scheinbar, damit sein Herr die Menge besser sehen sollte. Doch das war unnötig, da der Volkshaufe bereits von einer ganzen Anzahl Fackeln hinlänglich beleuchtet wurde. So diente die Laterne nur dazu, die Gestalt Alvarados im hellen Licht erscheinen zu lassen.
Der Kid betrachtete aufmerksam die schlanke Figur dieses Mannes und sein hoheitsvolles, bleiches Gesicht. Alvarado erhob eine Hand, und der Lärm verstummte wie auf Kommando.
»Was soll das bedeuten?« fragte Alvarado mit ruhiger Stimme. »Was wollt ihr von mir? Wird San Triste von einer Gefahr bedroht?«
Als Antwort scholl ihm ein Gebrüll aus Hunderten von Kehlen entgegen: »Der Vereal! Der Vereal ist zurückgekehrt!«
Der Kid trieb sein Pferd etwas näher an die auf dem Balkon stehende Gestalt heran.
»Señor Alvarado«, sagte er, »wenn Sie mich vergessen haben, so kann ich Ihnen das nicht verübeln, da mittlerweile zwölf Jahre verflossen sind, seit Sie mich zum letzten Male in San Triste gesehen haben. Aber jetzt bin ich heimgekehrt, um mich wieder in den Besitz meines Eigentums zu setzen. Wollen Sie mit mir nach der Casa Vereal hinausreiten, Señor? Ich habe den Städtern bereits bewiesen, daß ich José Vereal bin.«
Alavarado antwortete zunächst nicht. Er begnügte sich damit, das Gesicht des Kids in dem Schein eines Dutzends bereitwilligst erhobener Fackeln sorgfältig in Augenschein zu nehmen, wobei er mit seinen dünnen Fingern auf dem Rande des Balkongitters trommelte.
Schließlich sagte er in demselben ruhigen Tone: »Don José Vereal, wie Sie sich zu nennen belieben, wenn Sie auf den Besitz der Vereals in San Triste Anspruch haben, warum wenden Sie sich dann nicht an die hiesigen Gerichte, um zu Ihrem Recht zu kommen? Ein Volkshaufe ist unter diesen Umständen wohl nicht die geeignete Instanz.«
Das Volk begann laut zu murren, schwieg aber sogleich wieder, um die Antwort des Kids verstehen zu können.
Der sagte nun: »Ich will Ihnen meine Geschichte kurz erzählen. Nach dem nächtlichen Sturm auf die Casa Vereal brachte mich Louis Gaspard so schnell wie möglich außerhalb Mexikos in Sicherheit. Wir bestiegen in Vera Cruz einen Dampfer und fuhren nach New Orleans. Louis Gaspard schärfte mir unterwegs wieder und wieder ein, nie nach San Triste zurückzukehren.
Er starb einige Tage nach unserer Ankunft in den Staaten. Aber wenngleich ich nur ein zehnjähriges Kind war, Señor, so konnte ich San Triste doch nie vergessen. Denn die einzige Luft, in der ein Vereal frei atmen kann, ist die Luft von San Triste!«
Seine letzten Worte wurden durch donnernde Jubelrufe seitens der Menge quittiert. Aber es schien dem Kid, als ob der Mann auf dem Balkon etwas höhnisch über seine rhetorische Uebertreibung lächelte. Der Kid biß sich auf die Lippen. Er erkannte, daß er einen Volkshaufen und einen einzelnen Gentleman nicht mit demselben Maßstabe messen könne. Was die Massen begeisterte, kam diesem Mann nur lächerlich vor.
»Nach zwölf Jahren haben Sie sich also entschlossen, zu uns zurückzukehren«, sagte Frederico de Alvarado. »Ich beglückwünsche Sie zu Ihrer Heimkehr. Sobald Ihre Ansprüche gesetzlich anerkannt sind, werde ich es mir zur Ehre anrechnen, mich als einen Ihrer ergebensten Diener zu betrachten. Hoffentlich werden Sie mir dann gestatten, Sie in der Casa Vereal zu besuchen, um Ihnen meine Aufwartung zu machen.«
Ein mißbilligendes Grollen erhob sich, und die Massen begannen, hin und her zu fluten. Dann drang eine scharfe, aufreizende Stimme an das Ohr des Kids, die er als die des Engländers Halsey erkannte. »Nieder mit Alvarado! Er steckt mit Cabrillo unter einer Decke. Er wird von dem Schwein auf dem Hügel gespickt!«
Es war ein sehr gutes Spanisch, das Halsey sprach, und er brüllte die einzelnen Worte mit voller Lungenkraft hinaus. Die Wirkung auf die Massen zeigte sich sofort. Sie gebärdeten sich wie die Verrückten. Ein Hindernis hatte sich ihrem Helden in den Weg gestellt. Sie waren entschlossen, es nicht nur zu überwinden, sondern es auch zu zerstören. Dieses Gebrüll Halseys verwandelte sie in blindwütige Raubtiere, obgleich sie eben noch zu dem ruhigen, höhnischen Gesicht Alvarados wie Kinder zu einem Lehrer oder Vater aufgeblickt hatten.
Ein blitzender Gegenstand sauste auf Alvarado zu und schlug klirrend gegen die Lehmwand hinter ihm. Es war ein schweres Messer, das nun auf die Straße herabfiel. Andere Messer wurden aus den Scheiden gezogen und Revolver und Gewehre mit festem Griff erfaßt. In einer weiteren Sekunde würde man Alvarado mit Kugeln durchsiebt haben.
Im Angesicht dieser drohenden Gefahr bewies er eine staunenswerte Kaltblütigkeit. Er schlug die Arme über der Brust zusammen und lehnte sich leicht gegen das Eisengitter, das den Balkon umgab. Das verächtliche Lächeln spielte immer noch um seine Lippen. Es war offensichtlich, daß er den Tod der Flucht vorzog.
Der Kid stieß einen scharfen Schrei aus, doch seine Stimme ertrank in dem unheilverkündenden Getöse. Da trat Halsey zu ihm heran. Dieser Ehrenmann strahlte vor Schadenfreude über das ganze Gesicht.
Er erfaßte den Arm des Kids mit seiner riesigen Hand. »Ruhig!« rief er ihm warnend zu. »Lassen Sie ihnen den Willen. Lassen Sie Alvarado abschrammen. Der Schurke denkt sich ohnehin mehr, als uns recht sein könnte. Wir können für unsere Zwecke nur gewöhnliche Männer gebrauchen oder gar keine!«
Doch der Kid ließ sich durch diese grausamen Worte in seinem Bestreben, sich Gehör zu verschaffen, nicht beirren. Er versuchte immer wieder, mit seiner Stimme durchzudringen, was ihm aber nicht gelang. Als er sich schließlich in der Richtung des Hauses vordrängte, ertönte neben ihm der bellende Knall eines Revolvers, und er sah, wie Alvarado auf das Pfeifen der Kugel mit einem seitlichen Kopfzucken reagierte. Si Denny war zu der Ansicht gekommen, daß der Lauf der Ereignisse der wünschenswerten Schnelligkeit entbehre, und er hatte es deshalb für ratsam gehalten, mit eigener Hand in die Speichen des Geschicks einzugreifen. Um den trotzigen Mann auf dem Balkon würde es zweifellos im Handumdrehen geschehen gewesen sein, wenn er nicht noch im letzten Moment fast wider seinen Willen gerettet worden wäre. Der Kid sah, wie ein Mädchen in einem roten Kleid durch die Tür auf den Balkon stürzte und sich schützend vor Alvarado stellte. Sie hielt die Arme weit ausgebreitet und blickte so entsetzt und flehentlich drein, daß sie einen tiefen Eindruck auf die Menge machte.
Der Mexikaner liebt ein prächtiges und aufregendes Schauspiel noch mehr als persönliche Tapferkeit, und so wurde die Gefahr von Alvarado abgewandt. Die in Anschlag gebrachten Gewehre sanken herab; die Messer wurden in der Luft hin und her geschwenkt; ein vielstimmiger Chor rief: »Viva la Señorita!« Dann wälzten sich die Massen davon und zogen den Kid mit sich.
Dem war plötzlich so froh und leicht ums Herz, daß er sich seine Stimmung nicht recht erklären konnte. So viel wußte er jedoch, daß er sich freute, weil sie Alvarados Tochter war – nicht seine Frau!
Sie zogen immer noch an den Häuserreihen vorüber, und immer mehr Leute strömten ihnen zu. Junge und alte Reiter trieben ihre Pferde in das Menschengewimmel hinein. Sie drangen bis zu dem Fremden vor, drückten ihm die Hand oder umarmten ihn gar unter Freudentränen und Segenswünschen. Da war John Jones endlich gewiß, daß er San Triste gewonnen hatte und damit auch die Casa Vereal, wo der große Schatz ruhte. Doch er dachte beim Dahinreiten weniger an die fünfzig Mauleselladungen Silber oder an die zwanzig Mauleselladungen Gold oder an die bis zum Rand gefüllte Kassette mit Juwelen, als an das entzückende Bild, das sich ihm auf dem Balkon dargeboten hatte.
Das enganliegende, rote Kleid, das wie Purpur glänzte, hatte die Konturen ihres schlanken Körpers aufs vorteilhafteste zur Geltung gebracht; sie war nicht mit Schmuck überladen, worüber er sich seltsamerweise besonders freute; nur ein Sträußchen gelber Blumen hatte ihre Brust geziert, und ihr schwarzes Haar hatte bläulich geschimmert. Doch ihre Schönheit allein hatte es ihm nicht angetan. Er glaubte, auch einen Blick in ihr warmes Herz und ihre treue Seele geworfen zu haben, was sie ihm besonders liebenswert machte.