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Unmittelbar am Rande der Stadt machte er halt und traf seine letzten Vorbereitungen. Er schüttelte nach Möglichkeit den Staub von seiner Kleidung und staffierte sich dann so aus, wie Joseph Simon es ihm geraten hatte. Aus seiner Satteltasche holte er ein schwarzes Umhängetuch hervor und breitete es um seine Schultern. Um seine Taille wand er eine lange, rot und golden gefärbte Schärpe.
Nachdem er zu guter Letzt noch den Rand seines Sombreros an der einen Seite hochgeschlagen hatte, trieb er Pierre mit den Sporen an und zog zugleich etwas die Zügel zurück, so daß das Tier unruhig vorantänzelte. So trabte er in jene Straße San Tristes hinein, wo er vorhin die Volksmenge belauscht hatte.
Zunächst wurde er von niemand bemerkt. Die Bevölkerung stand immer noch in einem dichtgedrängten Haufen um Pedro herum. Dieser wiederholte seine Geschichte wohl zum fünften Male mit unermüdlichem Eifer. Er war sogleich bei der Hand, einige geringfügige Einzelheiten, nach denen man ihn fragte, phantasievoll auszuschmücken. Er hatte bereits die Größe des Pferdes nach Handbreiten angegeben, nun verkündete er sogar die genaue Zollzahl. Gerade wollte er seiner Zuhörerschaft noch weitere Details zum besten geben, als sein Redefluß durch den wilden Aufschrei eines der weiter zurückstehenden Männer unterbrochen wurde: »El Vereal!«
Alle blickten erschreckt und verwundert nach der Richtung, aus der der Schrei ertönte. Sie sahen eine malerische Gestalt auf einem prächtigen, schwarzen Pferde, das durch den zur offenen Tür einer Hütte herausfallenden Lichtkegel tänzelte.
Bei diesem ersten Schrei stockte John Jones' Herzschlag. Er hätte schwören können, daß sein Herz stillstand, während der schwarze Hengst einen zweiten Lichtkegel durchschritt. Es war hell genug, daß man Roß und Reiter deutlich sehen konnte – hell genug, daß man die an der Hüfte des Fremden flatternden Farben des Hauses Vereal erkennen konnte.
Doch seit dem ersten Schrei hatte sich nicht einmal das leiseste Flüstern vernehmen lassen. Alles blieb still, bis die Leute das edelgeformte Gesicht des Reiters, das von seinen Schultern herabwallende, schwarze Tuch und die Anmut und Würde seiner Haltung aus nächster Nähe gewahrten. Da riefen sie wie aus einem Munde begeistert aus: »El Vereal!«
Sie liefen ihm entgegen – die Frauen mit ausgebreiteten Armen, als wollten sie einen verlorengeglaubten Sohn bewillkommnen; die Männer gestikulierend und hüteschwenkend. Im letzten Moment schwenkten sie nach beiden Seiten ab und drängten sich in einem dichten Schwarm um ihn herum. Ihr Triumphgeschrei wollte kein Ende nehmen.
Angesichts dieser Ovationen beschlich John Jones ziemlich ungemütliches Gefühl. Er mußte unwillkürlich denken: ›Ich bin ein Gauner! Ich bin ein doppelt- und dreifacher Gauner, weil ich die guten Leute täusche! Sie jubeln mir zu, weil sie mich für einen Vereal halten; aber ich bin nichts als ein gedungener Betrüger!‹
Solche Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Aber wie sollte er einer Versuchung widerstehen, wo man ihm sozusagen den Pfad in jeder Beziehung ebnete?
Er erhob wieder die Hand, und wieder schwiegen sie wie Schulkinder angesichts eines strengen Lehrers.
»Meine Freunde und Schutzbefohlenen –« begann er.
Weiter kam er nicht. Sie erstickten seine Stimme durch ihre tobenden Zurufe und drängten sich näher um ihn.
Er hob wieder die Hand, und wieder schwiegen sie sofort.
»Cabeza!« sagte er. »Du hast mich wohl nicht vergessen? Erinnerst du dich noch an die Stute – und an meinen Sturz?«
Vielleicht mochte der eine oder andere noch an seiner Identität gezweifelt haben, aber vor dieser Andeutung schwand jegliches Bedenken. Alle: Männer, Frauen und Kinder würden unbedenklich geschworen haben, daß dies der wirkliche Erbe von La Casa Vereal sei – jedermann würde sein Leben aufs Spiel gesetzt haben, um ihm wieder zu seinem rechtmäßigen Besitz zu verhelfen.
Der von John Jones namhaft gemachte Cabeza stand gerade inmitten eines dichten Volkshaufens, aber nun stürzte er vor, als beständen die vor ihm stehenden Menschen aus Luft. Denn er war ein stämmiger Mann, dessen Kräfte im Laufe der Jahre keineswegs gelitten hatten. Er nahm die ihm dargebotene Rechte des vermeintlichen Vereal in seine beiden Hände und drückte sie an sein Herz, wobei ihm die Tränen über die Wangen liefen. Nach anfänglich unverständlichem Stammeln stieß er schließlich unter Schluchzen hervor: »Oh, mein gnädiger Herr! Gott hat mir meine Sünden vergeben, weil er Sie wieder nach San Triste zurücksendet. Ich habe Don José noch einmal sehen können – allmächtiger Schöpfer, nun laß mich sterben!«
John Jones neigte sich im Sattel zu ihm hinab.
»Cabeza«, sagte er, »wenn Gott mich nach San Triste zurückgesandt hat, so wird San Triste über meine Ankunft beglückt sein. Aber es gibt einen Mann in dieser Stadt, der etwas betrübt sein dürfte, wenn er erfährt, daß ich endlich heimgekehrt bin.«
Bei diesen Worten deutete er mit der Hand über die Köpfe der Menge hinweg nach einer dichten Baumreihe, die die Casa Vereal auf dem im Norden liegenden Hügel umgab.
Cabeza nickte grimmig vor sich hin. »Er hat die Polizei benachrichtigt, die ganz nach seiner Pfeife tanzt. Er gebietet über San Triste – nicht so wie die Vereals in den glorreichen alten Zeiten, sondern wie ein Herr über einen Sklaven, der zu schwach ist, seine Hand gegen ihn zu erheben. Sie sollen verhaftet werden, mein gnädigster Herr, sobald Sie sich in der Stadt blicken lassen. Was soll geschehen? – Weiß Gott, mein Leben gehört Ihnen!«
»Blut soll nicht vergossen werden«, sagte der Reiter ruhig. »Aber gibt es hier keine Pferde? Ich muß berittene Männer in meinem Gefolge haben. Wenn sie mit Revolvern bewaffnet sind, werden die Gendarmen vielleicht anderen Sinnes werden.«
Ein Schmunzeln spielte um Cabezas Lippen. Sich umwendend, rief er der Menge mit donnernder Stimme einige kurze Befehle zu, und augenblicklich stürzte jeder Besitzer eines Pferdes davon, um es zu satteln. So blieben nur noch Frauen, Kinder und alte Männer zurück, die sich nun noch dichter an den Reiter herandrängten.
Eine Frau hob ein kränklich aussehendes Kind zu dem Fremden empor. Bei dessen Anblick begann es vor Furcht zu schreien. John Jones bis sich auf die Lippen. Dann riß er sich zusammen und nahm das Kind in seine Arme, das nun – vielleicht vor Schreck – schwieg. Es lag ganz still und starrte ihn an. Die Frauen erhoben darob ein erstauntes und ehrfurchtsvolles Gemurmel. Sie glaubten, ein Wunder sei geschehen.
»Der Doktor sagt, daß mein Kind sterben muß«, rief die besorgte Mutter. »Sagen Sie mir, Don José, daß der Doktor lügt!«
»Ich werde den Doktor zur Stadt hinauspeitschen lassen«, erklärte John Jones mit Bestimmtheit. »Der Mann ist ein Narr. Dies Kind wird am Leben bleiben. Nimm hin«, damit drückte er ihr einen Zehnpesoschein in die Hand, – »pflege das Kind gut, halte es sauber, vertraue auf Gott, und du brauchst nichts zu befürchten!«
»Ich werde auf den Vereal vertrauen!« schluchzte die Frau vor freudiger Erregung. »Und ich werde für Sie beten, Señor.«
Sie nahm das Kind wieder an sich, liebkoste es und zog sich zurück. Das Kind, das sich mittlerweile wohl von seinem Schreck erholt hatte, begann von neuem jämmerlich zu weinen.
»Seht! Seht!« schrie die erregte Mutter. »Es will zu dem Vereal zurück! Hat man schon jemals solch einen Mann gesehen?! Es will zu seinem Schutzherrn zurück!«
Mochten die kaltherzigen Männer denken, was sie wollten, die Frauen von San Triste waren jedenfalls überzeugt, daß sie eine Wundertat gesehen hätten.
Als die Männer beritten zurückkehrten, um dem falschen Don José das Geleit zu geben, wollten die Frauen nicht hinter ihren Gatten, Söhnen und Vätern zurückstehen und schlossen sich der Gruppe an.
John Jones wurde etwas zaghaft zumute, als er sich nach den auf der Bildfläche erscheinenden dreißig Reitern umwandte. Er hatte sicher nicht das wohlhabendste Viertel von San Triste für sein Debüt gewählt. Mit Ausnahme Cabezas, der in diesem Viertel als reicher Mann galt, bestand die ganze Gruppe aus armseligen Arbeitern. Ihre Pferde sahen wie klapprige Knochengerüste aus, und selbst Cabezas Tier war nur ein zottiger Mustang.
Die auf diesen wandelnden Knochengestellen sitzenden dreißig Reiter waren indes kräftige Männer, denen das Herz auf dem rechten Fleck saß. In bezug auf Mut und Treue dürfte man in der ganzen Welt kaum ihresgleichen gefunden haben. Unglücklicherweise besaßen sie jedoch nur wenige Feuerwaffen – Kugeln kosten Geld. Diese Burschen verdienten ihren Lebensunterhalt nur durch schwere, körperliche Arbeit; vom Jägerhandwerk verstanden sie nichts.
Ihre Waffen bestanden hauptsächlich aus scharfen, schweren Macheten, mit denen sie in den Zuckerrohrfeldern zu arbeiten pflegten, mit denen sie heute aber auch Menschen zu Leibe gehen würden, wenn es sich als notwendig erweisen sollte. Doch was konnten all ihre Macheten gegen drei oder vier Repetiergewehre ausrichten?
John Jones lenkte seine Blicke wieder nach dem auf dem Hügel stehenden Hause, das sich hinter der dichten Baumreihe wuchtig und massig ausnahm. Solch eine Festung mit dieser Handvoll Leuten zu erstürmen, schien ihm ein aussichtsloses Beginnen. Er mußte sein Vorhaben auf andere Weise zur Ausführung bringen. Der Sieg ließ sich nur auf diplomatischem Wege erringen.
Cabeza hatte inzwischen seine Leute zu einem losen Zuge hinter John Jones geordnet, worauf sich die Frauen und Kinder in dichten Scharen um die beiden Flanken gruppierten. Als Cabeza den Befehl zum Vorrücken gab, brach die Menge in stürmische Jubelrufe aus. Laut übertönten die schrillen Schreie der Frauen und Kinder die tiefen Stimmen der Männer:
»Viva el Vereal!«