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Regentrost

Seit einigen Tagen hat er sich wieder bei uns in Ischl seßhaft gemacht – der weltberühmte Dauerregen des Salzkammergutes, der an Ausgiebigkeit und Unerschöpflichkeit in der weiten Runde nicht seinesgleichen hat –

Seitdem ich mich in diesem feuchten Kronlande angesiedelt habe, ist der Regen mein treuester Gefährte und Reisebegleiter geblieben. Er erwartet mich gewöhnlich schon, wie ein vertrauter Freund, bei der Ankunft am Bahnhofe und gibt mir bei der Abreise wieder das Geleit bis an die Perronschwelle. Noch auf das Dach des rollenden Eisenbahnwagens trommelt er seine letzten Abschiedsgrüße – Heute spielt er mir wieder all seine Stücklein. Er rauscht durch die Buchenkronen. Er rieselt zwischen die Farnwedel. Er pocht auf die Dachschindeln. Er gurgelt aus den Rinnen. Er fällt klatschend auf die breiten Ranken des Pfeifenkrautes – und die Blätter der Haselsträucher an der Straßengrenze, die schon vom Staub etwas angegraut waren, überzieht er wie mit einem neuen, blinkenden Firnis, mit einem feuchten Glanz.

Allem Anschein nach wird er diese säubernde Arbeit noch lange fortsetzen. Wenn man glaubt, daß er müde geworden ist, so gewahrt man bei näherem Zuschauen, daß er nur stiller geworden. Lautlos gleitet er in den Wiesengrund und in das Waldmoos. Immer neue Dünste steigen aus dem tropfnassen Wald. Die Wolken betten sich tief in den Bergsattel. Sie schlingen sich wie eine wallende Schärpe um die Stämme der Fichten – und obwohl die Gefahr einer Hochflut als gebannt gelten darf, so blicken doch die Sommergäste in und um Ischl verzweifelt in die brodelnden Nebel. Ich aber habe mir vorgesetzt, den Regen zu preisen, und ich benutze die Zimmerhaft, die er mir aufgezwungen hat, um ihm einen Psalm der Dankbarkeit zu singen und ein tönendes Loblied –

*

»Warum ich ihn preisen will – ?«

Vor allem schon deshalb, weil die andern ihm fluchen. Das ist heutzutage ein ausreichender Grund, um ihn zu loben. Denn für gescheit gilt nur noch, wer nicht die Meinung der andern hat – und wäre diese Meinung auch noch so wohlbegründet. Der Querkopf gilt für einen »Selbstdenker«. Jeder Schiefsinn wird für Tiefsinn gehalten. Auf das inhaltsreiche Programm: »Nein!« und »Im Gegenteil!« kann man ganze journalistische Unternehmungen sicher begründen. Man muß nur die Kunst verstehen, alles Grade krumm zu biegen und alles Krumme grad zu loben. Gegen den Strom muß man schwimmen – und wenn es auch nur der Regenstrom ist. Aber ich habe auch ernstere Gründe, um mich hier nicht unter die Grollenden zu mengen. Denn das schlechte Wetter hat tatsächlich seine guten Seiten, und wenn man sie erst erkennt, so ergibt sich daraus eine Art von Gebrauchsanweisung für feuchte Tage, die in jedem Wettermartyrium zur Tröstung wird.

Ihr klagt, daß der Regen euch um die Reize der Landschaft betrügt – daß er alle die Schönheiten der Runde hinter seinen Wolkenvorhängen und Tropfenschleiern verheimlicht? – Ihr irrt euch. Ein kluger Beobachter des Naturschönen hat einmal die Wahrnehmung gemacht, daß der Regen zwar die Hintergründe verdeckt, aber dafür den Vordergrund der Landschaft, über den sonst unsere Neugier hinwegschaut, mit desto stärkerer Betonung vor unser Auge rückt. Jeder Blick durch mein Fenster bestätigt mir diese Wahrheit. Die steil empor starrenden Berge freilich sind unsichtbar geworden, die mir sonst die Ausschau ins Weite so schön begrenzen, und selbst von dem schlanken Kirchturm des Dorfes, das sich in die Talmulde hineinbaut, sehe ich hinter den Nebelgardinen nur schwankende Umrisse. Aber dafür bemerke ich heute zum ersten Male, wie der bewaldete Hügel gegenüber durch eine schimmernde Geröllhalde so malerisch in zwei symmetrische Hälften gesondert wird. Das Felsmassiv auf der andern Seite, von welchem ich im glitzernden Sonnenlicht immer nur einen Allgemeineindruck gewonnen hatte, enthüllt mir in der gedämpften Beleuchtung des Regentages den ganzen Gliederbau seines Steinkörpers. Ich kann jeden Rundbuckel, jede Gesteinwelle verfolgen, und das wölbungsreiche Relief fängt erst heute an, mir individuell lebendig zu werden – Sonnenstrahlen sind wie winkende Finger, die in die Ferne locken. Sie lassen uns die Reize der Nähe übersehen. Es muß erst ein Regentag kommen, um sie uns zu enthüllen.

Das schlechte Wetter führt uns aber mit leisem Zwange auch zu uns selbst wieder zurück. Da uns der Sturzregen alle Wege versperrt und die Fahrstraßen in Wasserstraßen verwandelt hat, so kommen wir endlich auf den Gedanken, uns einmal selbst einen Besuch zu machen. Und heute treffen wir uns auch zu Hause – natürlich! Bei diesem Wetter! – Wir entschließen uns zu einem Selbstinterview und legen uns allerlei bohrende Fragen vor, auf die wir manchmal nur verschämte Antworten finden. Wir machen heute die »Reise um unser Zimmer«, zu der uns Xavier de Maistre in seinem sinnreichen Buch die Pfade gezeichnet hat. Alte Mappen gleiten uns in die Hände. In unseren Schreibtischfächern beginnt es gespenstisch zu rascheln. Zwischen die Finger schlüpfen uns vergilbte Blätter. Alte Erinnerungen blühen auf und öffnen weit ihre Kelche. Vergessene Pläne, die in der Skizze stecken geblieben sind, führen plötzlich eine mahnende Sprache, und darum preise ich das Regenwetter.

*

Ich lobe es auch noch aus einem ethischen Grunde. Es bietet uns – wenigstens hierzulande – ein Muster charaktervoller Verläßlichkeit. Das gute Wetter hat seine Launen. Es ändert sich bisweilen im Handumdrehen. Aber der Regen bleibt! Da kann man sicher sein. Dafür bürgt seine bewährte ausdauernde Treue – Der Regen ist überhaupt, wie der Krieg, der Vater aller Tugenden. Er macht häuslich. Er macht arbeitsam. Er macht nachdenklich. Und vor allem macht er geduldig.

Ich lobe den Regen auch noch aus einem persönlichen Motiv. Als ehemaliger Bühnenleiter weiß ich nasse Sommertage zu schätzen. Sie sind unentbehrlich, um auch die künstlerische Aussaat fruchtbar zu machen. Und da denke ich denn, mit ehrlichem Mitgefühl an das bescheidene Theaterhaus auf dem Kreuzplatz in Ischl, das einst den spottfrohen Daniel Spitzer zu dem berühmt gewordenen Ausspruch veranlaßt hat: »Man sieht es dem kleinen Hause gar nicht an, wie leer es sein kann.« Hier können bei sonniger Witterung selbst effekthaschende Schauspieler sich in der Tugend üben, nicht ins Publikum zu sprechen – denn es ist keines da. Erst die letzten Regenfluten haben Zuschauer in das Theater geschwemmt. Nun werden selbst bejahrte Operetten vor vollen Bänken gespielt, und sieht auch der Direktor nicht immer ein frohes Publikum, das Publikum sieht immer einen frohen Direktor.

*

 – Und soll ich den geheimsten Grund verraten, warum ich dem Regen ein Loblied weihe? Es ist ein altes Gesetz, daß jede Witterung an dem Tage umschlägt, wo man ihr ein Klagelied gewidmet. Hat man den Überraschungen des Aprilschnees ein stimmungsvolles Gedicht abgewonnen, so ist er sicherlich geschmolzen, wenn es erscheint. Hat man über die Gluthitze des Juli einige witzige Hyperbeln drucken lassen, so ist an dem Morgen, an welchem sie vor die Leser kommen, unfehlbar ein abkühlendes Gewitter niedergegangen. Es ist eine besondere Koboldslaune des Zufalls, jeder Wetterbetrachtung immer plötzlich den Resonanzboden zu entziehen, und daher scheint es, daß das »Besprechen« bei der Witterung wie ein altes Sympathiemittel wirkt –

In der nachdenklichen Stille des Regentages erinnern wir uns auch an alle noch unbeglichenen Rechnungen der Freundschaft, des Briefverkehrs, der literarischen Umschau. Jetzt entschließen wir uns endlich, den schweren »Wälzer« vorzunehmen, der uns für einen lachenden Sonnentag immer zu inhaltsreich und gedankenernst erschienen ist. Man hat auch noch andre Lesepflichten zu erfüllen. Man hat noch nicht einmal »Jörn Uhl« bis zur letzten Seite bewältigt, wie oft man es auch versuchen mochte. Der hartnäckige Regen gibt die Hoffnung, daß es endlich gelingen wird. Wer mag arbeiten, wenn das Sonnenlicht breit aufs Papier fällt und auf den Boden des Zimmers einen goldenen Streifen malt? Aber wenn uns der Regen mit seinen spitzen Strahlen eintönig an die Scheiben tippt und uns die Welt da draußen hinter einer Nebelmauer entschwindet, so kommt etwas wie Klosterstimmung in das bunte sommerliche Zerstreuungsleben. Denn das Regenwetter hat eine sammelnde Kraft. Und darum lobe ich es.


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