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Das Konzert der Straße

Nizza la Bella heißt sie im Volksmund – und gewiß hat keine andre Stadt mit größerem Recht dieses Schmuckwort verdient. Dennoch ist die Schönheit und die ewige Jugend nicht die hervorragendste Eigenschaft Nizzas. Wollt ihr in einem einzigen Wort das Eigenwesen dieser reizenden Südländerin zeichnen, so nennt sie die lachende Stadt. Hier tropft die Lebensfreude vom blauen Himmel herunter. Die Sorglosigkeit schwimmt durch die warme Luft. Der Leichtsinn sprießt in üppigen Halmen zwischen den Pflastersteinen empor. Wie Flugsamen schwingt sich die Daseinslust über alle Wege und geht in einem gesteigerten Glücksgefühl auf, das die Herzen durchduftet. Woher es kommt? Wer will es künden! Es leuchtet von den grünen Gipfeln der Berge nieder, die neugierig in alle Straßen blicken. Es sprüht aus dem Schaum der Brandung, die den Strand umplaudert. Es tönt aus dem Klick-Klack der zierlichen Frauenfüße, die ruhelos über die Promenaden am Meere hüpfen. Es quillt düfteschwer aus den Rosenhecken, die schon im Januar hier in voller Blüte stehen. Unwiderstehlich aber lacht es aus den Sonnenstrahlen, die über die ganze Breite der Bucht ungehemmt den Weg zu uns finden und auf jeden Stein mit silbernem Stift den Spruch schreiben, der in dem Stadtwappen Nizzas seinen Platz finden sollte:

»Du sollst nicht arbeiten!«

Hier vergißt man den Werktag mit seinen Rechten. Man vergißt den Beruf mit seinen Pflichten – und ich wenigstens empfinde es immer als die erste Wirkung der Rivierasonne, daß sie eine vollendete Arbeitsscheu in mir ausbrütet. Ich sitze stundenlang auf einer Bank und zähle gedankenlos die Wedel einer Palme. Eine morgenländische Opiumstimmung kommt über mich. Ich wollte, ein befreundeter Bühnenschriftsteller wäre hier, damit ich mit ihm eine neue Arbeit für den nächsten Winter gemeinsam – vermeiden könnte. Selbst meine losen Tagebuchblätter kritzle ich nur aufs Papier, weil wir Schriftsteller uns nun einmal gewohnheitsmäßig an unsern Frühschoppen Tinte setzen, wie wir uns als Studenten an unsern Frühschoppen Bier gesetzt haben – gleichgültig ob wir Durst hatten oder nicht. Und ich habe hier so gar keinen Durst nach Tätigkeit! Und ich höre immer wieder wie einen neckischen Kehrreim das gebietende Wort:

»Du sollst nicht arbeiten!«

*

Als ich in dieser Phäakenstadt vor einigen Wochen auf einem bequemen Rohrsessel in dem großen Salon am Meere saß, den man die Promenade des Anglais nennt, und mir im Frohgefühle sorglosen Müßigganges die Sonne warm auf die Haut brennen ließ, trat plötzlich ein alter Freund auf mich zu, der mir seit Jahren aus den Augen entschwunden war, und fragte mich mit lebhaftem Erstaunen:

»Was denn? Sie jetzt schon hier? Noch vor Beginn der vollen Rivierasaison? Was suchen Sie denn hier?«

»Was alle Welt an der ligurischen Küste sucht: Gute Laune, einen Vorschuß an Wärme und etwas Erholung für die abgerackerten Großstadtnerven.«

»Erholung? Und die wollen Sie in Nizza finden? Auf der Promenade des Anglais?«

»Ich hoffe.«

»Ja, wenn Sie sich noch oben hinauf geflüchtet hätten, in die stillen Gärten und Landhäuser von Cimiez, oder wenn Sie sich in einen unserer Nachbarorte verkrochen hätte, in Cagnes oder auf dem Kap Antibes, wo es so friedsam und still ist – aber hier? Mitten im Gewühl? Ja, stört Sie denn nicht das Konzert der Straße, das Sie mit einer so brutalen Zudringlichkeit umlärmt?«

»Offen gestanden, ich habe es bis jetzt noch gar nicht gehört. Wenn man aus Berlin kommt, so ist man nahezu immun gegen den Straßenlärm. Die Gewohnheit ist das beste Antiphon.«

»Aber bitte, horchen Sie doch nur einmal in die Runde! Der Augenblick ist besonders günstig. Soeben donnern zwei Automobile vorüber und führen mit ihren kreischenden Signalhupen ein angenehmes Zwiegespräch. Das Geknatter eines Motorrades mischt sich mit seinem infernalischen Geräusch als dritte Stimme in die Unterhaltung. Das eintönige Brüllen der Meeresbrandung, die heute ganz besonders gut bei Stimme ist, hat alle Mühe, dieses Terzett zu überschreien. Von dem Rädergerassel der Schnellfahrer will ich gar nicht sprechen. Das sind Sie als Großstädter gewohnt – und man hat ja endlich auch hier einen Teppich von Asphalt über die Straße gelegt, der wenigstens dieses Geräusch diskret mildert. Aber was sagen Sie zu den gellenden Reklamerufen des Kamelots, die mit dem Anpreisen ihrer Zeitungen uns rücksichtslos bei jedem Gespräch ins Wort fallen? »Le Corsaire!« »Lisez le Corsaire!« »Deutsche Zeitungen!« »Berliner Tageblatt!« »Neue Freie Presse!« »Frankfurter Zeitung!« »Le Corsaire!« »Riviera-Tageblatt soeben erschienen!« »Lisez le Corsaire!« – So gellt es während des ganzen Vormittags ununterbrochen über die Straße, und nervöse Leute fahren manchmal erschrocken in die Höhe, als wenn sie Feuerlärm gehört hätten. Gerade diesen Augenblick aber hält eine Gesellschaft von italienischen Straßensängern für geeignet, um sich vor dem schmucken »Hotel Royal« aufzustellen und mit abgesungenen Stimmen ihre Lieder zum zehntausendsten Male in die Welt zu schmettern! Und das ist der Ort, wo Sie Erholung suchen?«

»Du mein Gott! Vor den Fenstern meiner Berliner Wohnung ist es nicht viel stiller.«

»Lieber Freund, in New York ist es zweifellos noch lauter als in Berlin, und dennoch hat eine geistvolle junge Amerikanerin von sprühendem Temperament, Mistreß Isaak Rice, eine Liga ins Leben gerufen, welche sich die Bekämpfung des Straßenlärms zur Aufgabe gemacht hat.«

»Was denn? Ein Bund zur Bekämpfung des Lärms?«

»Bitte, lesen Sie, was im heutigen »Petit Nicois« Dominique Durandy, einer unserer geistvollsten und frischesten Journalisten, über diese segensvolle Gründung berichtet.«

Und dabei ließ mir mein nervöser Freund das Zeitungsblatt in die Hand gleiten und flüchtete dann mit raschen Schritten in eine Seitenstraße.

*

Der Gedanke der mutigen Mistreß Isaak Rice, sich gegen das Geräusch der Straßen zur Wehr zu setzen, hat einen erlauchten Ahnherrn. Kein Geringerer ist es, als Arthur Schopenhauer, der in seinen aphoristischen Bemerkungen über Lärm und Geräusch eine wahre Threnodie über die Störgeister anhebt, die aus den hallenden Straßen der Stadt in den Frieden seines Arbeitszimmers eingedrungen sind.

»Allerdings gibt es Leute,« sagt er, »die hierüber lächeln, weil sie unempfindlich gegen Geräusche sind. Es sind jedoch eben die, welche auch unempfindlich gegen Gründe, gegen Gedanken, gegen Dichtungen und Kunstwerke, kurz gegen geistige Eindrücke jeder Art sind; denn es liegt an der zähen Beschaffenheit und handfesten Textur ihrer Gehirnmasse – Ich lege mir die Sache so aus: Wie ein großer Diamant, in Stücke zerschnitten, an Wert nur noch ebenso vielen kleinen gleichkommt, oder wie ein Heer, wenn es zersprengt und in kleine Haufen aufgelöst wird, nichts mehr vermag, so vermag ein großer Geist nicht mehr als ein gewöhnlicher, sobald er unterbrochen, gestört, zerstreut, abgelenkt wird. Denn seine Überlegenheit ist nur dadurch bedingt, daß er alle seine Kraft, wie ein Hohlspiegel alle seine Strahlen, auf einen Punkt und Gegenstand konzentriert, und hieran eben verhindert ihn die lärmende Unterbrechung – Bisweilen stört ein mäßiges und stetes Geräusch mich eine Weile, ehe ich seiner mir deutlich bewußt werde, indem ich es bloß als eine konstante Beschwerung meines Denkens, wie einen Block am Fuß empfinde, bis ich inne werde, was es sei.«

Und dennoch hat der zartnervige Philosoph sich vorwiegend nur über ein einziges Geräusch so ergrimmt, und das war der Peitschenknall der Fuhrleute: »Dieser plötzliche scharfe, hirnlähmende, alle Besinnung zerschneidende und gedankenmörderische Knall muß von jedem, der nur irgend etwas einem Gedanken ähnliches im Kopf herumträgt, schmerzlich empfunden werden. Dem Denker aber fährt er durch seine Meditationen so schmerzlich und verderblich, wie das Richtschwert zwischen Kopf und Rumpf. Kein Ton durchschneidet so scharf das Gehirn wie dieses vermaledeite Peitschenknallen. Man fühlt geradezu die Spitze der Peitschenschnur im Gehirn, und es wirkt auf dieses wie die Berührung auf die mimosa pudica. Ich möchte wissen, wie viele große und schöne Gedanken diese Peitschen schon aus der Welt geknallt haben.«

»Du lieber Himmel!« So rufen wir, wenn wir diese Seufzer lesen. Was würde Arthur Schopenhauer erst gesagt haben, wenn es zu der damaligen Zeit schon elektrische Straßenbahnen gegeben hätte, die bei jeder Kreuzung uns mit ihren gellenden Signalglocken aus allen Träumen reißen? Damals gab es noch keine Stadtwohnungen in der Nähe von Hochbahnviadukten, über welche in Intervallen von wenigen Minuten immer neue Wagenreihen donnern. Es gab keine Zeitungsverkäufer, die Extrablätter ausschreien. Es gab keine Automobile, die mit ihren Lärmhupen die Straßen der Stadt durchdröhnen, als wenn eine brüllende Rinderherde vorbeigetrieben wird. Wie ein lautloses Idyll erscheint uns die Straße in Schopenhauers Tagen. Und wir würden uns mit Vergnügen das von ihm so schmerzlich empfundene Knallen der Fuhrmannspeitschen gefallen lasten, wenn wir uns mit diesem einzigen Martyrium von dem Konzert der Straße loskaufen könnten, das uns heute umdröhnt und das weder durch schalldämpfende Polster zwischen den Doppelfenstern noch durch schwere Stoffvorhänge von uns abgesperrt werden kann.

Es gehört zu den ungelösten Großstadträtseln, wie wir allmählich – wenn die Neubildung gestattet ist – so lärmhart geworden sind. Haben wir wirklich mit der Zeit Nerven von Kupferdraht bekommen? Stopft die Gewohnheit uns Baumwolle in die Ohren? Oder ist unbewußt in uns die Empfindung flüssig geworden, die Lichtenberg einmal in die Worte gefaßt hat: »Ich bin außerordentlich empfindlich gegen alles Getöse, aber es verliert ganz seinen widrigen Eindruck, sobald es mit einem vernünftigen Zweck verbunden ist.« Vielleicht ist es dies Zweckbewußtsein, das uns gegen den polyphonen Gesang der Straße mit der Zeit so unempfänglich gemacht hat. Gerade wie wir vor einer Dampfmaschine, die in voller Arbeit ist, in erster Reihe nicht das Poltern und Stampfen der eisernen Kolben wahrnehmen, sondern zunächst die planvolle und sinnreiche Zusammensetzung des Räderwerkes anstaunen. Und wie der Geist den Stoff besiegt, so hat bei uns der Zweck den Schall überwunden.

*

Ich bin wirklich neugierig, welche Mittel die kluge Amerikanerin ersinnen wird, um ihre Liga zur Bekämpfung des Großstadtlärms wirksam ins Leben zu führen. Ich bekenne offen, daß meine Erfindungsgabe versagt, um Maßregeln auszudenken, durch welche das wirbelnde Leben eines Menschenzentrums dazu gebracht werden könnte, tonlos zu funktionieren. Will die Liga über alle Straßen vielleicht eine weiche Decke von Tannennadeln oder Hobelspänen breiten, die den Schall in sich aufnehmen? Will sie die Frachtwagen, die über das Pflaster poltern, mit Gummirädern versehen? Will sie die eisernen Träger, die klirrend auf den Baustellen abgeladen werden, mit weichen Filzstreifen einsäumen? Will sie schalldämpfende Matratzen auf die Bierwagen breiten, damit die Tonnen nicht mehr mit so brutalem Geräusch auf und nieder hüpfen können? Will sie die Wagensignale, deren Zweck es ist, weithin gehört zu werden, vielleicht durch geräuschlose optische Warnungszeichen zu ersetzen suchen? Und will sie etwa durch eine neue Erfindung das Benzin in den Automobilen für die Zukunft veranlassen, lautlos zu explodieren?

Ich fürchte, das Mistreß Isaak Rice Unerreichbarem nachstrebt, wenn sie zur Verzärtelung unserer Nerven die allzu sonoren Atemzüge der Großstadt sänftigen will. Denn wie das Pendel der Uhr seine Schwingungen nicht absolut tonlos vollziehen kann, so wird auch das Uhrwerk des Großstadtlebens nicht arbeiten, ohne daß uns sein lärmvoller Gang in die Ohren dröhnt. Ja es ist sogar fraglich, ob uns die neue Liga mit der Verwirklichung ihrer menschenfreundlichen Pläne überhaupt einen Gefallen täte. Wie paradox es auch klingen mag, es ist eine Wahrheit: Wir sind allmählich so weit gekommen, daß wir den Lärm für unsere Ruhe brauchen! Just wie der Müller nicht schlafen kann, wenn das Murmeln und Rauschen des Mühlbaches plötzlich verstummen wollte. Das Konzert der Straße ist uns bei unserer täglichen Arbeit eine aufmunternde Begleitung geworden, wie die Marschmusik für den Soldaten – und gerade aus dem Kreischen und Tosen um uns her erlauscht unser geschärftes Ohr manches von dem Besten und Wertvollsten, was die Zeit uns zu sagen hat.

Ich habe vor vielen Jahren einmal in einem Hause gewohnt, das in der Nähe eines Bahnhofes lag. Als ich den ersten gellenden Lokomotivpfiff hörte, bin ich jählings emporgeschreckt und habe verärgert auf die ganze mißtönige Musik des Bahnhofs hingelauscht. Ich hörte unmutig das Sausen der sich fortschiebenden Räder und das Zischen des Dampfes und das mühselige Prusten und Schnauben der langsam in Bewegung gesetzten Dampfmaschine. Aber als ich nach einem leeren und freudlosen Tag eines Abends in niedergedrückter Stimmung nach Hause kam und mich so recht hinaussehnte aus meiner Einsamkeit und Enge, da hörte ich abermals einen Lokomotivpfiff – und diesmal war er mir kein unwillkommener Ruhestörer mehr. Wie ein aufrüttelnder Ruf in die Freiheit traf er mich, ein Lockruf in die Welt und ihre Weiten, der mir zum erstenmal das Lied vom Reisezauber in die jungen Ohren sang. Die Lokomotivpfiffe haben mich seitdem nicht mehr gestört – und nicht anders ergeht es uns mit den Poltergeistern der Straße, die jetzt geknebelt werden sollen. Wir ertragen den Großstadtlärm, weil er uns etwas zu sagen hat – und darum, meine gnädigste Mistreß Rice, nehmen Sie Abstand von ihren Beglückungsplänen! Denn Lärm ist Leben, und die tonlose Stadt würde uns als die tote Stadt gelten.


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